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Literarische Zukunftsfragen Deutschösterreichs

Rasch nacheinander haben uns die zwei ältesten, anerkanntesten Stimmführer der deutschösterreichischen Dichtung verlassen; am 16. März 1916 starb Marie von Ebner-Eschenbach, und um Sonnenwende 1918 wurde Rosegger zu Grabe getragen. So blieb beiden erspart, mit eigenen Augen die Vernichtung des Kaiserstaates zu schauen, in dem ihr Leben und Schaffen wurzelte und an dessen Zukunft sie bis an das Ende ihrer Tage nie zweifelten. In dem letzten Buch, das der steirische Dichter druckreif hinterließ – »Abenddämmerung. Rückblicke auf den Schauplatz des Lebens von Peter Rosegger.« (Staackmann, Leipzig 1919.) – steht sein 1916 geschriebener Nachruf »Franz Josef, der Getreue«. »Bauernblut ist patriarchalisch,« so schreibt der Volksmann, der nie nach Fürstengunst fragte, »und so habe ich bei den jeweiligen Schicksalen unserer Monarchie stets weniger an Minister, Reichsrat und Reich gedacht, als an die Person des Kaisers. Wenn es schlechterdings manchmal zum Verzweifeln war – das Vertrauen zum Kaiser hat uns beruhigt und wieder ermutigt … Wenn man sagen wollte, daß Franz Josef I., der achtundsechzig Jahre lang regierte und trotz verhängnisvollster Zeiten das alte Österreich zu einem modernen Staat gemacht hat, im Lande populär gewesen sei, so wäre das gewiß nicht das rechte Wort. Unser Kaiser war nicht populär, so wenig als man von einem Familienvater sagen kann, er sei populär. Unser Kaiser war geliebt … Das Schwerste, was Menschen auferlegt werden kann, ihm war es geworden, und trotzdem war er aufrecht und des Reiches größter Optimist geblieben. Wenn Österreich dieses hochgemute Vorbild nicht gehabt hätte, was wäre längst aus ihm geworden! Es wurde nicht widersprochen, als jener Redner ausrief: Österreich-Ungarn, dein eigentlicher Name heißt Franz Josef!«

Nicht anders als der Waldbauernbub aus Alpl dachte die mährische Grafentochter aus Zdislavic. Ihr Vater Dubsky hatte in den napoleonischen Kriegen mitgefochten und war als Major aus der Armee getreten. Ihr Gatte, Feldmarschalleutnant Moriz v. Ebner-Eschenbach, war einer der tüchtigsten und gelehrtesten Kenner des heimischen und ausländischen Heerwesens, gekannt und geschätzt von den Besten, obenan Tegetthoff, als Neuerer und Erfinder auf dem Gebiet der Waffentechnik. Vorzeitig und mit schnödem Undank beiseite geschoben, weil er, unbekümmert um eitle, mittelmäßige Vorgesetzte, freimütig Verbesserungen gefordert hatte, blieb er bis zum letzten Atemzug dauernd eines Sinnes mit Grillparzers Dichtergruß an Radetzky: In deinem Lager ist Österreich. Und eine weitere, und zwar die stärkste Klammer des Kaiserstaates sah er in der Dynastie, auch darin eines Glaubens mit Grillparzer, der seinem Rudolf II. im »Bruderzwist in Habsburg« seine eigenste Überzeugung von der Bedeutung des Regenten auf die Lippen legt: »Ich bin das Band, das diese Garbe hält, unfruchtbar selbst, doch nötig, weil es bindet.« Heer und Herrscherhaus verbürgten auch Marie Ebner Bestand und Einheit des Reiches. Wie Rosegger und ihr Gatte bekannte auch sie sich zeitlebens zum josefinischen Staatsprogramm, zu einem Großösterreich unter deutscher unparteiischer Führung seiner zahlreichen Stämme, wie das wiederum Grillparzer dichterisch unübertrefflich gefaßt hat:

Und über meiner Völker vieler Zungen
Flog hin des deutschen Adlers Sonnenflug;
Er hielt, was fremd, mit leisem Vand umschlungen.
Vereinend, was sich töricht selbst genug.

In diesem Geist hätten Herrscher und Staatsmänner das Erbe Maria Theresias hüten, das Testament Kaiser Josefs erfüllen sollen. So dachten auch umsichtigere Absolutisten im Vormärz: die deutsche Sprache, so sagte der Direktor des Wiener Polizeidepartements 1816 zum Buchhändler Friedrich Perthes, soll den Völkern der Monarchie nicht aufgedrungen werden, aber als Hauptaufgabe haben sich die höchsten Stellen gesetzt, in allen Teilen des Reiches deutsche Bildung, also auch deutsche Literatur, zu verbreiten. Welchen Widerständen dieser Plan durch die Engherzigkeit, Härte, Kälte von Kaiser Franz und das System des »Don Quichotte der Legitimität« begegnete, hat Grillparzer als Warner und Satiriker in seiner politischen Meisterstudie über Metternich mit dem Zorn der Liebe in Dramen und Epigrammen der Mit- und Nachwelt vor Augen gestellt. Was unter dem schwachsinnigen Ferdinand dem Gütigen das schlaffe Greisenregiment durch Mißgriffe und Mißbräuche verschuldete, haben lange vor Anton Springers denkwürdigem Geschichtswerk die edelsten Patrioten Lenau, Grün, Bauernfeld, Moritz Hartmann in tapferen Rügeliedern angefochten. Und was nach der Achtundvierzigerrevolution durch Konkordat, Zensur, Säbelherrschaft verdorben wurde, haben mutige Publizisten, allen voran Kürnberger, kühn zur Sprache gebracht. Am tiefsten blickte Ludwig Anzengruber in die Schäden und Schwächen der Zeit; in der Vorrede zu seinen »Dorfgängen« macht er kein Hehl aus seiner Unzufriedenheit mit aller irdischen und himmlischen Straßenpolizei, und in seinem ungedruckten, bis zum jüngsten Umsturz schwerlich vor dem Staatsanwalt sicheren Nachlaß lautet ein Satz: »Wenn auch nicht unsere Diplomaten, so sind doch unsere Gelehrten darüber einig, daß nach dem ›kranken Mann‹ die ›kranke Madam‹ Austria in Behandlung käme« – daß unser armes, geliebtes Österreich noch vor der Türkei ganz in Trümmer geschlagen werden könnte, hat nicht einmal dieser Pessimist geahnt.

Der wilde Ingrimm Anzengrubers war Marie Ebner und Rosegger fremd, so herzlich sie den Dichter des »Pfarrers von Kirchfeld« zeitlebens verehrten. Schönfärberei trieben sie darum noch lange nicht. Die barbarische Grausamkeit der alten Adelswirtschaft hat Marie Ebner in einer ihrer größten Schöpfungen »Er läßt die Hand küssen« nicht minder schonungslos gezüchtigt wie die Verlotterung des neuen Plebejerregiments im »Gemeindekind«. Und die herzlose Preisgebung des Bauernstandes hat Rosegger in »Jakob dem Letzten« so gewissenaufrüttelnd zur Sprache gebracht wie die Seelennot der Landgeistlichkeit im »Ewigen Licht«. So fern von aller Wehleidigkeit sie die Wirklichkeit aber auch zeigten: am Ausgang wie am Eingang ihrer Laufbahn wollten sie nichts wissen von der Lazarettpoesie, die Goethe verwarf im Gegensatz der von ihm so getauften »tyrtäischen Poesie, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen«. Hätten sie solchen Mut auch angesichts der jüngsten Wandlungen behauptet? Als Grillparzer durch den Sechsundsechzigerkrieg mit seinem Großösterreichertum ins Herz getroffen wurde, sagte er sich zum Troste: »Als Deutscher ward ich geboren, bin ich noch einer? Nur was ich Deutsches geschrieben, nimmt mir keiner.« Und als kurz vor seinem Tode die Tschechen den verwegenen Vorstoß ihrer Fundamentalartikel machten, schrieb er sein letztes Epigramm: »Marchfeld! So ist dein Sieg nicht wahr aus unseres Herrscherhauses frühsten Tagen, König Przemysl Ottokar hat den Rudolf von Habsburg geschlagen.« Seine Hohnrede wird bei dem nachwachsenden Geschlecht schmerzlichen Widerhall wecken. Ohne Sehergabe läßt sich voraussagen, daß Weltkrieg und Gewaltfrieden in der Literatur ihren Niederschlag finden werden in Weltsatiren und Rebellendichtungen, in Sittenschilderungen, wie sie der Dreißigjährige Krieg in Grimmelshausen simplizianischen Schriften gezeitigt hat. Ob, wann und wo ein großer Unbekannter erstehen wird, der nicht nur solche Beichtspiegel der Vergangenheit aufstellen, sondern die gemarterte Menschheit, wie der in der Schlacht von Lepanto zum Krüppel geschossene Cervantes, durch ungeahnte Phantasiestücke befreien und durch Welthumor erquicken wird, weiß allerdings zur Stunde kein Sterblicher zu sagen.

Sind Marie Ebner und Rosegger aber auch verstummt, so ist doch dafür gesorgt, daß die stärksten Begabungen Deutschösterreichs in ihrem Sinne weiterwirken: Talente, die beide mit seltener Neidlosigkeit bei Lebzeiten als ihresgleichen und, überbescheiden, allmählich als überlegen anerkannt haben. So pries Marie Ebner in ihren (von Johannes Mumbauer in dem Büchlein »Der Dichterinnen stiller Garten« 1918 veröffentlichten) Briefen an Enrica Handel-Mazzetti die Dichterin von »Meinrad Helmperger«, »Jesse und Maria«, »Arme Margreth,«, »Deutsches Recht«, »Stefana Schwertner« überschwenglich. »Bitte, teuerstes Kind, lobe mir mein armseliges Bändchen (›Die unbesiegbare Macht‹) nicht. Du ahnst nicht, wie leidvoll Du mich damit beschämst. Wir müssen Dir ja vorkommen wie magere Flöhe, wie Anekdotenerzähler, im Vergleich zu dem grandiosen Reichtum, den Du in Deinen Büchern entfaltest.« »Du bist die Zukunft«, sagte sie ihr 1906. »Ich bin Dir gegenüber keine Meisterin,« schreibt sie 1909, »Du nicht meine Schülerin. Vielmehr würde ich die Deine, wenn ich nicht so alt wäre. Dich erreichen könnt' ich aber nie, ich habe nicht Deine Macht.« Aus überreichen, ähnlichen Proben ausgehoben, wären diese brieflichen Zeugnisse ausgiebig zu ergänzen durch mündliche Äußerungen der Ebner, die sich im Freundeskreis nicht genug tun konnte, die jüngere Erzählerin auf ihre eigenen Kosten mit solcher Selbstverkennung zu verherrlichen, daß die Billigkeit ehrlichen Einspruch zur Pflicht machte.

Ein herzstärkendes Gegenstück zur begeisterten Parteinahme der Ebner für Enrica Handel-Mazzetti ist Roseggers aus dem Jahre 1911 stammende Würdigung Karl Schönherrs (in dem Nachlaßband »Abenddämmerung«). Anfangs der Neunzigerjahre hatte der Herausgeber der »Presse«, Z. K. Lecher, ein verdienter, in Vorarlberg geborener Wiener Zeitungsmann, dem Steirer einen jungen Tiroler empfohlen, einen studierten Mediziner, der sich nach Lechers Ansicht indessen in der menschlichen Seele besser auszurennen scheine als in dem menschlichen Körper. Dem Herausgeber des »Heimgarten« gefiel an dem Empfohlenen schon der Name. Im 16. Jahrhundert hatte eine Anna Rosegger aus Krieglach-Alpl in Steiermark einen Andreas Schönherr geheiratet und war mit ihm fortgezogen. »Es wäre mir kein geringer Stolz, zwischen dem Dichter Karl Schönherr und mir eine bisher urkundlich nicht zu erforschende ›Familienverwandtschaft‹ nachzuweisen.« Seelenverwandt fühlte sich der Steirer dem Tiroler von Anfang. In dessen allerersten tragischen und bummelwitzigen Skizzen trat ihm »ein Kenner des alpinen Volkstums« entgegen. »Nicht ein Stadtmensch, der Bauerngeschichten schreibt, sondern ein Berglandblut, das aus sich selbst schöpft. Ein Geber und Herrscher, ein Bauernaristokrat, wie sie besonders noch im Tirolerland wachsen.« Liebreich begleitete Rosegger den, dem Wesen des Älplers getreu bedächtig, scheinbar langsam, steten, beständig aufwärts führenden Anstieg des Schulmeistersohnes aus Axams. Die ersten Schnurren und Dialektgedichte, die »Marterln abgestürzter Bergsteiger«, die »Innthaler Schnalzer«, die holzschnittartigen »Kreuzköpf« hieß Rosegger mit Kennerblick so freudig willkommen, wie die dramatischen Erstlinge »Bildschnitzer«, »Sonnwendtag«, »Karrnerleut«. Sein Innerstes labte sich an Schönherrs »Erde«. Die dämonische Gestalt des alten Grutz, des mit seinem Grund und Boden fast buchstäblich verwachsenen zähen Bauers, der durch seinen Willen zum Leben der schwersten Krankheit trotzt und, wie in der Umkehrung des Totentanzes, obzwar ihm schon der Sarg angemessen wurde, dem Knochenmann den Hals umdreht und, scheinbar unsterblich, zur Enttäuschung seines Leibeserben völlig genesen, für unabsehbare Zeiten weiter als unumschränkter Herr seines Stückes »Erde« Siechtum, Tod, Alt und Jung niederlebt, hielt ich von Anfang für eine dauernde Bereicherung der Typen nicht bloß unserer deutschen Dichtung. Die Gewalt dieser genial geschauten und geschaffenen Figur mußte Rosegger, der unablässig Festhalten am ererbten Bauerngut, und mehr noch Flucht der Städter zur Natur, Landarbeit als Heilmittel für ungezählte Leiden predigt, packen. Schönherr bereitete dem enthusiastischen Anhänger noch größere Genüsse. In »Erde« hatte der Tiroler gezeigt, »wie eisenfest echtes Bauernblut sich an die Scholle schweißt. Nur eines kann noch stärker sein, als der Heimhang – der Glaube«. Menschlich und künstlerisch wurde Schönherrs »Glaube und Heimat« für den Gottsucher Rosegger eine Offenbarung. Seine hymnische Würdigung dieser Schöpfung beschließt seine gedruckten, nicht seine brieflichen und mündlichen Urteile über Schönherrs Arbeiten. »Der Weibsteufel« mißfiel ihm als zu grell: für die technische Meisterschaft dieses nur unter drei Personen spielenden Gegenstückes zu Mérimées »Carmen« hatte er wenig, zu wenig übrig. Die tiefe Begründung, die naturnotwendige Ausartung einer ursprünglich reinen, von geheimster Muttersehnsucht erfüllten Frauenseele durch die Niedrigkeit eines Mannes, der sie nur als Lockvogel ansieht, und die Roheit der Landjäger, die sie wie eine Buhlerin kirre machen wollen, leuchtete Rosegger nicht ein. Desto bewunderungswürdiger erschien ihm »Volk in Not«, das deutsche Heldenlied, das, Jahre und Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges begonnen, Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nach dem Weltkrieg fortdauern wird. Zum hundertsten Gedenktag der Schlacht am Berg Isel hatte Schönherr nur eine Skizze »Tiroler Bauern von 1809« veröffentlicht, die sachkundigen Lesern, Schlenther, Alfred Berger u. s. w., den Wunsch erweckte, das mit wenigen Meisterstrichen einen ganzen Menschenschlag festhaltende Bild aus dem gedruckten Blatt auf die Bühne zu stellen, deren richtigen Hintergrund freilich nur das leibhaftige Hochgebirge seiner Heimat abgeben könnte. Trotz aller Versuche wohlwollender Dramaturgen blieb die Szene unausgeführt, bis Schönherr den »Tiroler Bauern im Jahr 1809« zwei weitere Bilder gesellte: das zuerst gedichtete, die Schlacht am Berg Isel, wurde das Mittelstück eines Triptychons, dessen erstes der Auszug, dessen letztes die Heimkehr der Sieger wurde. Rosegger hatte Jahrzehnte zuvor Peter Mayr, den Wirt an der Mahr, zum Träger einer Erzählung gemacht, die Luise v. François den besten deutschen Volksroman nannte. Menschen und Zeiten des Tiroler Freiheitskrieges waren Rosegger wohlvertraut. Eben darum erkannte und anerkannte er, daß Karl Schönherr ein Wurf geglückt war, der keinem früheren Dichter von Hofer-Stücken gelungen war, wie Leute vom Bau glaubten, durch die unheilbare Zwiespältigkeit des Stoffes gelingen konnte. Rührend, nicht erhebend, nannte Hebbel in seiner Kritik von Gärtners Andreas Hofer die Naivetät, die in dem Mann des Jahrtausends nichts als eine Art Großmörder erblickt. Noch schlimmer fertigte Johann Peter Hebel im Rheinländischen Hausfreund den Sandwirt als »Tollkopf« ab, der »großes Unglück verursachte durch seine Hartnäckigkeit gegen alle Einladungen zum Frieden und durch seine – Treulosigkeit«. Solches Unrecht gegen Hofer läßt sich D. F. Strauß nicht zu schulden kommen in seiner Ablehnung von Immermanns »Trauerspiel in Tirol«: »Der Grundfehler liegt in dem Stoffe. Der Tiroler Aufstand ist ein für sich unverständliches Geschichtsfragment. Seine Helden übersehen nicht den Zusammenhang des Handelns, in den sie eingreifen, sie tragen mithin auch nicht in sich ihr Schicksal, das sich vielmehr außerhalb ihres Kreises entscheidet und sie von außen erdrückt.« Rur aus künstlerischen, triftigen Gründen tadelte Gottfried Keller in einem Brief an Hettner Berthold Auerbachs Andree Hofer.

Schönherr widerlegte all diese Einwendungen (die er vermutlich nicht viel besser kannte als die früheren Hofer-Dramen) durch die Tat. Er machte die Massen selbst zum Helden. Und da er seine Tiroler, Männer, Weiber, Alte, Junge, in allen Spielarten als Dichter ebenso zu behandeln weiß wie das Andreas Hofer als ihr Kommandant verstand, gab er künstlerisch ein Beispiel, das ebenso unverloren bleiben wird, wie Leben und Sterben des Sandwirts. Zwei Jahre vor Ausgang des Krieges hat Schönherr sein Heldenlied gesungen, in dem kein prahlerisches Wort und keine Verdunklung der Wahrheit vorkommt. Im dritten Bild, nach meinem Empfinden der Krone des Werkes, hat er das Leid der Heimkehrer, alle Bitternis der Zuhausegebliebenen, Mutterschmerz und Wutausbrüche ihrer Söhne und Männer Beraubter so unbeugsam aufrichtig sich aussprechen lassen, daß die Wiener und Berliner Bühnen unter unwürdigen Ausflüchten »Volk in Not« von den Brettern über Jahr und Tag fernhielten: eine Versündigung, die durch die Tatkraft entschlossener, opferwilliger Wiener Kunstfreunde zu nichte wurde. Wie sehr die Bühnenleiter und die hinter ihnen stehenden höfischen und soldatischen Ämter den vaterländischen Sinn des Werkes verkannten; welche Trostgedanken Schönherrs äußerlich besiegter Sandwirt durch seine Haltung, sein unwandelbares Vertrauen auf den Nachwuchs verkündigt; wie sinnbildlich sein Gang durch die mondlose Nacht mit einem kleinen Lichtlein den Weg in eine hellere Zukunft weisen soll; wie absichtslos nur in der Mundart und durch die Mundart das trotzige Bergvolk den Ton des Heldenliedes sicherer trifft als Bardiete und Heroldsrufe, offenbarte sich jedem empfänglichen Hörer durch siegreiche Wohltätigkeitsvorstellungen, denen das allzulang widerstrebende Burgtheater zögernd folgen mußte, offenbart sich heute doppelt und dreifach dem Leser, der nach den ungeheuren Schicksalswenden der letzten Monate »Volk in Not« aufs neue vornimmt. Schönherrs Heldenlied war und ist von prophetischem Geist erfüllt. Sein Andreas Hofer ist eine »lebendige Predigt«, mit Gotthelf zu reden; sie lehrt, daß bei jeder Wiederkehr »schmiedeeiserner Zeiten« Adlerwirtsgeschlechter aufstehen werden, die »wenn's wieder losgeht, den Fahn' nahmen und ihn tragen, wie ihre Vaterleut' durch Bluet und Tod und Teufl«. Bis dahin tun alle, allen voraus die Stammesmutter, die durch den Krieg um Mann und alle Söhne gebrachte Adlerwirtin, ihre Feld- und Hausarbeit, als ob nichts geschehen wäre. Eine Heldenmutter im Lodenkleid, die, wiewohl oder vielleicht weil sie keine großen Worte macht, den Vergleich mit keiner Heroine der Geschichte und Dichtung, mit der Makkabäerin Otto Ludwigs so wenig als mit Halms Thusnelda, zu scheuen hat. Daß die Not eines Volkes, in dem solche Weiber gedeihen, nicht ewig dauern kann, ist ebenso gewiß, als daß die Wirtschaft am Sand im Passeier durch irgend ein Friedensinstrument den Deutschen niemals entrissen werden kann. Wirksamer als jedes noch so begreifliche, gereizte Wort spricht der Hohn solcher Tatsachen gegen das sinnlos gehäufte Unrecht der Widersacher Deutschösterreichs: ihre Landkarte stempelt Lenau zum Magyaren, den in Krain geborenen und ansässigen Anastasius Grün zum Jugoslawen, die Deutschböhmen Adalbert Stifter, Ebert, Kompert, Alfred Meißner, Moriz Hartmann, Marie Ebner zu Tschecho-Slowaken und den nach Schlanders zuständigen Karl Schönherr zum Italiener. Es wäre heute fruchtlos, sich gegen diese Zerreißung Großösterreichs zu ereifern; uns hilft nur, dem Beispiel der Adlerwirtin zu folgen, das Gebot des Tages zu erfüllen, für kommende Ernten zu retten und zu bergen, was bis zur Stunde von der Aussaat der Vergangenheit nicht zertreten und geraubt wurde. Dichtung und Forschung Deutschösterreichs können und werden deshalb in Gegenwart und Zukunft nichts Heilsameres tun als in der Vergangenheit: das geistige Zusammenleben mit Deutschland zum Segen beider Teile so rege und so ausgiebig als möglich zu gestalten.

Es wäre besonderer wissenschaftlicher Untersuchung wert, welche Bedeutung nur im 19. Jahrhundert reichsdeutsche Einwanderer für Heer und Beamtenschaft, Handel und Landwirtschaft, Hochschulen und Polytechnica, bildende und redende Künste Großösterreichs gehabt haben. In diesem steten Verkehr hat Deutschösterreich nicht bloß empfangen: Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Lanner und die beiden Strauß haben an der Donau Weltmusik gemacht, und in Bruckner, Goldmark, Hugo Wolf, Mahler nicht verächtliche Schüler und Enkelschüler gefunden.

Überragend war der Einfluß des österreichischen Bühnenwesens auf das deutsche Theater. Zumal zu Zeiten, in denen die Landeshauptstädte Prag, Brünn, Pest, Lemberg, Agram keine besonderen nationalen Schauspielhäuser besaßen. Nach wie vor behauptet das Wiener Burgtheater, unsere mit keiner andern vergleichbare Wiener Volksbühne, von Raimund und Nestroy bis auf Anzengruber, von der Krones und Gallmeyer bis auf Martinelli und Girardi, und das Wiener Singspiel von Wenzel Müller bis zur »Fledermaus« altverdienten Ruhm, den zu bewahren eine der wichtigsten, leider auch schwierigsten Aufgaben Deutschösterreichs sein wird. Unser größtes Sorgenkind ist augenblicklich das Burgtheater. Seit seiner Begründung, 1776, haben in der Leitung und auf den Brettern dieser Bühne wetteifernd Österreicher und Reichsdeutsche ihr Bestes getan. Durfte Friedjung mit Recht Kaiser Josef den ersten Direktor des Burgtheaters nennen, so soll nicht vergessen werden, daß der Monarch den Rat Lessings einholen und Schröders Gastspiel ins Werk setzen ließ. Als nach Josefs Tod in Kriegsstürmen das Burgtheater verpachtet wurde, war es Schreyvogel, der das auf das äußerste gefährdete Institut rettete und mit solcher Tatkraft umgestaltete, daß dieser Österreicher als eigentlicher Schöpfer des Burgtheaters gelten muß: nur darf auch da nicht vergessen werden, daß Schreyvogel, als Jakobiner verdächtigt, in den Neunzigerjahren nach Deutschland und in Jena und Weimar in die Schule von Schiller, Wieland, Goethe ging. Als nach Schreyvogels schmählicher Verabschiedung unter dem Druck des Despotismus und der Zensur das Burgtheater unter den Österreichern Deinhardstein und Holbein versumpfte, waren es vom Jahre 1848 bis zur Umsiedlung in das neue Haus 1888 wiederum drei protestantische Reichsdeutsche, der Schlesier Laube, der Hesse Dingelstedt und der Mecklenburger Wilbrandt, die die tatenreichsten Zeiten des Burgtheaters heraufführten. Die schauspielerischen Größen der Schreyvogel-, der Laube- und der Wilbrandt-Truppe waren gleichfalls vielfach Reichsdeutsche: Anschütz, La Roche, Fichtner, Beckmann, Sophie Schröder, Amalie Haizinger, Julie Rettich, Luise Neumann, die Ehepaare Gabillon und Hartmann, Bernhard Baumeister, Förster, Schoene, Charlotte Wolter, Auguste Wilbrandt, denen sich die Österreicher Sonnenthal, Lewinsky, Mitterwurzer, Kainz als Ebenbürtige gesellten. Dichter, Schauspieler und Dramaturgen hießen als wirksamsten Beistand ein bildsames Publikum willkommen, dessen Empfänglichkeit in Nord und Süd nicht seinesgleichen hatte. Was Kaiser Josef begonnen, führte Kaiser Franz Josef großmütig fort: achtundsechzig Jahre lang widmete er dem Burgtheater Millionen an Zuschüssen: im alten Burgtheater mit bescheidenen Mitteln zum Heil, im neuen Haus mit den maßlos wachsenden Auslagen nicht zum Besten der Überlieferung. Unter den Prunkbauten seiner Regierung ist das neue Burgtheater nach dem übereinstimmenden Urteil der Kenner der verfehlteste. »Schon gleich nach Eröffnung dieses Hauses wurden gewichtige Stimmen laut, die es das Mausoleum des alten Burgtheaters nannten, und der Chor dieser Stimmen ist seither nicht verstummt«, so urteilt ein mit dem Decknamen Viennensis zeichnender weitberufener Wiener Kenner und Sammler in einer auch sonst bemerkenswerten Flugschrift: »Unschätzbare Werte. Die Zukunft unseres Kunstgutes.« (Schroll, Wien 1919.) »Zu groß, unpraktisch, unakustisch, überladen mit unnützem Schmuck sind die Hauptgravamina, die gegen den Bau Hasenauers erhoben werden. Das wichtigste Argument gegen die Beibehaltung des Hauses als Burgtheater sind aber die enormen Kosten, die es verschlingt, so daß kein Reingewinn auch bei ausverkauften Vorstellungen übrig bleibt, und da der Zuschuß aus der kaiserlichen Zivilliste wegfällt, bleibt nur ein Ausweg: auswandern.« Das neue Haus mit seinem Firlefanz habe den Ausstattungsluxus großgezogen; die Universitätsbibliothek fände im Prunkpalast Hasenauers die richtigen Räume (ein sehr fragwürdiger Vorschlag von Viennensis); das Personal sei viel zu groß; sich einschränken, sparen, eine Privatbühne pachten, bevor der Neubau eines eigenen kleinen Hauses möglich sei: so denkt sich Viennensis die Möglichkeit einer Gesundung des todkranken Haushaltes unseres Burgtheaters. Er rührt an der Lebensfrage der ersten Wiener (Schmeichler sagten: der ersten deutschen) Bühne. Ihre Erhaltung sieht auch die Republik als Ehrenpflicht an. Mit der alten kaiserlichen Herrlichkeit ist es angesichts ihrer bedrängten Geldlage jedenfalls vorbei. Dieser betrübenden Wahrheit können sich die alten Stammgäste und Freunde des Burgtheaters um so weniger verschließen, als sie den Niedergang seit der Umsiedlung, also seit einem Menschenalter, datieren. Mit Gustav Freytag und Eduard Devrient hielten sie übergroße, zumal prunkvoll überladene Schauspielhäuser für eine Gefahr. Sie waren auch einer Ansicht mit Laube, der seit seinem Abgang vom Burgtheater jeden Theaterbetrieb mit einer übergeordneten höfischen, ständischen, städtischen oder aufsichtsrätlichen Instanz als Hemmung eines berufenen Theaterleiters ansah. Durchgreifende Neuerungen sind unvermeidlich und unerläßlich. Das übergroße Personal muß, auch wenn es auf die Hälfte eingeschränkt wird, außer im Stammhaus an einer Nebenbühne in Kammerspielen beschäftigt werden, für die voraussichtlich in der früheren kaiserlichen Reitschule Raum geschaffen werden wird. Die maßlosen Bezüge der Modegrößen müssen vermindert, die Gastspiele von Wandervirtuosen ausgeschaltet, die heutigen Sitzpreise derart bemessen werden, daß unser einst maßgebendes kritisches Parterre, Bürgerschaft, Gelehrtenwelt, Mittelstand, aus unfreiwilliger Verbannung sich wieder an die gewohnten, gebührenden Plätze zurückfinden kann. Es wäre ein unwiderbringlicher Verlust, wenn die Bildungsmacht, die das Wiener Burgtheater seit bald hundertfünfzig Jahren nicht nur für die Deutschen Großösterreichs gewesen ist, völlig verschwände. Selbsttäuschung wäre es aber, sein Wiederauferstehen in voller alter Glorie zu erhoffen. Die Zeiten des Vormärz, da das Burgtheater die einzige Stätte war, an der öffentlich Gedankenfreiheit gefordert werden konnte, sind in Wien vorüber.

Der übertriebene Kultus, der dem Theaterwesen in der Kaiserstadt zu teil wurde, hat gleichfalls mehr und mehr nachgelassen. In den Wirren unserer Tage droht unserem Bühnenleben eher eine Krise des Niederganges. John Stuart Mill war erstaunt, als Georg Brandes mit ihm über Londoner Theater zu sprechen begann. Er nahm den Verfall der englischen Bühne gleichmütig als unabänderliche Tatsache hin. Wer weiß, so fragte er, ob in unseren Tagen die Lektüre den Theaterbesuch nicht verdrängen und ersetzen wird. Und ein gleichfalls nicht banausisch gesinnter Denker ging noch weiter: vor achtzig Jahren erklärte Gervinus, erstaunlich genug, in seiner »Geschichte der deutschen Dichtung«: »Wenn wir das Alterworbene in der Literatur nicht mit dem Neuerworbenen im Staate verbinden können, sei lieber jenes aufzugeben als dieses.« Mit Percy Heißsporn wetterte er: »Dichten? Ist dies 'ne Welt zum Puppenspielen und mit Lippen fechten?« Ein Menschenalter vorher hatte Napoleon in seinem Gespräch mit Goethe Schicksalsstücke mit der Wendung abgetan: »Was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal.« Die Antwort hatte Schiller 1798 in seinem Wallenstein-Prolog vorweggenommen: »Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne auch höhern Flug versuchen, ja, sie muß, soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.« Für den Dichter des »Faust« und den Schöpfer des »Fidelio« war nicht die Politik das Schicksal. Und für unendlich Kleinere, für Millionen und Millionen unserer Zeitgenossen kann und darf ebensowenig die Wirtschaftspolitik das ausschlaggebende Schicksal sein. Jeder muß in seinem Kreise nach dem Maß seiner Kraft seine Tagespflicht erfüllen.

Die Katastrophe von 1870 hat Taine bestimmt, den von ihm gehegten Plan einer deutschen Literaturgeschichte aufzugeben und ohne vorgefaßte Meinung die Ursprünge des heutigen Frankreich zu erforschen. Sein Monumentalwerk hat mit und trotz aller Einseitigkeit ganze Geschlechter seiner Landsmannschaft zur Einkehr bestimmt. An Aufgaben ähnlichen Inhalts müßte die Gelehrtenwelt Deutschösterreichs ihre Kraft versuchen, bevor Slawen und Romanen über die Ursachen der Zertrümmerung Großösterreichs Mit- und Nachwelt irreführen durch Parteischriften, Legenden, Fabeln, wie sie vor und im Weltkrieg das Ausland gegen uns aufgehetzt haben. Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer – dies Wort Voltaires hat Palacky in den bekannten Ausspruch umgewandelt: »Wenn Österreich nicht bestände, müßte man es erfinden.« Die Wahrheit dieses Wortes, die Unentbehrlichkeit eines ähnlichen, Völker verbindenden Staatengebildes wird die kommende Gestaltung der Weltschicksale zu bekräftigen oder zu widerlegen haben. Einstweilen will sich die Gelehrtenwelt Deutschösterreichs angelegen sein lassen, zu zeigen, daß trotz aller Schmähung und Verkennung die Kulturarbeit Großösterreichs im 19. Jahrhundert aus der Weltgeschichte nicht wegzudenken ist. Eine wissenschaftlich zuverlässige Erneuerung und Ergänzung von Wurzbachs Biographischem Lexikon, die schon während des Weltkrieges von einem Kreis namhafter österreichischer Gelehrter – Akademiepräsident Oswald Redlich, Fournier, Friedjung, Glossy, Jagiè, Seemüller, Wieser, Winter – in Angriff genommen wurde, soll das (wie mein in diesen »Wiener Biographengängen« wiederholter Vortrag »Ein biographisches Denkmal für das Zeitalter Kaiser Franz Josefs« im einzelnen zeigt) quellenmäßig erweisen. Ein unabsehbarer Geisterzug starker Talente und seltener Charaktere wird Zeugenschaft ablegen, daß an Deutschösterreich mehr gesündigt wurde, als es jemals gesündigt hat und hätte sündigen können.

 

Anmerkungen und Zusätze eingarbeitet. joe_ebc.

 


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