Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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7. Das Schöne

Wie ein Grieche zu des Perikles oder zu des Plato Zeiten lebte und starb, haben wir gesehen. Dies ist der triviale Hintergrund, vor dem sich das große geistige Drama abspielt, von dem nunmehr zu reden ist: ein Ineinandergreifen von tausend regen Geistern, das Wunder, das für jeden Denkenden unvergeßlich ist.

Der Traum, den einst Winckelmann, Schiller und Humboldt geträumt, ist ausgeträumt, der Traum von dem Idealvolk der Griechen. Wir haben gesehen: das Volk selbst war nicht ideal, aber es war ein Volk der Ideale. Das Volk ist ausgestorben, seine Ideale sind geblieben, und das ist das Erbe der Antike, das wir uns nicht nehmen lassen. Erwirb es, um es zu besitzen.

Da ist das Wort Freiheit, dazu das Wort Schönheit und Wahrheit, das Wort Genie. Davon ist zu handeln.

Heut leben wir geknebelt im Beamtenstaat, und die Arbeiter, auch die geistigen, tun eingespannt gegen Besoldung ihre Pflicht, ein Tagespensum, im grauen Einerlei bis zur 120 Pensionierung oder bis zum Tode. Auch unsre Literaten und Künstler, die der Staat nicht bezahlt, müssen vielfach für Gelderwerb schaffen, um nicht zu hungern. Die antiken Philosophen, Dichter, Ärzte und Wissenschaftler widmeten sich ihren Zwecken, wie die englischen Lords, die da Wissenschaft treiben, großenteils ohne solche Fesseln; denn sie gingen zumeist aus wohlhabenden Häusern hervor,Kapitalkräftige Leute waren, wie ihre Lebensstellung beweist, Heraklit und Empedokles. Dasselbe ist ohne Zweifel für Thales, Pythagoras, Demokrit, Herodot u. a. m. vorauszusetzen, denn diese Männer sind die weitgereisten; so auch Plato. Auch für die drei griechischen Tragiker ist dasselbe glaubhaft. Dem widerspricht nicht, daß zu Platos Zeit die Tragödiendichter in Athen und auswärts viel Geld verdienten (Plato, Laches p. 183). und die Sorgen fehlten, auch kein Staatsexamen drohte ihnen in der Jugendzeit, und die Liebe zur Sache war alles. In diesem Sinne war ihr Wirken Liebhaberei; sie waren im höchsten Wortsinn Dilettanten.

So möchte man sich denn doch wie unser Dichter Schiller, der durch so viel Not sich hindurchkämpfte, in jene Zeiten zurücksehnen. Dieselbe Freiheit, an der Hellas politisch zugrunde gegangen ist, hat die schöpferischen Naturen auf das glücklichste entfesselt, und die begabten Individuen konnten sich allerorts ausleben und aus innerem Trieb ihr Eigenstes geben. Der Individualismus beginnt, aber er beginnt im Rahmen des Staatslebens. Das Vaterland, der Staat, ist noch immer sittlicher Zweck für jeden. Das war kein Widerspruch. In seinem Dienst entfaltet sich das Ich.

Auch im Religiösen galt die Freiheit, und man dachte nicht daran, etwa mit Gemeindezwang eine Kirche zu schaffen, den Glauben zu uniformieren. Freischöpferisch waren die Gebete und Andachtsbezeugungen der Dichter; frei und durch keine Vorschrift gebunden schufen die Bildmeister die Götteridole; frei war in der Ethik das Streben nach einem Sittengesetz; denn Moses hat vom Sinai zu den Griechen nicht gesprochen; frei endlich das rastlose Fragen nach dem letzten Grund aller Dinge, mochte selbst der alte Götterglaube darüber zugrunde gehen.

Wahrheit, Schönheit, Rechtschaffenheit (Aletheia, Kallos und Dikaiosyne) die drei Krongüter der Menschheit! Was Schönheit und Rechtschaffenheit ist, hat der Grieche uns gesagt, gezeigt; zur Wahrheit hat er nur die Wege gewiesen, 121 die wir auch heute noch mit ihm gehen. Sie ist die ewig Unvollendete.

Man lese, was die Griechen damals geschrieben haben, ob im Vers, ob in Prosa, man gehe durch unsre Museen, um ihre Bildwerke, die man mit so viel Fleiß gesammelt hat, zu schauen; es ist erquickend, entzückend zu sehn, wie alles aus erster Hand gegeben ist: Morgenfrische, ein Suchen und Finden ohne Vorbild. Es ist alles Natur. Natur müssen wir heute lernen; der Grieche hatte sie noch. Sie selbst ging ihm zur Hand. Das ist das Geniale, das Zeugungsfähige, das Ursprüngliche. Die Quellen fließen aus der Tiefe, als hätte ein Gott an den Felsen geschlagen.

Reden wir vom Schönen.

Die Rasse selbst war edler Bildung, unsrer nordischen Rasse zugehörig oder verwandt,Vgl. H. Günther, »Rassenkunde Europas« und »Rassenkunde des deutschen Volkes« S. 40. und durch die Steigerung der materiellen Kultur hatte sie sich gewiß noch weiter veredelt; daher Griechenweiber, griechische Jünglinge eine beliebte Ware für den Harem der Perserkönige und andrer orientalischer Magnaten.S. z. B. Herodot VIII 105. Natürlich brachte die Rasse auch Mißwuchs, auch Garstiges genug hervor, Hexengesichter, Bocksnasen, schielende Augen, abstehende OhrenAbstehende Ohren sieht man z. B. an der Bronzefigur des sitzenden Hermes aus Herkulanum. Die Marmorplastik mußte verzichten, derartiges nachzubilden. usf. Um so mehr glaubte man, daß Schönheit adelt. Die edle Seele im edlen Körper war das Dogma, an das auch heute jeder Ästhet so gern zu glauben geneigt ist. Es war die Aristokratie der »Guten und Schönen«. Bei den Römern war es für Männer anrüchig, der Schöne zu heißen,Vgl. den pulcher bei Lucilius, ed. Marx II S. 13. bei den Griechen ein Ruhm. Das Wort »kalós« (»schön«) selbst spielt überall hinüber ins Ethische.

Zur Gestalt kam die Bewegung hinzu, eine angeborene Grazie, die Charis, zu der das Rüpelhafte der Bauern und der Silene im Gegensatz stand. Um von den antiken Schildereien nicht zu reden: untrügliche Reste davon sind unter den Lebenden noch heute vorhanden; daran glaubt, wer heute die Frauen in der Provence, wer den Süditaliener, den Inselgriechen in der Bewegung gesehen.Einige Beobachtungen gab ich in meinem Buch »Aus der Provence« S. 99 ff.; vgl. auch »Griechische Erinnerungen« S. 94 ff.

122 Diese Rasse lebte in einer Landschaft, die wiederum an Schönheit der Bildungen wohl wenig ihresgleichen hat. Ich meine nicht den Wechsel und die Tiefen des Farbenglanzes, sondern die Gebirgsformen, phantastisch und doch maßvoll im Wuchs, die mit reinen Konturen aus dem Meer sich heben und wie geniale Zeichnung gegen den Himmel stehen. Der Grieche empfand die Schönheit dieser Umgebung wohl; wenn er aber von Natur schwärmt, was selten ist, redet er höchstens von den Quellen und Bäumen, die mehr zum Gemüt sprechen. Der Jüngling lustwandelt mit dem Freund im Schatten des Olivengartens, wo auch die Eibe duftet und die Silberpappeln stehen und die Ulme sich zur Platane neigt.Nach Aristoph. Nub. 1006 f. Das Naturschöne war ihm zu selbstverständlich; denn er lebte täglich darin und kannte nichts anderes. So wurde er denn auch kein Landschafter. In der Kunst war der Mensch ihm alles, Reproduktion des Menschentums in tausend Aufnahmen, und dabei herrscht nun ein unvergleichlicher Formsinn, der dem engsten Rahmen die Schilderei anzupassen weiß; es herrscht vor allem das Mathematische in der Berechnung der Proportionen.

Man nehme den Tempelbau. Wie verschieden ist er vom ägyptischen! Der Ägypter stellte seine Kolossaltempel schwer massiv und steil in die öde Fläche. Diese Götterbehausungen im Sonnendienst sind himmelstrebig; sie selbst sind Gebirge, ausgehöhlt als Riesengrotte, die von mystischem Dämmer erfüllt ist. Die griechischen Kleinstaaten konnten solche Massen nicht zwingen und waren im Nachteil, wenn sie in der Fläche bauen mußten. Aber sie stellten ihre Tempel, wo es anging, hoch in die Landschaft; das Gebirge selbst das Podium, die Akropole eine Götterburg, und die Ausmaße bleiben bescheiden, sie werden dem Terrain geschickt angepaßt. Schlicht aus der Vertikale und Horizontale aufgebaut mit nur rechtwinkeligen Schneidungen (es gibt hier keine Gewölbebauten; auch kein Winkel wird ausgerundet), so stellt der Tempel, ob dorisch, ob jonisch, in die Kurvaturen und das 123 Linienchaos der Natur siegreich die schnurgerade Linie, die die Natur kaum kennt. Die Idee, der ordnende Gedanke, stellt sich in die ungeordnete Wirklichkeit.

Man war stolz und froh, als man als Baumaterial den Marmor entdeckte. In Ephesus soll für die Artemis der Tempel gebaut werden. Da sieht ein Hirte im Gebirge, wie zwei seiner Schafböcke zusammenrennen; sie verfehlen sich; der eine stößt mit dem Gehörn ins Gestein, und der schönste weiße Marmor tritt zutage. Daraus baute man das Heiligtum auf; der Hirte aber, der den Fund der Behörde gemeldet hat, erhält zum Danke den Eigennamen Evangelus, »der gute Bote«S. Vitruv X 7, 15.

So steigen nun auf den dreistufigen Stylobat die kanellierten Stämme der Rundsäulen, die aufgereiht wuchtig und sicher das Gebälk und das Tempeldach auf ihren Kapitälen wie auf Polstern tragen und den geschlossenen Innenraum schmückend umstehen. Das Dach ist oft durchbrochen, auf daß das Licht hereinfließe, daß aber auch die Gottheit von oben sich in ihr Haus herniederlasse.So läßt sich Apoll von oben in seinen Tempel nieder, nach Justin 24, 8, 4. Ebenso dringt der Gott von oben auch ins Privathaus; s. Terenz Eunuch 588; auch die Schlangen: Phormio 707; Plautus Amphitr. 1108. In diesem Fall kam es leicht, daß sich Vögel einnisteten, die die Bildwerke verunreinigten, und über dem Haupt der Gottesbilder wurde zum Schutz eine runde Scheibe angebracht.Vgl. Aristophan. Aves 1114 u. a. Aus der Nachahmung dieser Scheibe ging später in der christlichen Kirchenkunst der Heiligenschein hervor.

Die Abstände der Säulen und der Wände aber, das Verhältnis der Höhe zur Länge, alles ist sorglich gemessen, die Linie des Stylobats in Front sogar leicht und kaum merklich geschwungen, um das Gefühl der Elastizität zu erzeugen, die Starrheit zu überwinden.Man hat sogar festgestellt, daß auch die Außenseite der Cellawände des Parthenon nicht haarscharf senkrecht steht, sondern unmerklich leicht geneigt ist. Es entzieht sich das der Wahrnehmung dessen, der nicht nachmißt. Das Geheimnis des Reizes ist die Proportion, die Wirkung überaus vornehm, heilige Ruhe, nicht Extase.

Wie anders die frommen Marmorprunkbauten der indischen Großkönige oder Maharadschas, jene traumhaften Marmorphantasien in Agra, wo die ganzen Steinflächen nicht mehr behauen, sondern wie geschnitzt in unendlich reiches 124 Zierwerk völlig aufgelöst sind, als sähe man Gebäude aus Brüsseler Spitzen. Bunte Edelsteine schimmern dazwischen in Verschwendung. Die Nacht kommt; der goldene Mondenschein fällt darüber und der Betrachter vergeht im Rausch des orientalischen Märchenzaubers. Das ist wunderbar genug, aber es ist groteske Epigonenkunst.Ähnlich die junge buddhistische Baukunst in Siam, vgl. K. Döring, »Buddhistische Tempelanlagen in Siam« (1920) in 3 Bänden. F. Guggenheim, »Indische Kunst« (1923) S. 60–74 vergleicht die indische Baukunst mit der griechischen zum Nachteil der letzteren, seine Ausführungen aber überzeugen mich vom Gegenteil. Der griechische Tempelbau gibt in Einfalt das Primitive, aber das Erziehende und Normative für alle folgende monumentale Baukunst, und er setzt an die Stelle jener Edelsteine das Bessere, die Schöpfung der plastischen Metopen oder den farbig getönten Bilderstreifen des Frieses, der den Bau rings umwindet und wie eine TänieIn Wirklichkeit ist der ionische Bilderfries eine Nachahmung oder Versteinerung einer ausgespannten Buchrolle mit Bildern wie der gerollte Bilderfries der Trajanssäule u. a. Ägyptische Papyri, wie der zu Berlin im Alten Museum unter dem Zeichen P 3127, zeigen lang ausgespannt, was ich meine: eine Serie farbiger Bilder in langer Folge. So haben auch die zeichnerischen Entwürfe ausgesehen, nach denen jene Friese gemeißelt wurden. Daß auch in antike Textbücher auf Papyrus Bilder eingefügt werden konnten, ist selbstverständlich, s. »Die Buchrolle in der Kunst« S. 269 ff. und 309 f., wo auch über Varro's »Imagines« u. a. m. Viel Irriges finde ich bei H. Gerstinger, »Die griechische Buchmalerei« (1926) und E. Bethe in der Philol. Wochenschr. 1927 S. 1005 ff. Die ästhetischen Gründe, die da angeführt werden, beweisen nichts. Farbige Bilder in Textbüchern zeigen uns die ägyptischen Papyrusrollen in Fülle, in den griechischen ließen sich solche ebenso gut anbringen. um seine Stirn läuft. Es sind Schaubilder aus dem Heldenleben. Wenn man Grieche ist, träumt man nicht nur, man gestaltet seine Träume.

Das schräge Dach aber erzeugt in der Front das Giebelfeld im Dreieck; das Dreieck wird zum Rahmen, und belebte Figuren in Vollplastik wie die bekannten Ägineten gruppieren sich auch dort harmonisch und eindrucksvoll. Die Kunst der Gruppierung vieler plastischer Vollfiguren zu einer Einheit ist schwer; der Ägypter kannte sie nicht. So aber entstand zu dekorativem Zweck von selbst jene dreieckige Komposition, die sich als schön und wohltätig für das Auge mutatis mutandis zu allen Zeiten bewährt hat.Auch in der antiken Malerei läßt sie sich öfter nachweisen, vgl. z. B. G. Rodenwaldt, »Die Komposition der pompejanischen Wandgemälde« Abb. 26, 27 u. 38.

Diese Wohlordnung ergibt den Rhythmus. Das Wort Rhythmus, eigentlich der Takt in der Bewegung, wird auch auf den Fluß der Linien, wenn sie harmonisch verlaufen, übertragen; ja, auch die Triebe seiner Seele kann der Mensch schließlich so rhythmisieren, also künstlerisch gestalten. Dann wird die Seele schön.

Daher nun also auch der Rhythmus in den Statuen. Er beruht auf der durchdachten Anordnung der Glieder, die ungezwungen den reizvollen Umriß ergibt, das Auseinandertreiben der Linien vermeidet und in der Entsprechung, dem Kontrapost, das Schönste gibt. Die ältere Kunst zeigt sich noch unsicher: der hochgestreckte rechte Arm der bronzenen 125 Tänzerin aus Herkulanum (in Neapel) ist widergesetzlich,Die Tänzerin abgebildet bei Rayet, Monuments de l'art antique Tfl. 37. Ebenso steht es mit dem archaischen Harmodius (in Neapel), der zum Hieb ausholt. Besser die Adoranten in den Katakomben, der bekannte »betende Knabe«, die Tänzerinnen aus Pompeji. Daß man den Arm nicht wesentlich über Kopfhöhe erheben dürfe, schärft Quintilian ein: IX 3, 141 u. 84: vgl. auch II 13, 9. Danach ist auch der etrusische Aringhatore zu würdigen, auch die Amazonenstatuen u. ä. Kunstwerke. und das gehobene Bein des Dornausziehers durchschneidet ungeschickt den Linienfluß.

Auch hier ist wieder das mathematische Denken von Einfluß. Polyklet formulierte sogar für seine Zeit ausdrücklich die Regel: dem Gesicht der Figur gehört 1/10 der ganzen Höhe, der Fuß entspreche einem Sechstel der Höhe usf. Das Gesicht wird überdies in drei Stockwerke zerlegt; Untergesicht, Mittelgesicht und Stirnpartie sollen das gleiche Höhenmaß haben. Setze den Zirkel in den Nabel und beschreibe einen Kreis: alle Extremitäten des Mannes müssen alsdann ausgestreckt just die Peripherie des Kreises treffen. So ergibt sich der Normalmensch, den der Künstler braucht.Vgl. L. v. Sybel, Weltgeschichte der Kunst² S. 217 nach Aug. Kalckmann. Andere verschoben diesen »Kanon«, am genialsten Lysipp zur Zeit Alexanders des Großen, der die Proportionen der Statue allemal danach einrichtete, ob sie hoch oder niedrig aufgestellt werden sollte,Den Ausspruch Lysipps habe ich in »Laienurteil über bildende Kunst« S. 22 erläutert. ein Gesichtspunkt, den unsre Plastiker nur zu oft vergessen.

Das Wort »Kanon«, lateinisch regula, heißt eigentlich das Lineal. Aus regula ist unser Wort »Regel« hervorgegangen. Das Lineal »reguliert«. Besser wäre es, man übersetzte Kanon, wo es die Vorschrift bedeutet, mit »Richtschnur«; denn wie das Lineal, so dient auch die Schnur zur Sicherung der Richtung.

Nun aber die Töpfer, die im Töpferbezirk, dem Kerameikos Athens, zusammen wohnten. In ihrer Massenfabrikation feiert die Eurhythmie, das Formgefühl, ihre Triumphe. Unsre moderne Fayence- und Porzellanindustrie ist vor allem siegreich durch den Glanz und Wert des Materials. Die Vasen der Antike, die wir bewundern, sind nur irdenes Geschirr, dazu so leicht zerbrechlich; aber sie erreichen, auch wenn wir von ihrem aufgetragenen Bildschmuck, für den sie bestimmt sind, ganz absehen, ihren Effekt schon durch ihre Gestalt, die zudem tausendfach variiert; denn kein Exemplar wiederholt ganz genau das andere, und eine wirkliche 126 Schablone gibt es nicht: Schüsseln und Teller und Becher, große Wasserkrüge (Hydrien), terrinnenförmige Mischgefäße oder Kratere, Kannen und Ölflaschen, die reizenden Lekythen, einhenkelig und schlank gewachsen, endlich die grandiosen Amphoren (d. h. zweihenkelige Traggefäße oder Zuber), die Wein oder Öl in größeren Quanten aufnehmen. Ihre Formgebung ist von der Nachahmung der Frauengestalt ausgegangen, und sie stehen daher stets auf kleinem Fuß, runden sich aufwachsend zum Bauch und haben Schultern, Hals und Arme, alle Gliedmaßen sorglich abgehoben, nun aber in rein mathematische Formen umgewandelt, voll Schwung und Grazie. Das Genialste und Kühnste, die sogenannten Prothesen, ganz schlank gewachsene und 2–3 Meter hohe Amphoren, die man auf dem Grab oder an der Bahre des Toten aufstellte, deren Hals sich schier endlos reckt wie der Hals des Flamingo oder wie der Stiel des Schilfes, der statt des offenen Blumenkelches die runde Gefäßmündung trägt.

Endlich von den Bildmeistern weiter zu den Dichtern. Ich denke an die Tragödien Athens. Sie waren nicht nur Wortdichtung, sie waren Bild, Bilderfolgen, die filmartig sich auf der Bühne schoben, die maskierten Schauspieler lebende Statuen, die sich maßvoll bewegten; die Spielakte durch Chorgesang unterbrochen und so das Ganze wie ein Metopenfries am Tempelbau. Die Spielszenen entsprachen den Metopen selbst, die Chorlieder den sie trennenden Triglyphen; und wie das enge Metopenbild nie mehr als zwei oder drei Figuren in Handlung zeigt, so auch das Bühnenbild; es agieren immer nur zwei oder drei Schauspieler. Wie ferner die Triglyphen drei Furchen und Stäbe haben, so zerfallen die Chorlieder regelmäßig in drei Strophen. Dreiteiligkeit gehörte überhaupt zum Wesen der älteren griechischen Vokalmusik, wobei von den drei Strophen immer nur zwei sich gleich sind, ähnlich wie in Händelschen Arien oder in unsren Sonatensätzen. Auffallend auch die Gleichheit der Umfänge 127 in den Szenen des Dramas sowie der verhältnismäßig geringe Umfang der Dramen selber; der Umfang richtete sich nach der Zeit; denn es wurden vier Stücke an einem Vormittag gespielt, darunter immer drei Tragödien, die eine Trilogie bildeten, auf die dann noch zur Entlastung des Gemüts ein ausgelassenes Satyrspiel desselben Dichters folgte.

Es ist alles Messung und nichts charakteristischer als alles dies für den Formsinn, den Ordnungssinn, die Eukosmie des klassischen Stils der Griechen. Und das wirkte ins kleinste weiter. Ich rede hier nicht von dem eigentlichen Rhythmus der Musik, dem Reichtum der Taktarten. Es beruhte auch das alles auf der Zahl; wer musiziert, muß eben zählen können. Das Musikstück selbst aber zerfällt wieder, wie wir an den erhaltenen Gesangtexten erkennen, in Perioden, die sich möglichst genau entsprechen, die Perioden wieder in »Glieder« oder Kola von gleicher Länge; und das übertrug der Feinsinn der attischen Redner weiter auch auf die Prosa, die Kunstrede; auch sie zerfällt in sorglich gerundete Perioden, in denen die Symmetrie waltet, mitunter bis zum Abzählen der Silben. Das scheint uns Pedanterie, die nur frostig anmutet. Aber die meisten Künstler waren bei alledem doch klug genug, den Eindruck »holder Zufälligkeit« vorzutäuschen. Die Arbeitsmethode war da, aber sie wurde verheimlicht. Das Gesetz ist latent und so verschwiegen wie die Gesetze, nach denen die Planeten über den Nachthimmel wandeln. Nur der Forscher findet sie.

Glühend ist im Griechen die Sinnlichkeit, unerschöpflich das Spiel der Phantasie, gleichstark entwickelt aber auch das abstrakte Denken. Wer wundert sich noch über die Pythagoräer, die Führer der Mathematik, die im All die Zahl für das einzige Wirkliche hielten? In allem Sichtbaren ist die Zahl und das Zahlenverhältnis die Essenz oder das eigentliche Wesen und alles Ephemere, ob Körper, ob Ton, ja, die Menschenseele selbst nur dazu da, es in sich darzustellen. Nur der Rechner allein ist der Wissende. Auch Plato war 128 großer Mathematiker, und in seiner Dogmatik wirkte das mächtig nach.

 


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