Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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Die Zeit der Demokratien

1. Das Primitive

Das Volksleben tritt nunmehr aus der Sage in die Geschichte. Es glich bisher dem starken Bergwasser in der Wildnis, das, von Wäldern überschattet und zugedeckt, in tiefer Schlucht dahinstrudelt, und ein Regenbogen steht flatternd über ihm im perlenden Wasserdunst.

Jetzt tritt der Strom ins offene Feld der Geschichte hinaus, der Weltgeschichte, die bis heute reicht; denn wir setzen heute nur fort, was damals seinen Anfang nahm: geschriebene Geschichte. Die ersten historischen Namen klingen an: Hesiod, Drako, Solon, Periander, die Sprüche der sieben Weisen, die wie ein Motto wirken; so das berühmte medén ágan, »meide das Zuviel«, das Warnwort, das freilich ganz vergeblich gesprochen wurde. Denn ein Treiben regte sich jetzt im Volk, das vor keinem Übertreiben zurückschreckte: wuchernd schöpferisches Leben, und tausend Stimmen werden laut. Eine Entwicklung aus dem Primitiven, von Leidenschaft getragen. Die Leidenschaft aber ist nicht schöpferisch ohne Intelligenz.

In der Tat, wir sehen es erst jetzt mit aller Deutlichkeit: dies Volk der höchsten geistigen und künstlerischen Potenzen war zugleich immer noch ein Naturvolk, das blindlings und froh seinen Instinkten folgte, als wäre es erst eben geschaffen. Es war aufs tiefste in der Sinnlichkeit verwurzelt. Sinnengier. Daraus sog es immer wieder seine Kräfte in Unerschöpflichkeit.

Mit dem Sexuellen ist zu beginnen. Begattung ist der Urtrieb und heiliger Schöpfungsakt; das Natürliche der Grund aller Dinge, die Scham unter den Männern daher sinnlos, das Feigenblatt eine Albernheit, die Zeugung das große Wunder, das alltägliche, doch göttliche, an dem alles Leben aller Zeiten hängt; und der Mensch selbst vollführt es. Daher der Phallus, das Glied des Mannes, heilig gehaltenes 61 Symbol. In der Prozession wird sein Abbild in starrer Größe einhergetragen und mit Gesang begrüßt, verkleinert als Amulett und Abwehr gegen Behexung an den Ecksteinen am Weg angebracht; schon die Kindlein müssen es tragen. Das Brot wird in dieser Form gebacken.S. H. Blümner, Technologie und Terminologie usf. I² S. 87. So nahmen auch die Lämpchen die phallische Form an; s. »Die Buchrolle in der Kunst« S. 161 Abb. 94. Auch das freche Lustspiel trieb auf der Bühne damit noch obligat sein Spiel.

So war es, wennschon man sich gewöhnt hatte, beim Baden den Schamgürtel zu tragen,Der Schamgürtel heißt ὤα. Vgl. auch Theopomp com. frg. 37. und in der Palästra, wo die Männer nackt turnten, die Weiber nicht zuschauen durften. Auch bei jenen Lustspielen, so scheint es, war den Frauen das Theater verschlossen. Uns wird erzählt, wie einmal eine Mutter, um ihres Sohnes Sportleistungen zu sehen, sich als Mann verkleidet ins Publikum drängte. Sie wurde ertappt. Es war ein unerhörtes Ereignis.Pausanias V 6, 5.

So nun aber auch die unverblümteste Naturwüchsigkeit in den Gesprächen. Unter Männern wird jedes Ding grotesk bei Namen genannt, und der Witz übt sich in raffinierten Zweideutigkeiten.Des Aristophanes Komödie lebt davon; vgl. z. B. auch das doppeldeutige τίλλειν μέλη bei Kratinos frg. 250. Das Tier im Menschen findet eine Sprache. Ohne Obszönität kein Leben. Nicht anders halten es die Frauen, wenn sie unter sich sind. Wir sehen, wie in der Posse die Göttin Venus selbst auf die Bühne tritt und da siegreich die für uns unanständigsten Reden führt.Plato com. frg. 974. Der Dichter war seines Erfolges sicher.

So war denn auch das Bordellwesen derselben Göttin Venus – griechisch Aphrodite – unterstellt. An ihr Heiligtum ist das Bordell angeschlossen. Die zahlreichen Tempelsklavinnen, Hierodulen genannt, stehen für die Nacht bereit, und der Benutzer zahlt dafür in die Tempelkasse. Aber auch sonst gab es allerorts unter staatlicher Aufsicht Freudenhäuser. Kasernierung der Prostitution. Inhaber waren die Kuppler, die schon die Kinder zu dem Zweck aufkauften und großzogen. Es verlohnt, diese Verhältnisse zu kennen; denn sie waren damals allem Anschein nach viel günstiger als in manchen unsrer modernen Großstädte geregelt. Damals suchte man die Dirnen auf; heute kommen sie selbst und überfallen 62 die Passanten frech auf offener Straße, und die ganze Stadt wird zum Bordell.

Aber auch das päderastische Treiben ging auffällig nebenher, der perverse Naturtrieb. Begreiflich ist, daß er in den Ländern des Südens, wo die Frauen so früh welken, rücksichtsloser und offener zutage tritt als bei uns. So erhob denn damals sogar die Dichtkunst ihre Stimme, und Liebesdichter wie Anakreon finden für den schönen Knaben die schmelzendsten Töne. Eros, der halbwüchsige Liebesgott, wird der Patron und Schützer dieser Erotik, die in gewissen Städten geradezu konzessioniert war. Man stellte sie in den Dienst des Erziehungswesens.Das betrifft Sparta und Theben; vgl. übrigens »Von Homer bis Sokrates« S. 110. Auf alle Fälle aber gab es hier scharfgezogene Grenzen; der berufsmäßige Buhlknabe war so verrufen wie der gräßliche Cinäde, »Knabenschänder« das vernichtendste Schimpfwort,καταπύγων z. B. Aristoph. Vesp. 84. und selbst in den Komödien und Possen der Bühne, die sonst in den gröbsten Anstößigkeiten arglos ihren Effekt suchten, sind meines Wissens homosexuelle Liebeleien nie vorgeführt worden.Bei Aristophanes werden nur Aves 141 solche Gelüste vorgetragen, aber getadelt.

Kein Künstler und Dichter ohne gesunde Sinnlichkeit. Aber auch in ihrem Aberglauben verrät sich uns die schöpferische Phantasie, das sinnfällige Denken der Primitiven.

Das Wunder, heißt es, ist des Glaubens liebstes Kind. So ist der Aberglaube das Kind der völligen Unwissenheit in Naturdingen. Kindlich oder kindisch nennen wir ihn; aber unausrottbar und vielgestaltig behauptet er sich in den Volksmassen. So auch bei den Griechen. Man glaubte an die hohen olympischen Götter; neben ihnen aber gab es die mächtige Hexe Hekate, die Glück oder Unglück ins Haus bringt und als dreiköpfige Figur vor jeder Haustür stand; den Hund opferte man ihr; als Hund ging sie auch selber um.Aristophan. frg. 594. Unheimlich das Wirken der Zauberinnen, die bei Nacht den Mond vom Himmel herabziehen und Zaubermittel auf die Schwelle streichen, um den Geliebten zu behexen. Aber auch die blöden Wahrsager fanden Gläubige, die in den Gassen herumlungerten, und machten die besten Geschäfte. Denn das 63 Unheil lauert auf uns, und man muß sich vorsehen. Der böse Blick ist gefürchtet, schon das bloße Niesen ominös.S. Berl. Philol. Wochenschrift 1919 S. 573 ff. Man spuckt sich in den Gewandbusen, wenn man einen Irrsinnigen sieht. Jeder wußte, es gibt Glückstage und Unglückstage, die weißen und die schwarzen,Eupolis frg. 174. In den Busen spucken: Theophrast Charakter 16. und man muß sie beachten. Ins Haus darf man nur treten, wenn man den rechten Fuß voransetzt. Sodann die Toten. Sie sind nicht etwa bewußtlose und kraftlose Schatten, wie Homer es lehrte; vielmehr leben sie gespenstisch weiter, ihrer Grabstätte nahe, geben acht, beneiden die Lebendigen und töten und würgen, wenn man sie nicht sättigt. Auch Totenorakel gibt es, und man kann die Abgeschiedenen leibhaftig zitieren, befragen, und sie geben Antwort. Sogar in Statuen steckt der Dämon. Jemand peitscht die wehrlose Statue seines Feindes, der glücklich gestorben ist; die Statue wirft sich rächend über ihn und erschlägt den Mann.Dio von Prusa 31, 96. Wer Schätze sucht, geht mit der Wünschelrute um; ein Gott steckt darin. Der Wirbelsturm fegt um das Haus, und man erzählt sich am Herd grausige Geschichten wie die vom Zauberlehrling: ein Zauberwort genügt, um den Besen, der das Zimmer fegt, zu spalten, und aus einem Besen werden viele, die da laufen und Wasser holen. Wehe dem, der das andere Zauberwort nicht weiß, das sie wieder zusammentreibt; die Überschwemmung ist da. Oder die Geschichte vom Werwolf, vom Menschen, der sich in den Wolf verwandelt und mörderisch umgeht. Das Haar sträubt sich vor Entsetzen.Petron c. 62. Markellos Sidetes handelte in seinen Ἰατρικά περὶ λυκανϑρώπου (Suidas). Auf gleichem Boden stehen solche Wundergeschichten wie die von Apoll, der Delphi vor Xerxes rettet (Herodot VIII 36 f.). Die alten Großmütter und die Ammen lieben solche Fabeln; sie schrecken schon die kleinen Kinder: »sei artig, oder die böse Mormo, nein, die Empuse kommt bei Nacht und frißt dich.« Das ging bis in die höchsten Kreise.

Welche Unkultur! Wozu hatte Homer gedichtet? Waren diese Griechen besser als die Wilden und die Szythen? Homers abgeklärte Welt hat in der Tat kulturerziehend erst eingewirkt, als in den Städten das Schulwesen begann; d. h. Aufgabe der Schule war es, die Sitten zu veredeln, die 64 Sinne zu reinigen, den Aberglauben zu überwinden. Durch Aufklärung mußte es geschehen und Vergeistigung der Frömmigkeit.

Homers freie Götterlehre war eigentlich nicht für das Volk. Vielmehr nahm sich der Staat des Religionslebens an und regulierte gewisse Gottesdienste für seine Zwecke. Gleichzeitig aber drang auch aus der Fremde, vom barbarischen Thrazien her, eine neue Lehre zu den Griechen. Es war eine werbende Religion, der Bacchusdienst. Dionys, der jungstarke Gott des Sterbens und Auferstehens, ergriff vielerorts die Geister orgiastisch. Seine Mänadenschwärme tosen wie wilde Tiere über die Berge mit Pauken und Flötenschall. Aber auch wo solche Bacchanalien nicht walten, bringt dieser neue Gott süßen Rausch, bringt er Beseligung, Enthusiasmus und Geistesfülle.Der Musiker, der nur Wasser trinkt, wird z. B. verhöhnt bei Phrynichos com. frg. 69. Das war etwas Großes. Aber noch mehr. Aus demselben Thrazien kam die orphische Lehre, die das Jenseits lichtet und in die Hölle der Schrecken das Elysium fügte. Orpheus ist der sagenhafte Verkünder der ewigen Seligkeit für die Guten. Die Erlesenen nehmen seine heiligen Weihen. Die Mystik durchschauert ahnungsvoll die Seele; das Gefühlsleben ist unendlich bereichert. Ein gesteigertes Griechentum konnte entstehen, das nach neuer Schönheit ringt und neuer Wahrheit.

Orpheus

Orpheus

von einem attischen Krater aus Gela im Berliner Museum (Nr. 3172), um 460 v. Chr. Nach 50. Berliner Winckelmannsprogramm 1890, Tafel 1.

 


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