Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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11. Die Ethik als Forschung und Wissenschaft

Dies alles war nur indirekte Erziehung; es war echte Dichtung. Nur Euripides, wie gesagt ist, diese zwiespältige Natur, Romantiker und Sophist zugleich, legt sich philiströs die Bäffchen des Predigers um, wenn ihm Gedanken zufliegen, die aus den Kreisen der Philosophen stammen. Denn die Philosophie hatte nun endlich den Versuch begonnen, die Ethik zur Wissenschaft zu erheben.

Bei den Gelagen, beim Kommersieren sang man in der Runde das Sprüchlein: »liebe, die da gut sind«.Aristoph. Vesp. 1239: φίλει τοὺς ἀγαϑούς. Das klingt brav. So gab es denn auch längst Lernbücher in Versen mit Moralvorschriften; ich nenne nur wieder den Hesiod und Solon, dazu Theognis. Es handelt sich da um 151 bürgerliche Brauchbarkeit, Sittsamkeit. Aber ihre Verse waren allmählich altmodisch geworden; altmodisch auch die orakelhaften Sprüche der sogenannten sieben Weisen, die als kanonisch galten und die man in Alexanders des Großen Zeiten zum Katechismus sammelte.Demetrius Phalereus; s. Stobäus ed. Wachsmuth III S. 112 ff.

Gern gebe ich einige Proben daraus wie das dringend Nötige »lüge nicht; sei wahr«;Das kategorische »Du sollst nicht lügen oder täuschen« war dringend nötig; tat doch selbst Sophokles frg. 326 N. den Ausspruch, in der Notlage sei das Lügen verzeihlich. oder: »mach dich würdig deiner Eltern«. »Siehst du im Spiegel, daß du schön, so tu auch Schönes, siehst du, daß du häßlich bist, so gleiche durch Schönheit der Gesittung (Kalokagathia) den Mangel aus«. »Strafe den Knecht nicht im Rausch.« Sehr fein: »Streite weder mit deinem Weib noch schwärme sie an vor anderen.« Politisch: »Schätze das Fleisch, wenn es frisch geschlachtet, die Staatsgesetze, wenn sie alt sind.« Sodann aber: »Zu den Gelagen der Freunde geh langsam, rasch zur Nothilfe in ihrem Unglück.« »Ist jemand im Unglück, so lache nicht.« Und auch der Begriff des Nächsten herrscht hier: »Tu dem Nächsten nicht das an, was du ihm selbst verargen würdest«, ein Satz, der in verschiedener Form immer lebendig blieb bis auf heute: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andren zu.«.Wir hören den Satz auch aus dem Munde des römischen Kaisers Alexander Severus: quod tibi ‹ipsi› fieri non vis, alteri ne feceris; vgl. »Charakterbilder Spätroms«³ S. 458.

Weiter: »Deine Zunge laufe nicht schneller als dein Verstand.« »Sei nicht untätig, auch im Reichtum« u. s. f. Vielsagend vor allem: »Das Maß ist das Beste« (metron ariston): Das Maß, das jedes Kunstwerk beherrscht, soll auch die Kunst zu leben beherrschen. Und dazu das köstlich Schlichte: »Folge Gott« (ἕπου ϑεῷ, deum sequere), das für alle Völker, Religionen und Zeiten gilt. Der fromme Grieche aber ging weiter als die meisten, wenn er sagte: »Tust du das Gute, schreib es den Göttern, nicht dir selber zu.«.Der Satz lautet: ὅ τι ἂν ἀγαϑὸν πράσσῃς, ϑεούς, μὴ σεαυτὸν αἰτιῶ.

Endlich war auch das eine alte Erkenntnis: drei Quellen des Unglücks gibt es unter den Menschen; das sind die Überhebung (Hybris), der Neid (Phthonos) und der Überdruß an dem, was man hat (Koros). Gegen sie gilt es zu kämpfen.Vgl. Leop. Schmidt, Ethik der alten Griechen I S. 254 ff.

Auch Sokrates, der junge, bildungshungrige Steinmetzsohn, 152 war in die Wahrheiten dieser Kernsprüche eingelebt und hat schon zu des Perikles Lebzeiten in Athen seine wohl vierzigjährige seelsorgerische Tätigkeit begonnen. Er wich nicht aus der Stadt. Was sollen mir Blumen, Wald und Feld? dachte er; was die Gestirne? Sie reden nicht, antworten mir nicht auf meine Fragen. Ich suche Menschen; der Mensch ist das Problem, er ist die Aufgabe; denn der Mensch steht auf der Grenze zwischen Ewigem und Vergänglichem. Wer zieht ihn ins Ewige hinan?

Gleichzeitig waren die Sophisten, die neuen Wanderlehrer, nach Athen gekommen, Berufsprofessoren, darunter bedeutende Philosophen, auch sie auf Erziehung, zugleich auf Aufklärung gerichtet. Sie gaben in ihren Schriften der Lehre Raum von der Relativität aller Urteile. Auch die sittlichen Begriffe kamen damit ins Wanken. Die Kunst des Disputierens (Eristik) wird durch sie zur Übung, Recht in Unrecht, Unrecht in Recht umzudeuten. »Pietät ist Unsinn, Autorität lästige Bevormundung«: das war das Moderne; und »wir beginnen von vorne« (ganz so wie man heute schwatzt). Die Jugend verhöhnt das Alter, der Sohn den Vater, und er darf es. Besonnenheit gilt als Feigheit, Maßhalten als bäuerisch; nur Frechheit ist Männlichkeit. Solche Tiraden wurden überall laut, wo die Sophisten Schülerscharen um sich sammelten, und galten für die Höhe der Bildung.

Dies niederzuschlagen war des Sokrates Lebenszweck. Der Sophist sagt: »nichts ist schändlich, wenn man es nicht für schändlich hält«; der Sokratiker dagegen: »es bleibt schändlich, ob man es dafür hält oder nicht«.So Plato gegen Euripides; s. Stobäus περὶ σωφροσύνης 36. Damit ist der Gegensatz gegeben; d. h. Sokrates suchte das Moralgesetz, ohne auf göttliche Offenbarungen sich zu beziehen, als absolut gültig aus der Vernunft abzuleiten; er suchte es über alle wandelbare Wirklichkeit hinaus als das a priori Gegebene zu retten.

Und er hat es gerettet. Der Kontakt mit dem Göttlichen wurde gewonnen, deutlich gemacht. Ein lauteres Pflichtleben 153 ist allein der wahre Gottesdienst. Die ganze Antike hat sich weiterhin seit Sokrates in zahllosen Wiederholungen mit dem Ausbau der Ethik befaßt und erschöpft. Es gibt wohl keine Literatur, die so viel moralisiert wie die der Griechen und Römer: Ausbau der Pflichtenlehre. Aus den Anregungen des Sokrates wuchs zunächst die platonische Philosophie hervor. Sie ist im Grunde Theologie, und diese Theologie ist Ethik, vor allem Rechtslehre.

Denn der höchste Begriff ist die Gerechtigkeit, d. h. das Wissen von Recht und Unrecht. Sie ist »die Mutter und Amme aller Tugenden«.Diese Definition ist pythagoräisch; s. Stobäus περὶ δικαιοσύνης 5. Da in der vorhandenen Staatsform der Rechtsbruch blüht und wuchert, entsteht alsbald die Forderung nach einem idealen Staat, der sich gliedert nach den ethisch-intellektuellen Veranlagungen der Berufsklassen und in dem die Philosophen allein als Gruppe oder auch monarchisch regieren; denn durch Schulung und Studium sind nur sie befähigt, das Recht zu finden als Richter wie als Gesetzgeber. Der Jurist ist es also, der regiert; er verwaltet zugleich das Staatsrecht, das Zivilrecht und das Kirchenrecht; denn auch die Frömmigkeit ist nichts anderes als den Göttern ihr Recht zu geben.

Schwer zu veurteilende Konflikte gab es genug. Folgender Fall wird uns vorgeführt. Ein reicher Athener betreibt mit seinem Sohn Landwirtschaft auf der Insel Naxos. Ein Tagelöhner, den der Sohn angeworben hat, gerät mit einem andren Dienstmann in Streit und wird von ihm erschlagen. Der Vater läßt den Missetäter binden und so gebunden in eine Grube werfen und schickt nach Athen um Rat, was mit dem Sträfling weiter zu tun sei, kümmert sich um ihn nicht weiter, und bevor aus Athen eine Antwort zurückkommt, ist der Mensch vor Frost und Hunger gestorben. Der Sohn verklagt nun seinen Vater vor den Gerichten auf Mord, d. h. fahrlässige Tötung; denn er will die Ehre seines Hauses retten. Handelt er recht? oder verletzt er die Pietät gegen den Vater?S. Plato, Euthyphron zu Anfang.

154 In Beurteilung solcher Fälle übte sich damals das Feingefühl der Griechen.

So weit die Gerechtigkeit. Und die Liebe? wo bleibt sie? Die Liebe zum Nächsten, die uns das Evangelium predigt? Es scheint, das Evangelium hatte in Galiläa diese Predigt nötig. Sokrates übte die Menschenliebe; er setzt sie voraus, aber sie schien ihm so selbstverständlich, daß er davon nicht redet. Nur einmal sehe ich, daß er das Wort braucht und sagt: »die Menschenliebe treibt mich zum Lehren.«Plato, Euthyphron p. 3. Übrigens sind ja Philanthrop und Philanthropie uns geläufige Bezeichnungen, die wir dem Wortschatz der damaligen Griechen verdanken.

Aber es war eine rücksichtslose Liebe, ein heißes Werben, ein Kampf gegen die Selbsttäuschung, gegen den Mangel an Wahrheitssinn. Ob vornehm oder gering, er stellte die Menschen, um ihr Nachdenken zu wecken, und bewies ihnen das Unzureichende ihrer Erkenntnis dessen, was nottut. Daher seine Feinde in Athen, die ihn zu Tode brachten, daher aber auch sein beispielloser Erfolg; denn alle hochstrebenden Geister aus der Jugend Athens sammelten sich um Sokrates, nicht als Schule, sondern als Gemeinde, und haben sein Gedächtnis in wundervollen Schriften als des ersten und größten Seelsorgers des Griechentums verewigt. Eine Gottesstimme war in ihm; er glaubte es selbst. Aber er war nicht wie Empedokles; er blieb der Bescheidene.

Auch in einem zweiten Punkte nähert sich Sokrates dem Evangelium Jesu. Das betrifft die Beleidigungen unter Männern. Merkwürdig ist schon und sei an dieser Stelle den Modernen in Erinnerung gebracht, daß das ganze Altertum das Duell nicht kennt; ich meine das Duell auf Forderung im Privatleben. Zweikampf gab es nur im Krieg und im Schlachtgetümmel. Der übliche Lehrsatz war freilich: »Bist du in deinem Recht gekränkt, so suche Ausgleich; bist du persönlich beleidigt, so suche Vergeltung oder räche dich.«ἀμύνεσϑαι oder τιμωρᾶν: s. Stobäus περὶ ἀρετῆς 92. Diese Rache mochte zur Erwiderung der Beleidigung, sie 155 mochte zur Missetat führen, zum Zweikampf nie. Sokrates aber verbietet das »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. »Du sollst dich nicht rächen.« »Es ist besser Unrecht leiden als Unrecht tun«, ist sein berühmtes Wort,In Platos Gorgias. und abermals: »Wem Unrecht geschehen ist bis zur Mißhandlung, darf es nicht erwidern. Dies glauben mir freilich nur wenige, und wenige werde ich überzeugen. Für die aber, die daran glauben und die nicht glauben, gibt es keine Gemeinschaft.Plato, Kriton p. 49.

Ich wüßte wohl einen, den Sokrates zu seiner Lehre bekehrt hat; es ist Philemon, der Lustspieldichter, der über das Schimpfen in humoristischer Weise die Verse schrieb:Philemon com. frg. 23.

Nichts ist der Anmut und den Musen so gemäß,
Als wenn man ruhig den, der schimpft, aushalten kann.
Denn wenn der, der beschimpft wird, zeigt, es sei ihm nichts,
So ist der andre, der da schimpfte, selbst beschimpft.

Das ist der leichte Ton der Bühne. Schön aber ist es endlich auch ein Wort des Sokrates über das Vaterland zu hören, schön und unvergeßlich. Zum Tod durch den Giftbecher verurteilt, sagt er zum jungen Freunde: »Weißt du nicht, wieviel höher als Vater und Mutter das Vaterland steht und wieviel heiliger es ist? und wie man sein Vaterland, auch wenn es zürnt und uns strafen will, noch mehr ehren muß als den eigenen Vater? Ob es uns in den Krieg ruft oder vor Gericht stellt, überall haben wir zu tun, was der Staat gebietet.«Plato, Kriton p. 51.

Dieser Satz betrifft jedoch wohlgemerkt nur den Heeresdienst und die Rechtsprechung. Wenn dagegen ein Staat wie unser Deutsches Reich bei jedem Verfassungswechsel die Landesfarben und die Handelsflagge ändert, würde Sokrates mutmaßlich die Achseln gezuckt haben. Er hätte sich lächelnd in sein Nichtwissen gehüllt.

Die christliche Lehre aber versagt dem Sokrates hier die Hilfe; denn aus Jesu Munde hören wir zwar einmal das 156 »gib dem römischen Kaiser, was des Kaisers ist«; gleichwohl ist seine Botschaft international gedacht, und wir hören nichts von der Pflicht, Soldat zu werden oder gar Respekt zu haben vor der Rechtsprechung der Juden.

Ehrenhalber müssen wir hier endlich neben Sokrates und Plato noch des Demokrit, des Abderiten, gedenken. Auch dieser weise Geist gab seinen Griechen damals gleichzeitig in aphoristischer Form eine Fülle von Lebensregeln feinster Art. Eine Auslese davon liegt uns noch vor. Demokrit war Außenseiter, Weltmann und weitgereist, und so erklärt sich, daß auch schon bei ihm der Staatsgedanke auffällig zurücktritt; seine Mahnungen galten nicht so sehr dem Bürger als dem Menschen an sich. Der Trieb zur Weltlehre, der in der Zeit nach Alexander dem Großen zum Siege kommt, äußerte sich schon in diesem Manne.

 


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