Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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4. Primitive Verhältnisse

Wozu sind die Häuser? Sie sind nur zum Schlafen da (wenn man nicht gar in Höhlen wohnte). Das gilt auch von den Städtern. Denn auch in das städtische Leben erhalten wir Einblick. 15 In Dörfer oder Kleinstädte sammelten sich die Menschen vielfach gut bürgerlich in Anlehnung an den Burgsitz des Fürsten oder Grundherren. Es waren Marktflecken und zunächst wohl nur Ackerbaustädte, wie auch wir sie bei uns noch heute haben, wo das Vieh durch die Gassen läuft. Aber das Handwerk, Schmied, Töpfer, Schuster und Zimmermann, setzten sich da fest, und ein Tauschhandel entstand: Milchmarkt, Gemüsemarkt; das Landvolk bringt seine Ware. Vor allem die Bohnen und Linsen kommen an Markt; sie waren das Volksessen; sie waren die Kartoffel der alten Griechen, ein Massenverbrauch, warm und dampfend.Vgl. Berliner Philol. Wochenschr. 1915, S. 669 ff. über die Φακῆ des Sopatros und den faba mimus.

Es war ein Handel ohne alles Geld, aber auch ohne Buchführung. Es war die Zeit, wo das Volk noch nicht schreiben und lesen konnte. Alles geschah mündlich. Auf der Wage wog man Ware gegen Ware. Die Zahlen zählte man an den zehn Fingern ab oder machte sich Striche ins Holz. Es ist bemerkenswert: die Griechen haben sich keine Schrift erfunden, kein Alphabet, keine Zahlenschrift. Das erschwerte, verlangsamte das Zählen größerer Summen gewiß, und so fehlte auch noch jede Zeitrechnung; jede Chronologie war unmöglich. Der Begriff des Jahres ergab sich zwar aus dem Wechsel von Winter und Sommer, der Begriff des Monats aus der Beobachtung des Mondwechsels;Vgl. Odyssee 11, 294: »Die Monate füllen das Jahr«. Der Monat als Zeitmaß 12, 325. Was das Zählen betrifft, so sind die Zehnzahl und Fünfzahl beliebt (vgl. das πεμπάζεσϑαι). Man zählte eben nach den Fingern. Zehn Kehlen wünscht sich der Sänger. 2, 489, zehn Ratgeber Nestor Ilias II 372. Größere Massen zählt man nach je fünfen: Odyssee 4, 412. Sodann sind Dezimalzahlen beliebt, zwanzig, hundert und tausend, eine Vervielfältigung der Zahl der Finger: vgl. Ilias XI 244, XXIII 164, XVIII 470 u. a. Das sind oft Ramschzahlen. Doch hören wir natürlich gel. auch von elf oder zwölf Tagen (Odyssee 2, 375) usw. Bei der Landmessung werden die μέτρα gezählt, weiter auch die Ruderer im Schiff, die Mannschaften der einzelnen Kontingente, die Länge des Balkens mit der Schnur gemessen (Ilias XV 410), die Ware auf der Wage mit einem Gewicht gewogen (XII 434). Ob man sich hier schon mit Strichen, σήματα half, bleibt ungewiß. Eine genaue Jahreszählung wie Odyssee 2, 106, ist selten; daher das ungenaue προτέρων ἐτέων, Ilias XI 691. Einmal hören wir, daß ein Kind neun Jahre in Pflege war (XVIII, 400), sonst nur von Tieren: ein Pferd oder Rind fünf- oder sechsjährig (II 403; XXIII 266). Das ἐννέωρος gehört schwerlich hierher. Ein Künstler Eubulides stellte den. digitis computans dar (Plin. nat. Hist. 34, 88). Wie viel die Fingersprache vermag, zeigt derselbe 34, 33, wonach eine gewisse Stellung der Finger die Zahl 365, d. i. der Tage im Jahr, ausdrückte. aber man zählte die Monate noch nicht, benannte sie nicht.Freilich wurden Frühgeburten schon als solche festgestellt: Ilias XX 118. Es gab noch keinen Festkalender, feste Tage, den Göttern geweiht. Man zählte auch die Jahre noch nicht. Von keinem Menschen wird bei Homer das Lebensalter angegeben. Daher die Vorliebe für Dezimalzahlen, für Ramschzahlen. »Hekatomben« haben sicher nicht immer genau 100 Opfertiere bedeutet, und wenn der trojanische Krieg just 10 Jahre, des Odysseus Heimfahrt ebenso lang gedauert haben soll, so bedeutet das volkstümlich nur »lange Zeit«, es sei denn, daß Agamemnon jedes Jahr einen Nagel in die Wand schlug. So findet Odysseus denn seine Penelope ungefähr noch ebenso jugendschön vor, wie er sie verlassen.Vgl. S. 15 Anm. "Vgl. Odyssee 11, 294: »Die Monate füllen das Jahr«..."

16 Beobachten wir noch weiter das städtische Leben. Die Städte waren beschränktesten Umfangs. Trojas Einwohnerzahl wird dahin taxiert, daß auf zehn Leute des griechischen Belagerungsheeres noch nicht ein Trojaner kommt, der ihnen Wein kredenzen könnte.Ilias II 123. Die meisten sind befestigt. Aus dem Stadttor müssen die Mädchen hinaus, um Wasser zu holen; in der Stadt gibt es keinen Brunnen.Odyssee 10, 107. Die Wäschegruben sind in Stein gefaßt: 22, 154. Drinnen sah es wohl nicht immer sehr wohnlich aus,Troja übertraf offenbar andere Städte, wenn an ihm das εὖ ναιόμενον hervorgehoben wird: Ilias II 133. aber es herrschte munteres Leben. Eine Prozession kommt durch die Gassen; denn es ist Neumond, ein bedeutsamer Tag, und an die hundert Rinder werden bis hinaus zum Hain des Gottes Apoll zur Opferung geleitet. Mit einer Volksspeisung soll der Tag gefeiert werden.Odyssee 20, 276. Ein andermal ist es ein Hochzeitszug, der das Städtlein erregt. Alle Weiber treten neugierig vor die Türen, um die junge Braut zu sehen. Es dunkelt schon, und der Zug kommt mit Fackeln daher. Ein Chor singt das Hochzeitslied, den Hymenäus, und mit Schmausen und Tanzen endet auch dieser Tag.

Aber es gibt auch Zank und Streit; es wäre sonderbar, wenn der fehlte. Keifende Weiber schildert der Dichter, die auf der Gasse sich anlügen; denn alle ihre Bezichtigungen sind unwahr.Ilias XX, 252. Da strömt alles Volk auf dem kreisrunden Marktplatz zusammen; ein Totschlag ist gemeldet. Die Stadtältesten nehmen unter freiem Himmel auf ihren steinernen Sitzen Platz. Kläger und Verklagter erscheinen und reden (das römische Prozeßverfahren existiert noch nicht). Tumultuarisch, wie es dem Südländer ziemt, drängen ihre Freunde an und unterstützen beide Parteien mit Geschrei. Die Marktbeamten oder Polizisten müssen Ruhe schaffen, bis dann die Richter sich erheben und urteilen. Wer von ihnen den besten Spruch getan hat, bekommt eine Prämie, und zwar in Gold. Das Gold war ungemünztes, nach dem Gewicht zugemessen,Das Gold wird auf der Wage abgewogen: Ilias XXIV 232. in diesem Fall die Gabe des Landesherrn, der also auch über die Richtigkeit des Urteilsspruchs entschied.

Der Intelligentere unter den Bürgersleuten konnte sich 17 damals also schon solches Gold, das sonst nur dem Luxus der Fürsten diente, zurücklegen. Er erhob sich schon wirtschaftlich über die Masse; das bessere Individuum erhob sich damit auch gesellschaftlich über die Minderen im Volk, über die Vielheit, die damals, in der Zeit der Domänenwirtschaft der Landesfürsten vielleicht weniger nivelliert war als heute im Zeitalter der Maschine; denn der Dienst an der Maschine tötet die Eigenart mehr als alles andere Tagewerk.

Übrigens kennt der Dichter der Ilias in Wirklichkeit das Gold so wenig, daß er glaubt, es sei fester und undurchdringlicher als Erz.Ilias XX 268 und 272.

Soweit diese Lebensbilder; sie sind anschaulich genug, bieten aber dem, der die Mittelmeerländer kennt, nichts Besonderes. Auch wer zu den sogenannten wilden Völkern des Südens, z. B. nilaufwärts zu den Sudanesen geht, findet da alles heute ungefähr ebenso: Ackerbau, Viehwirtschaft, Musik und Tanz; auch größere Ansiedlungen und Marktbetrieb. Die primitiven Wohnungsverhältnisse bringt dort das Klima mit sich; aber bei den Griechen waren sie nicht besser.Der Rundbau der Hütten, wie ihn auch die etruskischen Aschenurnen in Hausform gel. zeigen, scheint das Primitivste gewesen zu sein; für Orchomenos bis ins 3. Jahrtausend zurückdatierbar. Auch noch zu des Perikles Zeit stand es im Durchschnitt erbärmlich mit den Wohnhäusern, und der Bedürfnislose nahm sich ein Tonfaß, um darin zu schlafen. Die Wände ungebrannte Lehmziegeln; das Innere oft noch ohne viel Raumteilung. Der Fußboden gestampfte Erde. Auch ein Herd fehlte bisweilen, und man häufte die Holzscheite am Boden, über die man den Kessel hing.Odyssee 21, 362. Ich erlebte dasselbe im Peloponnes (»Griechische Erinnerungen«² S. 150). Während die Edelleute in Betten schlafen, schläft der gemeine Mann auf dem Fußboden, wie dort noch heute, Herr und Knecht nebeneinander.Odyssee 11, 190, Herr und Dienerschaft speisen auch am selben Tisch: 24, 385. Wenn Feuersbrunst entsteht, ist niemand da, der löscht.Ilias XVII 738. Die Wände sind so unsolide: jeder Dieb kann sich ein Loch schlagen, um einzubrechen; er war ein wirklicher »Einbrecher«, aber er fand drinnen nicht viel zu stehlen. An Töpferwaren fehlte es nicht; auch der Stuhl war schon erfunden. Oft führte wohl auch schon eine Stiege, richtiger eine Leiter, in ein oberes Stockwerk, und das Haus zeigte in der Höhe ein paar Fensterlöcher. Der verliebte 18 Bursche konnte da also unter dem Fenster schon ein Ständchen bringen, und ein Mädchenkopf neigte sich heraus. Von solchen Zärtlichkeiten redet freilich Homer noch nicht.

Man begreift hiernach, wie rasch sich im Altertum zerstörte Städte wieder aufbauen ließen. Es geschah in ein paar Wochen. Xerxes hat Athen niedergebrannt; als er wieder abzieht, kommen die Athener aus Salamis und richten sich in ihrer Stadt sogleich wieder ein. Man kann also fragen, ob die alten Griechen wesentlich besser wohnten als der Beduine, der in seinem Zelt mit Frau und Kind, Stute, Ziege und Lamm haust? Fehlte doch auch sonst noch so manches, was der moderne Plebejer zur gemeinsten Vorbedingung der Kultur rechnet. Salz hatte man zwar; man gewann es aus dem Meerwasser. Aber man hatte noch keine Eierspeisen; denn zu Homers Zeiten fehlten im Lande noch die Hühner. Ja, auch die Tauben schwärmten noch nicht ums Hausdach. Erst später wurden aus dem Orient Hühner und Haustauben eingebürgert.τρήρωνες sind nur Wildtauben, πέλειαι, vgl. Odyssee 12, 63. Trotzdem wird von Ortschaften oder Städten gesagt, daß sie taubenreich sind: πολυτρήρων: Ilias II 502 und 582. Das Taubenschießen ist Sport: XXIII 853 (πέλειαι). Vgl. übrigens »Horaz' Lieder, Studien« S. 58. Aber es fehlte, was schlimm, auch noch die Öllampe und das Kerzenlicht; man hatte nur die qualmende Fackel zur Beleuchtung. Daher fehlt alles Nachtleben; man kroch früh mit der Sonne ins Schlafgemach, und sogar die Götter des hohen Olymp, Gott Zeus und die Seinen, verschliefen darum, wie der Dichter glaubt, die Nächte.

Ich könnte noch fortfahren: das Schloß an den Türen galt noch als WunderwerkIlias XIV 168, auch einen soliden Knoten zu machen muß der Held erst lernen: Odyssee 8, 447. und fand sich wohl nur in den Palästen der Großherren, die etwas zu verschließen hatten. Auch das Hausbad fehlt; nur die Vornehmen baden.Odyssee 24, 254. Im Meer badet man nur, um sich von Schweiß zu reinigen, und nimmt dann noch ein Wannenbad: Ilias X 572 f. Das Mahlen geschah nur mit der Handmühle, und kein Mühlenrad ging im Tal, keine Windmühle streckte ihre Flügel. Die Damen kannten noch keinen Spiegel,Man sehe die Art, wie Hera in der Ilias Toilette macht. aber auch keine Schminke. Und nun gar die Stiefel, die Beschuhung! Unser Reiterstiefel ist völlig unklassisch; aber auch kein Pantoffel stand den Frauen zur Verfügung. Selbst die Fürsten gehen wie die Neger Afrikas zu Hause barfuß; müssen sie ins Freie, binden sie sich nur die Sandale unter den Fuß. Die Sandale 19 blieb auch später bevorzugt, und die Mehrzahl führte also ein Barfüßerleben. Daher war das Fußbad so dringend nötig. Und nun der Reisende. Er ritt nicht. Das Pferd war noch eine Kostbarkeit, und auch der Reisewagen, Zweispänner und leicht, diente deshalb nur den Vornehmen, die ihre Gäule sogar gelegentlich mit Wein stärkten. Das kennen auch wir.Man vermeidet in der Schlacht Pferde zu verwunden, und sie sind eine erwünschte Beute; vgl. Ilias XVII 488; XXIII 292. Das Pferd dient vorzugsweise als Wagenpferd; ein Lastwagen auf vier Rädern XXIV 324; vgl. die ἅμαξα Ilias VII 426 und Odyssee 9, 241. Männliche Pferdenamen Ilias VIII 184; vielfach aber werden Stuten bevorzugt, ganz anders als auf der römischen Rennbahn; Achills Pferde sind Stuten, auch Nestors Ilias XI 597; vgl. die in XXIII. Wettfahrten sind außer in XXIII auch XI 700 erwähnt. Geritten wird selten wie in der Dolonie X 513; vgl. Odyssee 5, 371. Reiterkunststücke auf vier Pferden in Friedenszeiten Ilias XV 679. Pferde mit Wein getränkt Odyssee 8, 189, welcher Vers, wenn auch nicht ursprünglich, doch als Zeuge für die Sache dienen kann. Sogar Held Herakles mußte zu Fuß durch alle Länder, als rechter Globetrotter, bis nach Spanien und Marokko. Zu Fuß hat er die Äpfel der Hesperiden von dort nach dem Peloponnes getragen. Daß bei der langen Reise die Früchte frisch blieben, gehört zu den Wundern der Sage, die nicht nötig hat, mit der Macht der Zeit zu rechnen.

 


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