Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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10. Das Ende

Künstler, Dichter und Gelehrte in Fülle: wir haben sie an der Arbeit gesehen. Zu gleicher Zeit aber ging die politische Geschichte weiter, und der große Umsturz kam von Westen, aus dem nicht griechischen Europa, er kam von Rom.

Der Orient war nicht in einer Hand, also militärisch schwach. Während Handel und Wandel gedieh und die Bevölkerungen bei Tagesarbeit und Festfeiern sich wohlbefanden (von einer Fürsorge für Arbeitslose hören wir für diese Kulturgebiete nichts; sie wurde erst in Rom nötig), fehlte doch der politische 218 Zusammenhalt der Länder, und das weite Morgenland brach in all seiner Herrlichkeit zusammen, als Rom daran zu rütteln begann, Rom, das, nach dem es im Jahre 290 v. Chr. Herrin ganz Italiens geworden, seine Fangarme habsüchtig auch über die Meere streckte. Die Griechen gaben acht; denn die Fühlung fehlte nicht; hatte doch schon Alexander der Große eine Gesandtschaft nach Rom geschickt;»Alexander d. Gr.« S. 458 Anm. 27. Strabo S. 232 bezeugt dasselbe auch noch für Demetrius Poliorketes. erstreckt sich doch Theophrasts Pflanzenkunde auch auf die Vegetation Latiums. Zwischen Rom und dem griechischen Orient war keine Planke aufgebaut, die den Blick der Griechen hemmte, und es gab unter ihnen nicht nur rückschauende Geister.

Als Rom im Jahre 272 auch das prachtvolle Tarent, die letzte bedeutende Hochburg des Griechentums in Italien, nahm und plünderte und der so stolze Griechenkönig Pyrrhus von Epirus der römischen Kriegskunst erlag, war die Erschütterung groß. Ein Tor, der nicht acht gab! und eine griechische Dichtung politischen Charakters entstand, in der wir Kassandra, die trojanische Seherin, auftreten sehen, die nach Trojas Untergang weissagend die Stimme erhebt, die ganze Weltgeschichte der Folgezeit enthüllt und zum Schluß jenes Rom, das seinen Ursprung ja von den Trojanern des Äneas herleitete, neidlos zu seiner neuen Großmachtstellung beglückwünscht.Lykophron, der der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. angehört, ist der Verfasser. Über die Ansichten der Gelehrten, die sein Gedicht in eine spätere Zeit hinabzudrücken versucht oder gar eine Interpolation bei Vers 1435 ff. angesetzt haben, hat K. Ziegler in Pauly-Wiss. R. E. XIII S. 2354 ff. trefflich referiert, sich aber leider der ersteren dieser Hypothesen angeschlossen. Ich bin anderer Ansicht und habe dies schon »Alexander d. Gr.«² S. 490 begründet. Hier sei noch einiges hinzugefügt. Es handelt sich vor allem um das und das μεϑ' ἔκτην im Vers 1446 des Gedichtes. Ziegler versteht unter γέννα die Generation und sucht neuerdings (Philol. Wochenschr. 1928 S. 94 f.) im Königtum Mazedoniens wirklich 6 Generationen festzustellen, was indes nur bei unglaublich künstlicher Rechnung möglich, also unannehmbar ist. Auch sonst aber ist dieser Weg der Interpretation nicht gangbar. Ziegler bezieht, wenn ich ihn recht verstehe, den Vers 1445 auf Antigonos Gonatas oder gar auf dessen Großvater Antigonos, den er als mazedonischen König mitzählt, und auf denselben dann auch das im Vers 1446. Mit diesem Antigonos selbst kann der Römer aber doch nicht »nach der sechsten Generation« gekämpft haben; oder ist es möglich, daß man gegen einen Menschen noch nach der sechsten Generation zu Felde zieht? Der Römer, der mit dem unter zu verstehenden Fürsten kämpfte, muß doch vielmehr mit diesem selbst gleichzeitig gelebt haben. Dieser Fürst, auf den das zurückweist, gehörte auf alle Fälle der Zeit des Dichters der Alexandra selbst an; also gilt das auch von dem römischen παλαιστής des Vers 1447, der gegen ihn auftrat. Daraus folgt zwingend, daß das vorwiegend nur poetische und darum vieldeutige γέννα hier gar nicht Generation heißt, sondern Jahr, Geburtsjahr, das entspricht durchaus der änigmatischen Orakelsprache, die in diesem Gedicht herrscht. Es ist an die γενέϑλιος ἡμέρα, die γενέϑλια des Fürsten gedacht, nach deren sechsmaliger Wiederholung der hier erwähnte Kampf stattgefunden hat. Die Auslegung des μεϑ' ἕκτην γένναν, die Holzinger S. 383 gegeben hat, muß also gelten, ebenso seine Deutung des Pronomens . Daß die Anklänge an die »Alexandra«, die man bei Euphorion findet, auf Nachahmung von seiner Seite beruhen, ist evident, denn diese hochpolitische Dichtung war als solche in der sonst den politischen Dingen so abgekehrten poetischen Produktion jener Zeiten ein nicht zu übersehendes literarisches Monument großen Stils. Daß endlich der Grammatiker Theon die Alexandra einem jüngeren Lykophron von sehr fraglicher Existenz zuschrieb, war offenbar vage Hypothese und beruhte auf Nichtkenntnis der politischen Lage um das Jahr 272 v. Chr., die verzeihlich ist. In vieler Beziehung stimme ich also dem, was Holzinger sowie Corssen (Rhein. Mus. 68 S. 321 ff.) vorgetragen, zu, möchte übrigens auch jetzt noch für Vers 1449 die leise Textänderung πρέσβιστος ἐμφύλοισιν ὑμνηϑήσεται, die ich schon früher vorschlug, empfehlen. Vgl. »Alexander d. Gr.« S. 490. Die Buchschreiber des Altertums haben uns dieses denkwürdige Poem, ein politisches Dokument, das dem weissagenden Buch Daniel gleicht, sorglich erhalten.

Aber es kam überwältigender, als der Verfasser es dachte. Schon hundert Jahre danach lag eine siegreiche römische Kriegsflotte vor Ephesus an Kleinasiens Küste, im Kampf mit Syrien. Die römischen Feldherrn traten in den Griechenstädten wie die Fürsten auf, und die Gesandtschaften, die, um glimpfliche Verträge zu schließen, nach Rom eilten, fanden dort »einen Senat von Königen«. Rom fühlte seine Kraft, und die Königsmächte Mazedonien, Syrien, Ägypten brachen klirrend zusammen, wie Glas unter dem Hammerschlag. Zu Cicero's Zeit war alles vollendet und das Weltreich 219 Alexanders durch Rom erneuert, ein Weltstaat, der dehnbar Republiken und Königreiche verschluckte und durch ein halbes Jahrtausend den Sturm der Zeiten bestanden hat.

Der Grieche war immer Bewunderer des Erfolges. Was sollten ihm noch die bisherigen Residenzen der Könige? Alles, was strebte im Guten und im Übeln, strömte alsbald in die unschöne Barbarenstadt der sieben Hügel, und die Hochkultur des Hellenismus wurde jetzt Roms wertvollste Beute. Polybius, der Grieche, wurde schon in der Scipionenzeit (um 160 v. Chr.) der vornehmste und beste Geschichtschreiber Roms; seine Psyche atmet schon echten Römergeist. Unter griechischer Anleitung entstand schon im Jahre 240 ein römisches Theater, weiterhin ein Schulwesen, eine Rechtsphilosophie. Als endlich das Kaisertum sich aus Roms Bürgerkriegen erhebt, ist Weltfriede das Ergebnis; der Pazifismus beherrscht einmütig in Ost und West die Seelen; der materielle Reichtum steigert sich noch allerorts; aber der Orient ist fortan nur noch unterjochtes Hinterland.

Auch für die nun zweisprachige Weltliteratur ist Rom das Zentrum, es ist das Zentrum des Buchhandels auch für die Griechen geworden. Die griechische Schriftstellerei setzt sich in der Kaiserzeit noch unendlich fort – man denke nur an Dio, den »Goldmund«, Ptolemäus, den Geographen, Galen, den Arzt, an Lucian oder an die Philostrate –; aber was sie bieten, ist ohne Rom nicht so, wie es ist, zu denken.

So wird denn Rom für den, der die Kulturgeschichte der Antike behandelt, nunmehr der wichtigste Gegenstand. Das orientalische, auch nicht mehr rassenreine Griechentum liefert fortan dorthin die Seiltänzer und Seelsorger, die Kammerdiener und Ärzte, Dekorateure und Athleten, Tänzerinnen und Bajaderen, ein Zufluß ohne Ende. Alles das waren Handlanger für die Freuden Roms und für sein Wohlbefinden. Immer noch war der Grieche zwar der geistig regere und reichere; aber er war entwürdigt und tief gedemütigt; Verachtung lohnte ihn, und wurde er gut behandelt, so war es Gnade.

220 Warum und woher dieser klägliche Sturz? Es waren der Gründe viele, die wir nicht aufzählen. Doch lohnt es zum Schluß zu hören, was einmal eine Römerstimme uns sagt. Das Volk in Waffen hat den Beruf zu herrschen. Der Verfall der Manneszucht bei den Griechen, das Nachlassen der Männererziehung im Staatsdienst, war Schuld; Schuld war die Entmilitarisierung. Das Söldnerwesen hatte die Bürgerwehr abgelöst, und man trieb in bürgerlichen Kreisen nur noch gymnastischen Sport, wie auch wir Deutschen es tun. Ein Volk, dessen Jugendwehr nur Sport treibt, ist dem Untergang bestimmt.Vgl. Plutarch, Quaest. rom. 40: τοῖς Ἕλλησιν οἴονται (Ῥωμαῖοι) μηδὲν οὕτως αἴτιον δουλείας γεγονέναι καὶ μαλακίας ὡς τὰ γυμνάσια . . . . . ὑφ' ὧν ἔλαϑον ἐκρυέντες τῶν ὅπλων καὶ ἀγαπήσαντες ἀνϑ' ὁπλιτῶν καὶ ἱππέων ἀγαϑῶν εὐτράπελοι καὶ παλαιστρῖται καὶ καλοὶ λέγεσϑαι Wir können hinzufügen: dem Untergang bestimmt ist das Volk, das überdies nur noch Ästhetik treibt und sich verliert in religiöse Sektenbildungen. Auch das traf für jene Griechen zu. Möge es nicht für uns gelten. 221

 


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