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Die Tochter Wilhelm Scherers

Menschenopfer unerhört« hat der Weltkrieg gekostet. Napoleons nächtliche Heerschau, wie sie Zedlitz ausgemalt, könnte sich nicht messen mit einem Phantasiestück, das den Blutschuld mit Blutschuld büßenden Nikolaus II. Musterung halten ließe über die seit seinem Mobilisierungsbefehl gefallenen Millionen. Nicht nur Kämpfer der alten Welt, die für und gegen den Korsen »im tiefen Norden erstarrt in Schnee und Eis, und die in Welschland liegen, wo ihnen die Erde zu heiß, und die der Nilschlamm decket und das arabische Land« – Amerikaner und Australier, Gelbe und Schwarze sind von unseren Gegnern in den Tod getrieben worden. Und in diesen Geisterzug der Geschiedenen müßten sich Witwen und Waisen mit ihren Tränenkrüglein mischen, Mütter und Bräute, die Verlassenen und Vergewaltigten, die der Gram zu grunde gerichtet, Abenteurerinnen und Amazonen, die mit der Gefahr unbedacht spielten, und Samariterinnen, die sehenden Auges auf Verbandplätzen und in Krankenstuben ihr Leben einsetzten und ließen, barmherzige Schwestern mit und ohne Ordensgelübde. Auch ihre Zahl ist zum Ruhm reiner, alle irdischen Gebrechen sühnender Weiblichkeit Legion in allen Lagern und die Besten und Größten aller Zeiten und Völker neigen sich dieser wahrhaft heiligen Schar; im September 1878 schrieb Turgenjew in seinen »Senilia« zur Erinnerung an Fräulein J. W.: »In einem verwüsteten bulgarischen Dörfchen, unter dem notdürftig schützenden Dach eines baufälligen Schuppens, der im Handumdrehen in ein Feldlazarett verwandelt worden war, da starb sie vor etwa vierzehn Tagen an Typhus. Sie lag in Fieberphantasien. Die kranken Soldaten, die sie gepflegt hatte, solang sie sich auf den Füßen halten konnte, erhoben sich der Reihe nach von ihren verpesteten Lagern, um in der Scherbe eines zerschlagenen Topfes ein paar Tropfen Wasser an ihre verdorrten Lippen zu bringen. Sie war jung und schön; die vornehme Welt kannte sie; so sanft, so milde war ihr Herz und dennoch hatte es solche Kraft, solchen Opfermut; den Hilfsbedürftigen helfen – sie kannte kein anderes Glück. Jedes andere Glück ging an ihr vorüber – mag ihr teurer Schatten nicht zürnen, daß ich jetzt noch mich erkühne, dieses verspätete Blümlein auf ihr Grab zu legen.«

Dem Los dieses edlen russischen Mädchens vergleichbar ist ein deutsches Frauenschicksal im Kriege. Nur war das wundersame Wesen, von dem uns ein zu langer Dauer bestimmtes Buch berichtet, kein alleinstehendes Geschöpf: Marie Scherer-Sonnenthal war eine glückliche Frau, eine liebreiche Tochter, eine zärtliche Mutter. Vor Jahr und Tag hat Hermine von Sonnenthal in einem Feuilleton, das die Leser der »Neuen Freien Presse« nicht vergessen haben werden, den Lebenslauf von »Schwester Sonnen-Mi« mit so feiner, fester Hand gezeichnet, sie hat die Stufenjahre des Kindes, der Braut, der jungen Frau des Mürzsteger Forstarztes Horace Sonnenthal mit so herzbewegender Liebe beschrieben, daß der Wunsch rege wurde, mehr von ihrer Heldin zu hören. Mit dem sicheren Geschmack, der sie zuvor in der Auswahl des Briefwechsels ihres Vaters geleitet und uns mit einem stoffreichen Beitrag zur Geschichte des Burgtheaters beschenkt hat, willfahrte sie diesem Verlangen und beschied der Leserwelt: » Briefe und Tagebuchblätter von Schwester Marie Sonnenthal-Scherer. Eingeleitet und nach den Handschriften herausgegeben von Hermine v. Sonnenthal.« » Ein Frauenschicksal im Kriege.« 1918. Verlag Ullstein L Cie., der mir die Aushängebogen freundlich überlassen hat. Willkommene Bilderbeigaben zeigen Schwester Sonnen-Mi, das Mürzsteger Heim und ihr Wüstengrab.

Marie Scherer ist Vollblutösterreicherin. Ihr 1841 in Schönborn, Niederösterreich, als Sohn des aus Franken stammenden Oberamtmannes geborener Vater Wilhelm Scherer, der Biograph Jakob Grimms, der Jünger Müllenhoffs, einer der bedeutendsten Altertumsforscher und Kenner der Geschichte unserer Dichtung, wurde in Wien, Straßburg, Berlin ein Führer der akademischen Jugend, dessen beste Schüler Erich Schmidt, Minor, Schönbach, Sauer, Werner, Schroeder, Roethe u. s. w., späterhin die ersten Lehrkanzeln besetzten; ein Anreger nicht nur der Fachgelehrten, als dessen Hörer unter anderen Otto Brahm und Schlenther ihr Bestes lernten. Mit der Andacht zum Unbedeutenden verband er nach seinem eigenen Bekenntnis den Mut zu irren. Auf den entlegensten Gebieten der Vorzeit war er so heimisch wie in der neuesten Literatur, als Kritiker alter Texte so selbständig in seinem Urteil wie als Anwalt von Freytag, Keller, Geibel, Anzengruber, Wilbrandt. Die Methoden der Naturwissenschaft wollte er für die Geisteswissenschaften nutzbar machen. Mit der Strenge gewissenhafter Kleinarbeit vertrugen sich in diesem reichen Geist kühn ausgreifende, allumfassende Pläne. Dem Forscher ebenbürtig war der Stilist, der in Zeitungen und Monatsblättern als schlagfertiger Publizist, in gelehrten Zeitschriften als gerechter, gelegentlich gefürchteter, schöpferischer Kritiker seinen Mann stellte, zielweisend als Goethe-Philolog wirkte und seine Geschichte der deutschen Literatur, ein bisher unentbehrliches und unübertroffenes Buch, das den ungeheuren Stoff mit künstlerischer Überlegenheit bändigte, nur als Vorstufe einer Goethe-Biographie ansah. Ein Vorhaben, das mit dem 1886 vorzeitig infolge schonungsloser Überarbeitung Geschiedenen gleich manchem andern seiner großen Entwürfe begraben wurde. Tief und bis zur Stunde betrauert von vielen, denen der ganze liebenswerte Mensch ebenso hoch stand wie der vorbildliche Gelehrte, ließ er eine Witwe zurück, mit der er sieben Jahre in glücklichster Ehe gelebt; eine geborne Wienerin, Marie Leeder, eine anmutige Sängerin aus der Schule Marchesi, die einer kaum begonnenen Bühnenlaufbahn entsagte, um 1879 die Frau Scherers zu werden. In Berlin hatte das Paar die Größen der Hochschule Helmholtz, Zeller, Harnack, Hirschfeld, Planck u. s. w. zu seinen nächsten Freunden gezählt. Der Kreis dieser Meister hielt treulich zu der Witwe und den zwei Kindern, dem beim Tode Scherers sechsjährigen Söhnchen Hermann, dem Patenkind Hermann Grimms, und dem 1886 zweijährigen Töchterchen Marie, mit ihrem Hätschelnamen Mi genannt; die Kleine erfreute sich der besonderen Gunst Mommsens, der Mi jederzeit als willkommenen Gast in seiner Studierstube stundenlang um sich spielen ließ. Den Sommer verbrachte die Familie Scherer bei den Eltern der Frau Geheimrat in Stixenstein, wo Vater Leeder als Güterdirektor des Grafen Hoyos tätig war; dort trieben die Kinder alle Arten von Sport; Mi schwelgte nach ihrem eigenen Wort in Jungmädelgefühlen, in Sonne und Schönheit; die Geschwister kletterten auf allen Schneebergsteigen; keine Tour war ihnen zu schwer, keine Höhe zu steil; zu jeder Jahreszeit setzte Hermann diese Bergfahrten fort, bis den Zwanzigjährigen ein Euphorion-Schicksal ereilte: er stürzte im Tiroler Kaisergebirge ab. Die grausame Heimsuchung erhöhte wennmöglich die Hingebung der Mutter für Marie, eine nach Hermine Sonnenthals Zeugnis genial veranlagte Natur. »Sinnende Schwermut und heiterste Lebenslust, ausharrende Tapferkeit und rastlose Sehnsucht nach neuem Erleben, fast männliche Energie und unendlich weiche, hingebende Weiblichkeit rühmt ihre Biographie ihr nach. Diese Züge widersprachen einander nicht. Die Beweglichkeit ihres Geistes war nicht Launenhaftigkeit, der Wechsel ihrer Stimmungen nicht Wankelmut. Ihre seltene Frauenseele glich einem von Meisterhand geformten Instrument, das jeden Klang vom tiefsten bis zum hellsten Harfenton mit gleicher Reinheit wiedergibt. Mi war, wie ihr Vater, eine kerngesunde, keine problematische Natur. Mi selbst wirft einmal das Wort hin: »In der Bibel kam mir gerade mein Konfirmationsspruch unter: ›Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.‹ Ich glaube, er war wirklich das Richtige für mich.« Ein andermal bekennt sie, daß gerade sie ihr Glück immer voll genießt und daß sie sich dessen immer bewußt sei, »so wie es bei meinem Vater war, von dem ich es wohl geerbt habe«.

In der Berliner Gesellschaft stets hochwillkommen und viel umschwärmt, lockte sie die Großstadt nur wenig. Auf einer Bergpartie begegnete sie im Sommer 1904 dem Mürzsteger Forstarzt Dr. Horace Sonnenthal; vom ersten Augenblick fanden sich die beiden zueinander hingezogen, und schon im Frühjahr 1905 ließen sie sich am Geburtstag Wilhelm Scherers, 26. April, in der von Rosegger begründeten protestantischen Heilandskirche in Mürzzuschlag trauen. Ihre Ehe wurde die Verwirklichung eines Märchens, wie sie der Dichter der Waldheimat nicht schöner hätte austräumen können. Der Mutter und dem Manne Mi's hatte anfangs gebangt, ob sich die Einundzwanzigjährige dauernd in die Stille des steirischen Alpendorfes würde finden können. In wolkenloser Glückseligkeit teilte die junge Frau indessen von der ersten Stunde an als Gefährtin ihres Gatten den Ernst seines Lebensberufes und seine Liebhabereien. Sie war seine Begleiterin auf seinen Pflichtgängen, seine Helferin bei chirurgischen Eingriffen; wohlvertraut mit den prächtigen Jagdhunden und Pferden des Hausvaters, war sie seine Kameradin auf der Pirsch und auf Ritten; im Blumen- und Küchengarten griff sie munter zu; eine Meisterin der Geselligkeit und Gastlichkeit, wenn Besuch einsprach; eine selige, lustige Mutter, die ihr Knäblein gern Bulli nannte, zur Erinnerung an einen Schwarzen, der ihr in gebrochenem Englisch in Afrika von seinem Kind erzählt hatte: er habe ein »Toto«, und zwar einen »Bull«. In den dunklen Erdteil war Mi mit ihrem Manne gekommen, weil dem Paare, so lieb beiden Mürzsteg war, in ihrem starken Wander- und Forschertrieb keine Ferienfahrt zu weit war. Der Hochzeitsreise nach Norwegen, wo sie in unwirtlichen Gegenden Elche gejagt hatten, war eine Expedition nach Ostafrika in das Gebiet des Kenia gefolgt. 1914 hatten die beiden eine Reise nach Belgisch-Kongo und dem Sudan vor; Protozoen sollten erforscht, seltene Tiergattungen für das Wiener Naturhistorische Museum heimgebracht werden; die Vorbereitungen zu dieser halb wissenschaftlichen Unternehmung währten fast ein Jahr; Mi nahm ihre Aufgabe so gewissenhaft, daß sie regelrecht im Ausstopfen und Zurichten von Tierpräparaten sich unterweisen ließ; Kisten und Zelte für die geplante Kongofahrt schwammen bereits auf hoher See, als der Krieg ausbrach; statt nach Afrika begab sich Anfang September Dr. Horace Sonnenthal als Chefarzt einer Roten-Kreuz-Abteilung an die serbische Grenze. Mi blieb zunächst in Mürzsteg, um Haus und Praxis instand zu halten; sie ruhte aber nicht, bis sie die Geschicke ihres Mannes teilen, als Pflegerin tätig sein durfte.

In der ersten Novemberhälfte kam sie über Neusatz in das Spital von Schabatz, wo sie in der graduierten Doktorin Gräfin Desfours-Walderode eine ebenso tüchtige als tapfere Führerin fand. Von Anfang kann Mi sich nicht genug tun in entschlossener Hingabe an die selbstgewählte Pflicht; keine Greuelszene schreckt sie, Ekel läßt sie nicht aufkommen, keine Dienstleistung bis zum Zimmeraufreiben ist ihr zu gering. Choleraeinspritzungen tut sie mit einem Scherz ab: »Denke Dir,« so schreibt sie der Mutter, »der Wiener Arzt hat mir die zwanzigfache Dosis eingespritzt, indem er es zum erstenmal machte und eine Phiole für Massenimpfung nahm. Wenn ich jetzt nicht gefeit bin!« Inmitten der angestrengtesten Arbeit findet sie Zeit und Lust zu Briefen nach Mürzsteg und zu Aufzeichnungen, die vom ersten Blatt Mi als unbewußte, geborne Künstlerin beglaubigen. In diesen achtlos hingeworfenen Einträgen, die für kein fremdes Auge bestimmt waren, hält sie Stimmung, Landschaft, Menschenschlag, Kriegsgetümmel und Krankengeschichten mit sparsamen Meisterstrichen fest; nirgends stößt man auf Schön- oder Schwarzfärberei; hören wir eine Probe dieser überlegenen Sachlichkeit: »Ich komme zur Ablösung ins serbische Gymnasium. Ein Haus des Grauens, ein Bild des Schreckens. Auf den Gängen die Toten, über die man wegsteigen muß; in einem kleinen Zimmer auf der Erde zwei stöhnende Sterbende mit Kopfschüssen und verzerrten Gliedern, verglasten Augen. Die Säle überfüllt, Jammer nach Essen und Trinken, Schreien und Stöhnen, dabei starrend vor Schmutz, alle noch in Uniform, teilweise in ihrem Unrat sich wälzend. Ein Serbe muß von mir zum Verbinden ausgezogen werden, er wimmelt von Kleiderläusen, auch wir Schwestern haben schon welche erwischt. Frau Doktor will ihm eine Injektion geben, wie sie ihm in die Nähe kommt, stößt er mit den Füßen nach ihr. Ich halte die Füße, er sucht sie mit der Faust niederzuschlagen. Ich muß Hilfe holen; eine Schwester hält die Füße, ich von hinten die Hände. Beim Einstich wehrt er sich so, daß die Nadel bricht und stecken bleibt; nicht mehr möglich zu entfernen. Ich halte so fest, daß er mit den Händen nicht loskann, dafür beißt er mich mit aller Macht in den Arm, zum Glück geht es durch das Pelzel nicht durch (in dem mustergültigen Deutsch Mi's mutet den Wiener mehr als einmal heimatliche, humoristisch wirkende Verkleinerungsform an; sie schreibt, wie sie geredet hat, nicht bloß »Spiegerl«, »Packerl«, sie spricht einmal sogar von einem »Gedankerl«). Die Nachtwache entsetzlich! Die Fensterscheiben fehlen ganz, durch große Löcher im Dache zieht es herein, neben uns das entsetzlich stöhnende Zimmer des Sterbens, als Licht nur eine Laterne für das ganze Spital. Draußen Sternenhimmel und ein paar lodernde Wachtfeuer, könnten wir uns nur für ein paar Minuten daran wärmen. Es ist die schrecklichste Nacht, die je eine von uns durchgemacht. Es kommen nach der Eroberung Belgrads am 2. Dezember und der ihr folgenden jähen Flucht ärgere. Das Feldspital sperrt bei Fackellicht zu. Im Finstern wird mit dem Aufbruch begonnen. Zuerst kommen alle Verwundeten, zurückgelassen werden nur ein paar sterbende Serben. Zum Einpacken der Kisten bleiben Horace, die Gräfin, Schwester Katharina und ich. Um halb 8 Uhr ist alles fertig. Wir gehen zu Fuß. Bei der Kirche beginnt das Drängen des Trains, unabsehbar Wagen auf Wagen. Die Gräfin und ich gehen allein, der Weg ist elend, wir rutschen und fallen fast, man kommt kaum vorwärts. In den Pontonbooten stehen die Soldaten, füllen die Feldflasche und trinken das schmutzige Savewasser, wie sollen da die Krankheiten aufgehalten werden?« Anders als in herkömmlichen Kriegsberichten, in schlichter, ans Herz greifender Wahrhaftigkeit bucht Mi alle Fährlichkeiten der Flüchtigen, die sich über das Gebirge nach Neusatz retten; »am Weihnachtsabend hatte ich auch gerade Nachtdienst, aber es waren lauter leichtere Fälle und dadurch gar nicht anstrengend. Ich war den Abend wohl sehr deprimiert ohne Bulli und Mama«: für die Soldaten hatte sie trotzdem ausgiebig mit »Christbäumerln« vorgesorgt. Schwere Influenza hatte Mi heimgesucht, manche Ohnmacht hatte sie befallen, ihr Mann bat die Mutter, sie zu bewegen, von weiterer Krankenpflege abzustehen: »abgesehen von Cholera, Ruhr und Typhus fürchte ich für ihre Lunge«. Mi ließ aber nicht von dem, was sie als Sendung ansah. Sie gönnte sich kaum einen kurzen Erholungsurlaub, folgte wiederum unter Führung der Gräfin Desfours der Versetzung nach Marmarossziget, Deniatyn, Kolomea, und machte nur im Mai einen Abstecher nach Mürzsteg, als Bulli erkrankt war. Nach vierzehn Tagen war sie wieder auf ihrem Posten. Sie wollte (und Mann und Mutter waren eines Sinnes mit ihr) ihre Aufgabe nicht als Spielerei behandeln; Mi träumt im »Kriegskammerl« nur von Mürzsteg und (entzückende Eingebung!) von einem Sanitätsluftschiff. Sie lernt, hilft, greift unablässig zu; sie ruht nicht, bis sie selbständig narkotisiert; oft bescheidet sie sich mit fünf oder drei Stunden Schlaf; »es ist rasend zu tun, heißt es im Juli 1915, täglich fast 250 Verbände und dabei soviel Operationen. Gestern entfernte ich ganz allein vier Kügelchen, zwei mit Kokain und zwei mit Chloräthyl«. Zwischendurch findet sie, wie Vater Scherer inmitten der ausgiebigsten Forschertätigkeit zu Kunst- und Gesellschaftsfreuden Zeit fand, einmal Gefallen an einem Ferialtag, an dem sie mit einer Kollegin einen Ausritt und ein brieflich allerliebst geschildertes Picknick mitmacht, bei dem Steirerlieder gesungen und sogar ein bißchen getanzt wurde. Ende August erkrankte Mi an einem Erythem, das sie niederkämpfen wollte; im September erholte sie sich in Mürzsteg auf ihre Art, indem sie ihrem Mann assistierte und, als auch Horace unpaß wurde, ihn zeitweilig vertrat. Mitte Januar ging sie wieder nach Kolomea, das sie vier Wochen hernach endgültig verließ, als ihre Freundin Desfours die Kolonne aufgab. Gleich darauf meldete sich Mi dann als Armeeschwester auf Kriegsdauer bei den von Erzherzogin Maria Theresia ins Leben gerufenen Sanitätsanstalten für Syrien.

Mit einer Anschaulichkeit, um die sie jeder Zünftige beneiden darf, hält sie serbische, bulgarische, türkische Eindrücke fest. Mit jungen Augen sieht sie alte Dinge, und wo sie Neuland entdeckt, geschieht das unbewußt im Sinne Zolas: un coin de la nature vu à travers un tempérament. Unfreiwillig verlängerter Aufenthalt in Konstantinopel nötigt sie, auf den Prinzeninseln zu verweilen: Sieben Inseln im Marmarameer, vier davon bewohnt, so genannt, weil mißliebige türkische Prinzen dorthin verbannt werden, »eine Gefangenschaft in einem Paradiese, aber doch entsetzlich«. Mi's Wanderungen und Erlebnisse auf einer dieser Inseln, Prinkipo, verewigt sie in Briefen, die Gedichte in Prosa sind: es erübrigt sich, hier Stellen auszuheben, wo jede Seite tropfenweise ausgeschöpft sein will. Nicht minder bewundernswert ist die Schilderung ihrer Fahrt durch Anatolien, über den Taurus, nach Jerusalem. Ungezählte Wallfahrer, zuletzt Voguë und Sven Hedin (den Mi zu beiderseitiger Freude kennen lernte), haben auf denselben Wegen von denselben Stätten als Geschichtsphilosophen, Ethnographen, stilisierende Landschafter gehandelt. Was Mis Art von all diesen Vorgängern unterscheidet, ist die Einzigkeit ihrer Natur. Naiv und sentimentalisch in einer Person, ist sie wie in einem Rausch der Begeisterung über alles Gewaltige, das auf sie eindringt. Das höchste Glücksgefühl begeistert sie aber erst, als sie nach Birseba als »Wüstenschwester« entsendet wird. Übermenschliches leistet die wiederholt von Cholera Befallene dort im Krankendienst. Zugleich regt sich in ihr der ritterliche, abenteuernde Geist der echten Tempelherren und Malteser. Vom Krankenlager erhebt sich die Fiebernde einmal nächtens: »Mit nackten Füßen, im weißen, silbergestickten Schlafrock und der breiten roten Binde schlich ich hinaus, mich anders anzukleiden wagte ich nicht wegen des Lärms, und schnell schritt ich über den weichen Sand zum Pferdeschuppen. Ein leises Wiehern. Der magere Araberkopf des schönen Pferdes schmiegt sich an mich. Im Sternenschein strahlen mich die großen Augen an. Immer wieder küsse ich ihn auf seine bebenden Nüstern. Ist's ein Traum?« Und nun hinaus, frei wie ein Vogel in der Luft fühlt sie sich auf dem Rücken des Rosses, weit dehnt sich in des Mondlichtes blauen Schleiern die Wüste vor ihr, sie weiß, daß so eine Stunde nie wiederkehrt. Und der Leser weiß, daß ein Märchenkind wie Mi ebensowenig wiederkehrt wie das Tagebuchblatt, das von ihrem Wüstenritt erzählt, eine absichtslose Ausstrahlung dichterischer Naturkraft, derengleichen kein moderner Ästhet verspürt. Dieselbe Schwärmerin steht am nächsten Morgen auf ihrem Posten und führt ganz allein ihr Feldspital, nüchtern alle wirtschaftlichen und Rechnungsgeschäfte besorgend, wenn chirurgisch nichts zu tun ist. Augenblicke kommen, in denen sie sich totsehnen könnte nach Mann, Kind, Mutter; ist aber die Müdigkeit überwunden, dann erhebt sie sich in dem Bewußtsein, am fernsten Posten mitten im Kriege drin zu sein und dies Leben zu kennen, »einsam und eisern, von dem niemand spricht und von dem so viele nichts wissen im Vaterland«.

Ein neuer, schwerster Anfall wirft sie nieder; in ihren letzten Stunden hatte sie großes Heimweh nach Hause, dann schwand das Bewußtsein, am 9. September, morgens um Acht, war sie tot und in der Dämmerung wurde sie begraben. Alle Offiziere waren da, ein junger Bildhauer (Leutnant) sprach, deutsche und österreichische Schwestern sangen: »Wo findet die Seele die Heimat der Ruh'?« Darüber versank die Sonne und der Mond ging auf über der Wüste. Auf das Grab wurde vom Bildhauer ein Stein gesetzt mit der Inschrift: »Schwester Marie Sonnenthal starb am 9. September 1916 in treuer Pflichterfüllung an der Cholera.«

»Schwester Mi wird in Birseba nicht vergessen werden,« so schrieb dazumal eine Kameradin an Horace Sonnenthal, »jeder spricht von ihr, jeder denkt an sie und alle hatten sie lieb.« Schwester Mi wird auch in der Heimat, im österreichischen und deutschen Vaterland nicht vergessen werden, die Besten werden von diesem Frauenschicksal im Kriege sprechen, die ganze große Gemeinde Wilhelm Scherers wird in Mi seine ebenbürtige Tochter erkennen, und Marie Sonnenthal-Scherers Briefe und Tagebuchblätter werden sie, den Weltkrieg und unser heutiges Geschlecht überleben. Von Schwester Sonnen-Mi wird in Wahrheit und Dichtung immer wieder gesagt und gesungen werden.


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