Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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Homer und die Zeit der Atriden

1. Zur Einführung

Das Weltall und das Ich, der Sternenhimmel über uns und das Sittengesetz in uns: an diesen Gegensatz denkt sogleich, wer über Kultur der Menschheit reden will. Aber die Kultur der Menschheit existiert noch gar nicht. Nur von einem Teil der Völker ließe sich bis heute reden, und es bestanden anfangs nur schmale Kulturinseln im Ozean des Primitiven. Greifen wir obenhin rechnend ins älteste Altertum zurück, so gelangen wir nur etwa bis zum Jahr 5000 v. Chr.Hier sind die Zeiten des Diluvialmenschen und der Funde von Altamira noch gar nicht in Rechnung gesetzt. Ihren Gipfel erreichte die antike Kultur in der Zeit Jesu bei den Griechen und Römern. Sie glaubt sich noch einmal auf dem Gipfel in den heutigen Tagen und in unsrer herrlichen Gegenwart: ein Versuchen und Ausgreifen nach Vollendung des Ichs und der Gesellschaft, das durch die Jahrtausende geht, das aber nie zum Ziele führt, heute am wenigsten; ein Vorsichhinleben der Massen, ein Übersichhinausstreben der Einzelnen, bevorzugter Individuen. So war es stets. Unter die Masse der Selbstzufriedenen fährt aufregend der Prophet und Reformer. Die Ideale wechseln wie die Moden.

Und so mag es 5000 Jahre weitergehen. Alles hat sich im launischen Wechsel der Zeittendenzen wiederholt und wird sich wiederholen, und die Menschheit geht in Spiralen durch die Flur der Zeiten. Jedes Zeitalter dünkt sich das klügste oder das reifste, und jedes irrt sich.

Daran zu denken, lohnt in der Gegenwart; denn es gärt in den Tiefen der weiten Menschheit wie nie. Was steht uns jetzt bevor? Man rechne nur nicht den Maschinenbetrieb der Neuzeit zu den Hochwerten der Kultur. Denn das Fabrikwesen hat vielmehr zerstörend auf das Seelenleben der Masse gewirkt, und der Schrei nach Besserung der Existenz, nach Rückkehr aus diesem asphaltenen Dasein zum Naturgegebenen, nach Rettung des Adels der Menschheit ist 3 heute lauter und angstvoller, als er je gewesen. Es helfe, wer Beruf hat, zu helfen. Es gilt, zu wirken und zu hoffen, als stünden wir wieder einmal am Anfang der Dinge. Mag es so weitergehen und Staat und Volk sich mühen, die Strebenden nicht erlahmen. Was aber sind die Jahrtausende, die wir kurzatmigen Menschen zählen, was sind sie im Auge der Ewigkeit?

Die Sterne über uns reden anders; die goldenen Heerscharen der Sonnen, zu Systemen geordnet, wandeln am Himmelszelt im grenzenlos Unermeßlichen, und es gähnt um uns und über uns die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes. Eine ewig bewegte Materie erfüllt das All. Was ist der Mensch? Der Erdenball in der Masse der Welten ein winziger Kiesel, der um seine Sonne rollt, und wie die Moosflechte auf dem Schiefer, so keimt auf der Erde die Menschheit, die armselige, von Geschlecht zu Geschlecht, als wäre sie nichts.

Uns aber, dem belebten Staube, ist gegeben, zu schauen, wahrzunehmen und zu denken. Unser Auge fängt das All, und wir sind berufen, den ungeheuren Kontrast zu fühlen und nicht zu verzagen. Der Mensch trotzt und versinkt nicht in ohnmächtiges Staunen. Er stellt sich auf seine zwei Füße, um nicht nur Gier, um Geist zu sein. Ihm ist gegeben, auch sich selbst zu denken. Im eigenen Hirn spiegelt sich sein Ich. Das Gedächtnis ist sein, das die Vergangenheiten an die Gegenwart bindet, und aus dem Geschehen wird Geschichte. Das Selbsterinnern schafft sie. Wie am Körper untrennbar sein Schatten hängt, so die Geschichte an uns, die wir durch die Gegenwarten schreiten. Wo sie ist, da ist aber Kultur, und wir vergessen die Winzigkeit alles Irdischen, die Endlichkeit alles Strebens, wenn wir Erinnerungen pflegen und auf die Wurzeln unseres Daseins schauen, das sich hinübersehnt aus dem Vergänglichen ins Unvergängliche.

Das ganze All pulsiert; aber sein Pulsschlag geht nach Gesetzen. Die Sterne haben ihre festen Bahnen. Solch feste 4 Bahnen will auch der Mensch. Er will ein Sittengesetz, ein wandelloses. Jede Wolke kann uns die Sonne rauben; das Lied Bürgers vom braven Mann, des Simonides Vers vom Leonidas, der vor dem Feind fiel, wie das Gesetz es befahl, dies und solcher Art sind die Leitsterne der Menschheit, die kein Schatten je verdunkeln kann.

Was ist interessanter als eine Geschichte der Erfindungen? Die Kultur aber besteht, wie schon gesagt ist, nicht in technischen Fortschritten, die für sie nur Hilfsmittel. Durch Telegraph, Telephon und Radio sind unsre Ohren nur länger geworden, und wir hören in die fernsten Fernen. Aber was wir hören und hören lassen, ist dadurch nicht besser geworden. Ob man im Auto mit Gummirädern, im Luftschiff fährt oder auf dem Bauernwagen, der kläglich holpert, der Fahrende wird durch das bessere Fahrzeug nicht wertvoller. Die Kultur besteht in der Seelenpflege, im Verständnis für den Nebenmenschen, in der sittlichen Haltung, im Schönheitssinn, der das profan Alltägliche verklärt und die Affekte mäßigt, im Feinsinn für geistige Werte und Menschengröße.

Seien wir indes glimpflich und nennen das eine die materielle, das andere die geistige Kultur.

Wer zählt all die köstlichen Neuerungen, durch die unser äußeres Wohlleben gesteigert worden ist, weit über die Ansprüche des römischen Kaisertums hinaus? Das Genie überbietet sich immer noch, die Naturgesetze zu belauschen und in seinen Dienst zu zwingen. Die Kolben stampfen, die Räder schwingen sich, die elektrische Welle trägt den Schall. Tausenderlei Maschinen arbeiten jetzt als Selbstbeweger, die nur des ersten Anstoßes bedürfen, und was sie leisten, sind lauter »erstklassige Fabrikate«, wie allemal die Reklame sagt. Die Konkurrenz schafft Wunder über Wunder, und das Wunder von heute ist morgen schon das Alltägliche. Auf all das mag unsre Gegenwart eitel sein; stolz kann sie sein auf ihre ethischen Strebungen, die soziale Fürsorge des 5 modernen Staates, die im größten Stil, der Pflicht gehorchend, die sich bekämpfenden Gesellschaftsklassen endlich auszusöhnen versucht.

Wir aber wollen nun das Werden unsrer Kultur verstehen, die in der sogenannten Antike wurzelt, und wenden uns zu ihren Anfängen zurück.

Sie entsteht allemal nur in der irgendwie staatlich geordneten Menschheit. Diese nennen wir darum »zivilisiert«; von civis (»Bürger«) ist das Wort gewonnen. Das heißt: erhebliche Gruppen des Volkes sind Städter geworden, die die Pflichten und die Vorteile übernehmen, die solche bürgerliche Vergesellschaftung ihnen zuweist.

Schon die homerischen Griechen waren zivilisiert. Es scheiden sich dann aber alsbald in der Gesellschaft die Elemente des arbeitenden Volkes und der Arbeitgeber und Staatslenker. Nur die letzteren sind in der Lage, nach den persönlichen Bedürfnissen die Selbstpflege, d. h. die Kultur zu steigern. Sie sind es, auf die es ankommt. Aber wir können nicht mit ihnen beginnen und reden zunächst vom Primitiven.

 


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