Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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9. Philologie und rückschauende Studien

Der Entwicklung der Verhältnisse unter Roms Weltherrschaft, die in so mancher Hinsicht einem schlimmen Rückgang gleichkam, ist es zuzuschreiben, daß so vieles im Hellenismus Erworbene wieder verloren ging; so auch die Anatomie im Dienst der Heilkunde. Unverloren dagegen blieben die 213 Leistungen der Philologie, wenn wir nur auf das Wesentliche acht geben.

Es waren vor allem die Bibliotheksverwalter in Alexandrien, die, Schule bildend, durch etliche Generationen rastlos und mit Bienenfleiß das Bedeutsamste leisteten. Für die Bibliothek kauften die Ptolemäer selbst, vornehmlich der zweite, mit Gier alles an, was an Büchern irgend zu erreichen war. Aber erst jene Gelehrten haben die klassische Literatur eigentlich gerettet. Sappho, Pindar, Äschylus, Plato – wer nennt all die Namen? – wurden von ihnen durch Ordnung ihres Nachlasses und vor allem durch Neuausgabe in zeitgemäßer Buchform dem Publikum aufs neue zugänglich gemacht.

Man denke sich die Mühsal, die das bereitet hat. Zu Schiff kamen übers Meer von allen Seiten aus Privatbesitz die Epen und Dramen, Hymnen, Reden, Tierfabeln; alles durcheinander. So füllten sich am Hafen Alexandriens die Speicher zunächst mit wüsten Haufen. Name und Titel der Werke standen schwer lesbar auf dem Rücken der dicken Konvolute, die aufgerollt bisweilen 100 Fuß lang waren und oft aus mehreren aneinandergeklebten literarischen Werken bestanden. Dabei gab es viele Dubletten mit oft abweichendem Wortlaut. Vieles war auch zerbröckelt; denn ein benutzter Papyrus hält sich nicht lange. Preisen wir also die damalige junge Philologie für das, was sie geleistet!

Übrigens wurden auch fremdsprachige Werke herangezogen; man übersetzte sie ins Griechische. So ist vom Königshaus der Ptolemäer selbst im Interesse der großen Judenkolonie in ihrer Hauptstadt die für uns so wichtige Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, veranlaßt worden. Aber auch Fälschungen wurden gemacht; man schob Dichtern, von denen sich kein Nachlaß vorfand, selbstfabrizierte Tragödien unter, so auch dem Religionsstifter Zoroaster allerlei wüste Zauberbücher, ein Zeichen dafür, wie viel damals Zoroasters Name bedeutet hat.Unter Zoroasters Namen ging ein Buch über Edelsteine, d. h. über magische Steine, um (Suidas s. n.); aber gewiß viel mehr. Hermippus, der im 3. Jahrhundert lebte, referierte über die Schriften Zoroasters, deren Bücher 2 Millionen Zeilen enthielten (Plinius nat. hist. XXX 4). Das kann nicht Finte sein. Denn dies ist derselbe Hermippus, der damals auch das zuverlässigste Schriftenverzeichnis für Theophrast lieferte. Er behauptete übrigens, Zoroaster habe 5000 Jahre vor dem trojanischen Krieg gelebt. Solche Ansätze machte man zur Propaganda der persischen Glaubenslehre. Wie ausgedehnt damals die Literatur über persische Magie war, zeigt auch Diogenes Laertius, Proöm. 8 ff.

214 Wie herrlich war es nun, in die schönen Räume der neu erbauten Bibliothek einzutreten, wenn die Literatur endlich in den Schränken und Börtern verteilt lag! Man ordnete sie wie heute nach den Materien. Die Benutzer konnten dort in der großen Wandelhalle selbst studieren. Man las und schrieb nicht an Tischen; man schrieb auf der freien Hand. Das Licht fiel in der zweistöckigen Halle aus hohen Fenstern von oben. Musenbilder schmückten den Raum; der Fußboden wurde grün gehalten, für das Auge die günstigste Farbe.

Der Bücherraum selbst hatte gelegentlich eine umlaufende Wandfläche von 45 Metern. Aber nicht nur an den Wänden, auch in der Mitte des Raums gab es Büchergestelle, diese jedoch nicht höher als 6 Fuß. Man brauchte keine Leitern. Diener waren zur Hand; aber der Benutzer durfte auch selbst in den Büchersaal eintreten und fand sich leicht zurecht. Denn Bücherkataloge halfen; auch waren die Schränke numeriert, die Börter in »Nester« geteilt, die wohl gleichfalls Nummern trugen. Der Titel hing auf einem bunten Zettelchen auswärts am Buche.

So war der Bestand der Literatur gesichert; neue Abschriften in handlicher Buchform wurden in den Handel gegeben. Aber jene Gelehrten taten mehr; sie schufen rückschauend eine Literaturgeschichte, die sie aufbauten unter Zugrundelegung chronologischer Studien und mit sorglicher Unterscheidung der Literaturgattungen, für die sie die Fachausdrücke feststellten. Zugleich wurden mit großer Gelehrsamkeit die Texte erklärt, Echtes von Unechtem gesondert, und es entstanden Kommentare in Fülle, aus denen uns reiche und unentbehrliche Auszüge erhalten sind. Dabei schien auch das Geringste von Wichtigkeit, und man stellte fest, wie Sapphos Bruder hieß, wie einer der Tänzer hieß, den Äschylus benutzte,Athenäus p. 21 F. wie der Buchschreiber hieß, dem Thukydides sein Geschichtswerk diktierte,Athenäus p. 234 E. welche Parfüms die Königin Stratonike liebte u. a. m.Athenäus p. 689 A. Man sammelte seltene Wörter, und das Lexikon bereitete sich vor, sammelte auch Lehnwörter, 215 die aus dem Persischen stammten,Athenäus p. 122 A. sammelte die Benennungen der Trinkgefäße mit Belegen aus DichterstellenS. oben S. 117, Anm. "Auch A. Furtwängler bestreitet...". usf.

Philologie und kein Ende? So sei denn auch noch an die eigentliche Grammatik erinnert; denn von diesen Alexandrinern ist endlich auch nach vorbereitenden Debatten über Analogie und Anomalie der Formgebungen die erste Schulgrammatik ausgearbeitet worden,Es ist die τέχνη des Dionysius Thrax, mit den Scholien. ein Lernbuch für den, der nicht griechisch konnte. Aber auch der Grieche lernte seine eigene Sprache aus der Grammatik erst recht verstehen. Dies wurde das bescheidene Musterbuch für alle Schulgrammatiken bis heute.

Alles das war Kulturarbeit, aber es war nur retrospektiv, und es erhellt leicht, was das für die Geistesgeschichte bedeutet. Die Welt ist altklug geworden. Man fragt nicht mehr nach Zukunft; es handelt sich nur um das Gewesene. Man zieht die Summe des Geleisteten. Der Jugendquell ist ausgetrocknet. Dies fühlte man, und ein Strich wird gemacht. Die Entwicklung ist abgeschlossen. Denn für alle Literaturgattungen, die denkbar schienen, waren jetzt Musterbeispiele vorhanden. Man bestimmt, welche Redner, welche Tragiker als klassisch gelten sollen; eine Fortsetzung des Epos wird geradezu verpönt. Die Produktion großen Stils war tatsächlich erschöpft, und es schien das beste, die herrlichen Gaben der Vergangenheit genau zu kennen und lebendig zu erhalten. Man hielt darauf, den alten Hesiod, Mimnermus, sogar Empedokles mit Musik vor großem Publikum neu zu Gehör zu bringen.Athenäus p. 620 C ff. Es ging so, wie bei uns. Seit von uns Goethe und Schiller philologisch verarbeitet werden, gibt es nicht ihresgleichen mehr. Das Epigonentum reckt und spreizt sich vergebens.

Daher auch die Wut des Zitierens. Sentenzen aus den Klassikern anzuführen wurde damals bei den Schriftstellern zur Manier, oft bis zum Unleidlichen;Vgl. z. B. den Machon, der den Euripides ausschreibt (Athen. p. 578 D). Dies war auch das Laster des Philosophen Chrysipp u. a., und es geht bei den Römern weiter, auch bei Plutarch u. a. man spickte seine kargen Elaborate damit. Je unfähiger man ist, selbst 216 Gedanken treffend zu formulieren, je mehr zitiert man andre und hat außerdem den Glorienschein köstlicher Belesenheit. Was aber nützt der Schein, wenn man nicht selber leuchtet?

Ich könnte noch fortfahren. Nicht nur Literaturgeschichte gab's; von berufener Seite wurde auch eine Künstlergeschichte ausgearbeitet; auch eine Geschichte der Hetären.Machon in Trimetern. Für die Künstlergeschichte ergab sich der entwicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt von selbst; aber es standen in diesen Büchern auch all die netten Anekdoten wie vom Pferd, das wiehert, wenn es sich gemalt sieht, von den Vögeln, die an den gemalten Trauben pickten, oder vom Maler Apelles, der den Rivalen Protogenes in seinem Atelier auf Rhodos besucht. Er kommt. Der Genannte ist nicht zu Hause. Da zieht Apelles auf einer Tafel mit dem Pinsel nur eine feine Linie und geht fort. An ihr wird Protogenes gleich erkennen, daß kein Geringerer als Apelles gekommen war. Das trifft zu; aber Protogenes zieht mit anderer Farbe eine noch feinere Linie über die vorige, verschwindet und denkt: daran soll Apelles erkennen, wer ich bin. Apelles tritt wieder ein, bewundert, was er sieht, aber zieht noch seiner eine dritte Linie, die die vorigen durchquert; da erklärt sich Protogenes für besiegt; aus den Rivalen werden Freunde; die Tafel aber wurde in memoriam von der Künstlerschaft noch lange Zeiten aufbewahrt.

Zu dem allen kam, noch wichtiger, eine Geschichte der Philosophen.Hierfür ist Theophrast Hauptname, aber auch Sotion, der die Diadochie der Philosophenschulen herstellte. Die Kontinuität im Entstehen der philosophischen Systeme sollte sich aus ihr ergeben. Die Hauptlehrsätze der Denker von Thales bis zur Stoa wurden dabei aufnotiert, und wer das las, brauchte nun den alten Empedokles oder Heraklit gar nicht mehr in die Hand zu nehmen, so wie man heut über Hume oder Leibniz hinlänglich Bescheid zu wissen glaubt, ohne ihre Schriften selbst zu lesen.

Endlich aber häuften sich jetzt auch die technischen Lehrschriften, nicht nur über Bergbau, über Gartenbau, über Kochkunst,Über Bergbau in Indien schrieb Gorgos; er tat es offenbar im Interesse der Geldwirtschaft der Seleuciden oder der Ptolemäer; denn es handelte sich um die indischen Gold- und Silbergruben. sondern auch die bildenden Künstler ließen sich herab, fachmännisch über ihr Handwerk zu schreiben.Dies taten sowohl Apelles wie Protogenes, beide in drei Büchern; aber auch Xenokrates und Melanthios (Diog. Laert. IV 18). Wir läsen 217 es gern; aber der Untergang hat nur allzuviel Schriftwerke des hellenistischen Zeitalters betroffen. Vor allem war es Aristoteles, der schon vorher rückschauend eine Theorie der Dichtkunst zu geben versuchte. Es ist die berühmte Poetik, die bei unsren Bühnendichtern lange Zeit als geradezu biblische Autorität gegolten hat. Sie liegt uns nur in verkürztem Zustand vor. Zweifellos steht vieles überaus Kluge und Wertvolle darin, was dauernde Geltung hat und behalten wird. Seine Lehrsätze über das ernste Drama belegte Aristoteles mit Beispielen; aber er benutzte dabei von der vorliegenden dramatischen Literatur nur, was ihm paßte, und sein Regelzwang engte die Freiheit der Dichter ungebührlich ein. Er war eben selbst kein Dramatiker, sondern nur Theoretiker und Laie.Des Aristoteles Poetik eingehender zu behandeln ist mein Plan. Es würde dann, was hier nur kurz angedeutet worden ist, seine Begründung finden. Man denke nur an die Forderung, daß die Handlung jedes Stücks sich an einem Tag abspielen müsse. Welche Not das der französischen tragischen Bühne bereitet hat, weiß jeder heut aus Lessings Dramaturgie. Zum Glück gab es schon im Altertum Poeten, die das fröhlich in den Wind schlugen.So geschehen z. B. in des Plautus Captivi. Zu einer Neubelebung des tragischen Spiels hat des Aristoteles Poetik im Altertum wenig oder nichts beigetragen.Die alexandrinische »Plejade« ging augenscheinlich ihre eigenen Wege und war schwerlich von Aristoteles beeinflußt. Ihre Existenz war ein Zeichen des Absterbens. Die Theorie, wenn kein Fachmann sie gibt, tötet eher, als daß sie befruchtet.

 


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