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Achtes Kapitel.
Disziplin

Draußen wurde ein leichter Schritt hörbar, ein sonderbarer Schritt. Er klang, als ob die Absätze des Gehenden den Boden nicht berührten, und das gab ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem kaum hörbaren Schreiten eines großen Raubtiers. Der Wolfshund spitzte die Ohren und blickte nach der Tür. Die runde kleine Kinderfaust preßte sich krampfhaft um Vics Daumen, und dann erschien ein Mann im Türrahmen. Vic erkannte seinen Retter.

»Hallo, Partner,« rief er, »ich habe Gesellschaft bekommen, wie Ihr seht. Die Tür ist aufgesprungen, und ich habe Eure Kleine eingeladen, hereinzukommen.«

»Hab' ich dir nicht gesagt, daß du hier nicht 'rein darfst?« sagte der andere. Vic spürte, wie das Kind bei dieser Anrede zitterte, aber es machte keinen Versuch, sich zu entschuldigen.

»Sie wollte gar nicht hereinkommen,« sagte er dringlicher, »aber ich hab' sie so gebeten.«

»Daddy Dan« beachtete ihn nicht. Seine Augen, Augen, die seine Gefühle nicht verrieten, waren unverwandt auf Joan gerichtet. »Ich habe dir doch gesagt, daß du hier nicht herein darfst!« wiederholte er. Joan blieb stumm, sie schluckte krampfhaft. Der Wolfshund glitt zu seinem Herrn hinüber und leckte ihm die Hand, als ob er stumme Fürsprache einlegen wolle. Vics Blut wurde zu Eis. Der ganze Auftritt wirkte, wie wenn jemand das kleine Kind mit der Faust bedrohe.

»Scher dich 'raus!«

Joan gehorchte schleunigst. Sie schob sich seitlich an ihrem Vater vorbei, ihre Augen hingen wie gebannt an seinem Gesicht, sie schienen sich nicht losreißen zu können. Als sie draußen war, drehte sie sich noch einmal um. Ihr Blick war bang und flehend auf ihren Vater gerichtet, aber sie erhielt keine Antwort. Dann hörte man die kleinen Füßchen davontrippeln.

»Leiste ihr Gesellschaft, Bart«, sagte der Vater. Er schien jetzt milder gestimmt. Vic, dem sich die Kehle zusammengeschnürt hatte, atmete erleichtert auf. Der Wolf antwortete mit einem leisen Winseln und verschwand durch die Tür.

»Geht's besser?«

»Wie einem ausgehungerten Gaul auf einer fetten Weide«, antwortete Vic. »Ich hab' hier gelegen und den Sonnenschein in mich getrunken.«

Der andere war ans Fenster getreten. Sein Blick war weit, weit in die Ferne gerichtet. Er legte den Kopf auf die Seite. Plötzlich fuhr er herum.

»Hört Ihr's?« fragte er.

Sein Gesicht trug einen merkwürdig wilden und verzückten Ausdruck.

»Was denn?«

»Es ist Frühling!« entgegnete sein seltsamer Wirt, ohne Vics Frage zu beantworten. Dann nahm sein Gesicht wieder den gewohnten Ausdruck an. Er wirkte wieder menschlicher, fand Vic, der die geheimnisvolle Wandlung noch lange nicht vergessen konnte. Er beobachtete seinen Gastgeber mit atemlosem Interesse. Was hatte der sonderbare Mensch am Fenster wohl gehört? Was hatte das merkwürdige Licht in seinen Augen entzündet? Dan kam langsam zum Bett zurück. Vic fand ihn immer noch ein wenig unheimlich.

»Frühling?« antwortete er. »Jawohl, vor ein paar Tagen war mir's auch so, als röche ich den Frühling, und ich bin losgezogen, um mich ein bißchen zu tummeln. Ihr seht ja selbst, Partner, was dabei herausgekommen ist –« Er rückte unruhig im Bett hin und her. Es war nun einmal unumgänglich nötig, daß er seine Geschichte erzählte, ehe sie von anderer Seite seinem Wirt zu Ohren kam. Es war denkbar, daß man einem Flüchtling, hinter dem das Gesetz her war, Schutz und Unterschlupf gewährte, solange man sein Vergehen nicht kannte – vielleicht war es ja nur eine Kleinigkeit. Was aber würde dieser seltsam gelassene Mann dazu sagen, wenn er erfuhr, daß Blut an den Händen seines Gastes klebte? Besser also, er erfuhr es jetzt gleich, aus Vics eigenem Munde. »Ich will Euch die Geschichte erzählen«, begann Vic.

Aber der andere zuckte die Achseln.

»Laßt das ruhig bleiben«, sagte er, und sein gelassener Ernst versiegelte Vic gegen seinen Willen den Mund. »Ihr seid nun einmal hier, seid verwundet und braucht viel Ruhe. Das genügt mir, und mehr brauch' ich nicht zu hören.«

Vic versetzte sich in die Rolle des anderen. Angenommen, er selbst hätte mit Betty Neal zusammen ein einsames Haus in den Bergen bewohnt, hätte er dann ebenso bereitwillig, ohne Zaudern, ohne eine Frage, einen Verwundeten bei sich aufgenommen, dem die Häscher auf den Fersen waren? Tiefe Dankbarkeit überwältigte ihn, und Tränen umnebelten seinen Blick, als er seinen Wirt ansah.

»Fremder,« sagte er, »Ihr seid ein Kerl! Ein verdammt anständiger Kerl! Mehr sag' ich nicht. Mein Name ist Vic Gregg und ich komme aus ...«

»Danke«, unterbrach der andere. »Ich freu' mich, Euren Namen zu kennen, aber für den Fall, daß einer von mir wissen will, wo Ihr herkommt, wär' mir's lieber, ich erfahre es erst gar nicht.« Er lächelte. »Ich bin Dan Barry.«

»Mir ist's, als hätt' ich Euren Namen schon gehört«, murmelte Vic. »Ich weiß bloß nicht, wo. Wart Ihr je in Alder, Barry?«

»Nein.« Das Benehmen Barrys verriet, daß er auf das Thema nicht weiter eingehen wollte. Er hob den Arm und legte die Hand sanft auf Vics Stirn. Von dieser Hand schien ein elektrischer Strom auszugehen, der seinen Weg in das Gehirn des Verwundeten fand. »Ihr habt noch immer ein bißchen Hitze im Blut«, sagte Barry. »Liegt ruhig und vermeidet das Nachdenken. Ihr seid hier sicher. Es gibt nichts, was Euch bedroht. Nicht das geringste. Ihr werdet hierbleiben, bis Ihr kräftig genug seid, um aufzubrechen. Wir sehn uns wieder. Inzwischen werd' ich dafür sorgen, daß man Euch etwas zu essen bringt.«

Mit demselben elastischen und geräuschlosen Schritt, der Vic schon bei seinem Hereinkommen aufgefallen war, verließ Barry das Zimmer und zog die Tür sanft hinter sich ins Schloß. Trotz dieser trennenden Scheidewand konnte Gregg alle Geräusche im Nebenraum deutlich hören. Eben brachte jemand Holz von draußen und ließ es prasselnd auf einen steinernen Herd fallen. Vic versank in ein genußreiches Dahindämmern, gerade noch so weit wach, um sich hier und da in behaglichem Genuß seines weichen und kühlen Lagers zu dehnen. Es war ein köstliches Gefühl, zu wissen, daß man für ihn sorgte, es war ein köstliches Gefühl, zu spüren, wie die alte Kraft in die Muskeln zurückkehrte. Plötzlich drangen Stimmen in seinen Halbschlaf, die ihn weckten.

»Das muß ihm gut tun, trag's ihm hinein, Kate.«

»Gleich. – Dan, was hat Joan verbrochen?«

»Sie ist dort hineingelaufen, obwohl ich ihr gesagt hatte, daß sie den Kranken in Ruhe lassen soll.«

»Aber sie sagt, er hätte sie hereingerufen – er hätte gesagt, er wolle für alles einstehn.«

»Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht hinein.«

»Armes kleines Mädel, sie ist jetzt draußen und heult sich an Barts Hals die Augen aus. Bart versucht sie zu trösten. Willst du ihr nicht ein Wort gönnen?«

Eine kleine Pause. Dann: »Nein, nicht vorm Abend.«

»Dan, ich bitte dich!«

»Sie muß gehorchen lernen.«

Ein leiser Ausruf des Schmerzes, dann öffnete sich die Tür zu Vics Zimmer; Vic sah in ein liebliches Frauengesicht, das von einer Krone goldenen Haares umgeben war. Es nickte ihm aufmunternd zu.

»Ich freue mich so, daß es Euch besser geht«, sagte die Frau. »Dan meint, das Fieber sei schon beinah ganz vorbei.«

Sie setzte ein großes Servierbrett am Fußende des Bettes nieder. Vic stellte zu seiner großen Zufriedenheit fest, daß es ihm nicht schwer fiel, dieser Frau in die Augen zu sehen. Sonst machte es ihn gewöhnlich verlegen. Aber er entdeckte so viel, was ihn an Joan erinnerte, in den Zügen ihrer Mutter, daß er das Gefühl hatte, mit ihr schon gut bekannt zu sein. Mutter? Es lastete auf ihren Schultern nicht schwerer als die Vaterwürde auf denen Dan Barrys. Trotzdem fühlte Vic ein tiefes Mitleid mit ihrem Schicksal. Diese blumenhafte Schönheit hier oben zwischen Schnee und Felsen vergraben – einem Mann zuliebe!

»Jawohl, ich fühle mich viel besser,« antwortete er, »aber es tut mir mächtig leid, Madam, daß ich Eure Kleine in die Patsche gebracht hab'. Zum größten Teil war doch ich an allem schuld.«

Sie machte eine Handbewegung, die andeutete, daß es keiner Entschuldigung bedürfe.

»Ihr braucht Euch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, Mr. Gregg. Joan hat ein bißchen Zucht reichlich nötig.«

Sie lachte ein wenig. »Sie hat zuviel von ihrem Vater, müßt Ihr wissen. Nun laßt sehen. Seid Ihr schon kräftig genug, um Euch in den Kissen ein bißchen aufzusetzen?«

Aber sie brachten es erst gemeinsam zustande. Vic war viel schwächer, als er dachte. Als endlich sein Rücken sicher mit Kissen gestützt war, schob sie ihm das Servierbrett näher heran. Der Anblick machte ihn fast schwindlig. Achtundvierzig Stunden Fasten hatten seinen Hunger geschärft. Eine große Schüssel Fleischbrühe strömte einen köstlichen Wohlgeruch aus. Eine weiße Serviette, deren Zipfel sie lüftete, enthüllte ein appetitliches Stück Wildbret. Da gab es Butter, gelb wie das Gold, nach dem er den ganzen Winter geschürft hatte, wirkliche Sahne zum Kaffee – einen mächtigen Becher Kaffee – und schneeweißes Brot. Und was das beste war, die Frau blieb nicht im Zimmer und machte ihn durch ihre Gegenwart verlegen. Kein Ding in der Welt haßt ein Hungriger mehr, als sich beobachtet zu wissen, wenn der Tisch für ihn gedeckt ist.

Danach stahl sich gesunder Schlaf in leisen Wellen über Vic. Es war schon stockfinster um ihn her, als er viele Stunden später plötzlich erwachte. Ein süßes, zartes Stimmchen klang noch in seinen Ohren nach. Er fand sich zunächst nicht zurecht, bis er den Kopf wendete und einen dünnen viereckigen Lichtstrahl bemerkte. Das mußte die Tür sein. Unmittelbar danach hörte er das Stimmchen rufen: »Oh, Daddy Dan! Was machte der Wolf dann?«

»Ich komm' schon dazu, Joan. Aber red' nicht so laut von Wölfen. Der alte Bart meint sonst, du sprichst von ihm. Sieh, wie er dich anschaut.«

»Erzähl' doch weiter, Daddy. Ich sag' kein Wörtchen mehr.«

Jetzt hörte man wieder die Stimme Dan Barrys, aber so leise, daß Vic nicht ein einziges Wort verstand. Er hörte nur das Prasseln der brennenden Scheite auf dem Herd, sah, wie der behagliche Lichtschein, der durch den Türspalt sichtbar war, tanzte und flackerte, spürte den schwachen Duft des brennenden Holzes – und schlief von neuem ein.


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