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Ein Nachwort zum Grillparzer-Zyklus

(Anläßlich der Aufführungen im Burgtheater 1917.)

Am 31. Januar 1817 wurde zum Benefiz von Sophie Schröder im Theater an der Wien das Erstlingswerk eines Neulings gegeben. Seinen Namen auf die Zettel drucken zu lassen, war der Anfänger, ein zwanzigjähriger Subalternbeamter, nicht zu bewegen. »Die Ahnfrau«, Trauerspiel in fünf Aufzügen, ohne Angabe des Verfassers, stand an den Straßenecken angeschlagen. Das gab keine gute Vorbedeutung, und das Theater war schlecht besucht. Die Vorstellung war vortrefflich. »Mit Zuhilfenahme des pensionierten Hofschauspielers Lange fanden sich«, nach Grillparzers Erzählung in der Selbstbiographie, »alle Subjekte vor, um das Stück so aufzuführen, wie es wohl auf keiner deutschen Bühne wieder gegeben worden ist.« Gleichwohl machte der Abend auf Grillparzer den widerlichsten Eindruck, so daß er den Vorsatz faßte, der Vorstellung keines seiner Stücke mehr beizuwohnen; »ein Vorsatz, den ich bis heute (Grillparzer schrieb die Selbstbiographie 1853) gehalten habe.« Marie Ebner berichtet in ihren 1916 veröffentlichten »Erinnerungen an Grillparzer« indessen, daß er später einmal sich doch anders entschloß. Er war bei einem Ausflug in die Umgebung Wiens durch eine Ortschaft gekommen, wo reisende Komödianten die »Ahnfrau« aufführten. Eine Scheune der Theatersaal, die ländliche Bevölkerung das Publikum. Der Jaromir brüllte wie ein Löwe, die Ahnfrau mußte auf allen Vieren aus der Kulisse hervorgekrochen sein, um überraschend und schauerlich hinter dem Sessel des alten Borotin auftauchen zu können. Das störte die Zuschauer nicht und vielleicht nicht allzusehr den Autor. Wer weiß, ob er das Theater in der Scheune nicht mit der Überzeugung verließ, die er später oft ausgesprochen hat: »Das Stück ist gut.« Bei der Uraufführung anno 1817 war Grillparzer weniger zuversichtlich. Obwohl den Schauspielern bei ihren Glanzstellen viel geklatscht wurde, widersprach der Dichter auf das bestimmteste ihrer Meinung, daß das Stück sehr gefallen habe, und er blieb bei dieser Ansicht um so fester, als am zweiten Abend das Haus halbleer war. Da meinte der Schauspieler Küstner: »Ich kennte Ihr Theater nicht. Bei Ihnen in der Vorstadt brauchte es immer ein paar Tage, bis das Gerücht eines Erfolges im Publikum herumkomme.« Und so war es auch; bei der dritten Vorstellung fand sich das Theater wie belagert und das Stück machte in Wien und in ganz Deutschland die ungeheuerste Wirkung.«

In dem Jahrhundert, das seit jenem ersten Bühnensieg Grillparzers verfloß, wuchs trotz oder wegen mancher zeitweiligen Verkennung und Verdunklung des Dichters seine Gewalt über die Geister und Gemüter der Besten seiner Landsmannschaft still und stetig dermaßen, daß das Burgtheater zu Ehren jenes Gedenktages wagen konnte, an elf Abenden alle Stücke Grillparzers von der »Ahnfrau« bis zur »Esther« ungefähr in der Zeitfolge ihrer Entstehung in einem Zyklus vor Augen zu stellen. Ein Wagnis nennen wir das Unternehmen, denn wie viele oder eigentlich wie wenige Dramatiker aller Zeiten und Zungen vermöchten die gleiche Probe zu bestehen, Wie wenige könnten ihr Lebenswerk Jahrzehnte oder Jahrhunderte nach dessen Werden und Wachsen, seine Dauerhaftigkeit im ganzen und im einzelnen in ununterbrochener Reihe erweisen lassen? Kein volles Dutzend. Dingelstedt durfte Shakespeares Historien allen Zweiflern zum Trotz in einem Zyklus von sieben Abenden zum Siege führen, und ebenso gewiß würde jeder Bühne, die über die rechten Schauspieler gebietet, ein gleiches mit den meisten anderen Tragödien und Komödien Shakespeares glücken. Lope und Calderon spotten schon durch die Massenhaftigkeit und Ungleichmäßigkeit ihres Schaffens jeder zyklischen Wiedergabe. Eher wäre ein Molière-Zyklus von den » Précieuses ridicules« bis zum » Malade imaginaire« denkbar, obwohl ein solcher Versuch meines Wissens bisher nicht einmal in der Comédie Française gemacht wurde, die sich stolz » la Maison de Molière« nennt. Ein Goethe-Zyklus müßte schärfer sieben: zwischen dem »Götz« und dem letzten »Faust« liegt zu viel Bühnenfremdes, die Aufgeregten, der Groß-Kophta, höfische und vaterländische Gelegenheitsdichtungen. Desto volleren Triumphes sind und waren jederzeit Schiller-Zyklen von den »Räubern« bis zum »Demetrius« gewiß. Über einen Kleist-Zyklus ließe sich mit einem gescheiten Dramaturgen reden. Ein vollständiger Hebbel-Zyklus, den Alfred Berger in Hamburg dreimal unter besonderem Zuspruch der Arbeiterschaft geben konnte, wird sich anderwärts schwerlich, zum wenigsten nicht mit dem »Trauerspiel in Sizilien«, »Julia«, »Rubin« und »Diamant« wiederholen lassen. Und auch Brahm's Ibsen-Zyklus dürfte nicht allzubald zur Nachfolge reizen.

Ein Grillparzer-Zyklus im Burgtheater trägt aber zum voraus die Gewähr des Gelingens in sich. Wir Österreicher und Wiener lieben und ehren ihn nie genug als Schutzgeist dieses Hauses, als Schutzgeist der Heimat, als den größten Dramatiker und einen der selbständigsten politischen und kritischen Denker unseres Vaterlandes. Zudem hat die engere Landsmannschaft und mehr noch das Reich sich so schwer vergangen an dem Lebenden, daß ein unbefangener Norddeutscher, Gustav Freytag, beim Tode Grillparzers Sühne für so viel Unbill forderte mit den wahren und deshalb doppelt wundervollen Worten: »Er hat für die Kunst gearbeitet als ein Herr, nicht als ein Knecht, dafür bleibt ihm die Ehre eines Herrn, der Ruhm bei späteren Geschlechtern.« Die Inspiration war nach dem Selbstbekenntnis des Dichters sein einziger Gott. Niemals hat der strenge Künstler dem Tagesgeschmack gedient; niemals an die Gunst der Mächtigen, an Gewinn von Glücksgütern gedacht; ebensowenig aber grüblerisch und eigenwillig den Gesetzen des leibhaftigen Theaters sich verschlossen. Ein geborner Bühnendichter, hat er von früh an, bewußt und unbewußt, praktische Bühnenerfahrungen aus allen erreichbaren Quellen geschöpft. In seinen Kindertagen empfing er entscheidende Eindrücke von der Wiener Volksbühne, in höheren Stufenjahren seiner Entwicklung vom Burgtheater, das Kronprinz Rudolf unsere beste Universität genannt haben soll. Ein Urteil, dem zum mindesten für die dramatische Kunst die meisten Alt-Wiener beistimmen werden. In dieser freien Schule sind ganze Geschlechter von Dichtern, Darstellern und Kennern durch lebendigen Anschauungsunterricht herangebildet worden. Im Burgtheater sind, wie sich das für jede rechte Universität gehört, die begabtesten, lernbegierigsten Schüler nachmals die berufensten Lehrer, Erzieher und Führer des Nachwuchses geworden. Die Größen der Schreyvogel-Truppe, Anschütz, Fichtner, Sophie Schröder, wirkten mittelbar und unmittelbar weiter auf die Besten der Laube-Truppe, Sonnenthal, Gabillon, Baumeister, Lewinsky. Ein Meister und Muster der Kritik, Schreyvogel, wurde mit seiner Treffsicherheit und Entdeckerfreudigkeit beispielgebend für Emil Kuh, Valdek, Speidel, Wilhelm Scherer, Minor, Alfred Berger. Und welchen Segen Grillparzer seit seinem Einzug in das Burgtheater, der 21. April 1818 mit der »Sappho« stattfand, ganzen Generationen von Darstellern, Dramaturgen, Theatergängern, Schülern und Enkelschülern gebracht hat, das konnte, wer sich dessen noch nicht oder nicht voll bewußt war, in dem jüngsten Burgtheaterzyklus erfahren, der an elf Abenden in verjüngtem Maßstab nur einen kleinen Auszug aus dem vorangehenden, großen, das volle Jahrhundert von 1817 bis 1917 umspannenden Grillparzer-Zyklus unserer ersten deutschen Bühne gab.

An diesem säkularen Grillparzer-Zyklus hatten als Schätzer oder Schädlinge Grillparzers alle vorangehenden Leiter des Burgtheaters Anteil. Obenan der Theatersekretär, der in und nach den napoleonischen Kriegen der Retter der Stiftung Kaiser Josefs, der zweite Schöpfer des Burgtheaters wurde: Josef Schreyvogel. Er hatte nicht nur der »Ahnfrau« die Bahn gebrochen; er ließ 1818 »Sappho«, 1821 das »Goldene Vließ«, 1825 »Ottokar« und, unbeirrt durch die Gehässigkeiten und Albernheiten der Zensur, 1828 den »Treuen Diener seines Herrn«, dann 1831 des »Meeres und der Liebe Wellen« im Burgtheater einziehen. Ein Ratgeber, Förderer und Helfer Grillparzers, dem der Dichter als sein dankbarer Schützling auf den Grabstein die Inschrift setzte: »Ein völliger Mann. Stand jemand Lessing nahe, so war er es.« Schreyvogels nächste Nachfolger waren sein Widerspiel: Deinhardstein brachte 1834 »Traum ein Leben« mit starkem Erfolg und 1838 in verhängnisvoller Fehlbesetzung »Weh' dem, der lügt«. Nach dem legendarischen Mißerfolg dieses Meisterwerkes zog sich Grillparzer mißmutig vom Burgtheater zurück, das fortan, besonders unter Holbein, den Dichter weit schwerer als das ungezogene Publikum jener Uraufführung durch Vernachlässigung seiner Stücke schädigte, bis nach mehr als dreizehnjähriger Versumpfung ein neuer Mann sich an die Wiedererweckung der Grillparzerschen Dramen machte, dem der Poet mit dem ironischen Scherzgedicht dankte: »Laube, mein Paladin. Schon tot, wieder lebend geworden durch dich, mein tollkühner Sohn, so nimm den Grillparzer-Orden, sonst hast du gar nichts davon.« In Wirklichkeit schmückte Grillparzer seinen Paladin nicht bloß mit diesem, seinem literarischen goldenen Vließ; er brachte ihm bei der Mitwelt volle Häuser und verdienten Ruhm bei der Nachwelt. Laube setzte als Direktor des Burgtheaters der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach, einen vollständigen Grillparzer-Zyklus von der »Ahnfrau« bis zur »Esther« ins Werk. An eine Neubelebung von »Weh dem, der lügt« getraute sich der sonst so tapfere Grillparzer-Paladin nicht heran. Dafür nahm er bei Eröffnung des Stadttheaters nicht nur selbst den »Bruderzwist in Habsburg« mit Lobe als Rudolf II. in seinen Spielplan auf: nur dem Wetteifer mit dem gefährlichen Nachbar, um nicht zu sagen, einer Anwandlung von Schüsselneid, war es zu danken, daß gleichzeitig 1872 auch das Burgtheater über alle höfischen Bedenken sich wegsetzte und dieses tiefsinnigste Werk Grillparzers mit Lewinsky (Rudolf II.), Sonnenthal (Matthias), Mitterwurzer (unvergeßbar in der fanatischen Glaubensekstase Ferdinands II.), Gabillon (Khlesel) aufführte. Die geniale Dichtung verschwand nach sechzehn bis 1875 sich hinziehenden Wiederholungen aus dem Haus des Kaisers und die mit der Wolter falsch besetzte »Jüdin von Toledo« behauptete sich 1873 nach der Uraufführung unter Dingelstedt so wenig wie 1874 »Libussa«. Desto glorreicher erstand 1879 »Weh dem, der lügt«. »Weh dem, der zischt« betitelte Bauernfeld ein Gedichtchen, das am Morgen vor der Neuinszenierung in der »Neuen Freien Presse« gedruckt wurde und die ganze Grillparzer-Gemeinde (Marie Ebner, Betty Paoli u. s. w.) war wie die Universitätsstudenten zur Stelle, um jedem Unfug zu begegnen. Grillparzers Schmerzenskind bedurfte zum Glück nicht solcher Nothelfer und Schutzwachen. Der Dichter wurde selbst sein wirksamster Anwalt. In einer Mustervorstellung, wie sie nicht wiederkehrte, mit Hartmann als Leon, Lewinsky (Bischof), Robert (Attalus), Mitterwurzer (Galomir), Wessely, abwechselnd mit der Hohenfels (Edrita) und dem Spielleiter Gabillon (Kattwald), erwies sich »Weh dem, der lügt« dem blödesten Auge als ein dieser gediegenen, kunstreichen Fassung würdiges Kronjuwel der deutschen Komödie.

Was Laube und Dingelstedt als Pfleger Grillparzers dem Burgtheater gewonnen hatten, ging ihren Nachfolgern nicht verloren. »Die Jüdin von Toledo« wurde zumal durch Kainz' König dauernd erobert, und in der Hauptsache stammen die meisten Szenierungen des diesjährigen Zyklus aus älterer und neuerer Zeit. »König Ottokars Glück und Ende« erscheint wesentlich wie unter der Direktion Burckhard, »Sappho« und »Traum ein Leben« hat Alfred Berger seine gegenwärtige Bühnengestalt gegeben. Neu für den Zyklus vorbereitet wurde »Die Ahnfrau«, »Ein treuer Diener seines Herrn«, die Trilogie »Das goldene Vließ« und »Esther«.

Wer »Die Ahnfrau« noch im alten Burgtheater gesehen, wo seit den Tagen der Schröder Berta von derselben Schauspielerin wie das Gespenst dargestellt wurde, oder die Gruselstückchen der Meininger mitgemacht hat, wird wahrheitsgemäß bekennen müssen, daß die früheren Wirkungen von Grillparzers Erstlingsdrama mit den diesmaligen nicht zu vergleichen waren. Und völlig versagt haben nach einmütigem Urteil der Stimmfähigen die beiden ersten Teile des »Goldenen Vließes« und »Ein treuer Diener seines Herrn«, Fehlschläge, für die Wandlungen des Kunstgeschmackes nur in geringem Maße in Betracht kommen können, denn der Höhepunkt des Zyklus war die – aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts stammende – »Medea« mit Hedwig Bleibtreu. Grillparzer hat mit milder Ironie übertriebenen Schauspielerkultus abgewehrt; als er während seines Pariser Aufenthaltes 1836 in dortigen Zeitungen las, ein namhafter Sozietär des Théatre Français, Samson, habe eine Rolle »kreiert«, spottete er in einem spitzigen Tagebucheintrag: »Das tut bei uns der Dichter.« Grillparzer hätte vermutlich eher dem alten Praktikus Francisque Sarcey zugestimmt, der den Schauspieler l'interprète juré des Dichters nennt. Eine solche beeidete Dolmetscherin Grillparzers ist Frau Bleibtreu als Sappho, Königin Margarete, Königin Gertrud, Esther (in der »Jüdin von Toledo«). In jedem Wort und Zug dient sie mit seltener Treue dem Sinn und Stil des Dichters, ebenbürtig den Besten des alten Burgtheaters, die keinen Unterschied zwischen großen und kleinen Rollen kannten und machten. Ungeachtet dieser Tüchtigkeit der Künstlerin bangte mir vor ihrer Medea. Der Schatten der Wolter ist in solchen Aufgaben für uns Burgtheatergänger der höheren Semester nicht zu bannen. Noch hören wir ihren dreimal in Angst, Zorn und Weh wiederkehrenden Ruf: »Jason, ich weiß ein Lied«, Klänge, die ihren eifrigen Anhänger Johannes Brahms so tief trafen, daß er, wie er im Freundeskreis erzählte, nicht ruhte, bis er herausbekam, daß die Künstlerin ihre Schmerzausbrüche stets in D-Moll modulierte – allerdings mit einem Organ, das so einzig war wie Charlotte Wolter. In ihrer Medea wuchs dieser Rachedämon über Menschenmaß hinaus. Die Bleibtreu vermenschlichte die Medea; sie schuf eine gemeingültige Frauengestalt, die täglich da war und täglich sich erneut. Sie wandelte denselben Weg, auf dem Grillparzer im Volksgetümmel des Brigittenauer Kirchtags der Urbilder eines »Plutarchs der Unberühmten« gewahr wurde: »In der jungen Magd, die halb wider Willen dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und Medeen.« Und Grillparzers weitere Kunst- und Weltweisheit, »man versteht wahrlich die Berühmten nicht, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat«, könnte geradezu auf die Bleibtreu gemünzt sein. Die beste Königin Elisabeth in »Maria Stuart«, eine Marfa, die sich mit hohen Ehren neben der Wolter behauptet, ist nicht umsonst als Anfängerin durch die Schule des Volksschauspiels gegangen. Auf der Höhe ihres Könnens versteht sie heute die Berühmten, die Sapphos und Medeen so vom Grund aus, weil sie die Obskuren, die Philomena der »Erde«, die Rotadlwirtin in »Volk in Not« kongenial durchgefühlt hat. Vielleicht ist es ihr noch beschieden, 1919 in einem Anzengruber-Zyklus zwischen dem 80. Geburts- und dem 30. Todestag des Dichters die Bäuerin vom »Ledigen Hof«, vor allem aber die Großmutter Herbig im »Vierten Gebot« so zu spielen, wie diese Leidens- und Heldengestalt aus dem Volk bisher noch nicht in ihrer vollen schlichten Größe auf der Bühne gezeigt wurde. Einstweilen wird die Ehrengalerie des Burgtheaters vor der Wahl stehen, die Bleibtreu als Rotadlwirtin oder in majestätischer, finsterer Schönheit in einer heroischen Landschaft, der wilden Bergschlucht des (dem Maler Wilke wohlgeratenen) Schlußbildes der Medea, das Vließ wie einen Mantel um ihre Schultern tragend, aufzunehmen. Ein Ehrenplatz in der Gegenwart und in der deutschen Theatergeschichte gebührt beiden Leistungen.

Der »Medea« folgte »Ottokars Glück und Ende«. Reimers als Böhmenkönig löste Anschütz, Josef Wagner und Krastel ab. Devrient trat als Rudolf von Habsburg an die Stelle nicht minder berühmter Vormänner. Um solche Bühnendynastien ist es nicht anders bestellt als um leibhaftige Fürstengeschlechter; keiner der Thronfolger gleicht völlig seinen Vorgängern. Heurteur spielte Rudolf von Habsburg, wie er dem belustigt zustimmenden Grillparzer ankündigte, halb Kaiser Franz, halb heiliger Florian; Fichtner, dessen ich mich aus meiner Kindheit entsinne, war in aller Würde von unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit; Sonnenthal legte seine ganze Gemütswärme in den ersten Habsburger; Devrient war ein eleganter Grandseigneur. Trotz aller Verschiedenheiten verleugnete dabei kein einziger dieser Bühnenregenten die Zugehörigkeit zu einem und demselben Haus, die Abstammung aus dem alten Burgtheater, das nicht zum wenigsten ein Grillparzer-Theater war und ist. Nicht die Bühne bot aber in der sauberen Aufführung des »Ottokar« das anziehendste Schauspiel: die Sehenswürdigkeit des Abends war der Zuschauerraum. Wohin der Blick fiel, in Logen, Parkett, Galerien gab's Kinder aller Altersstufen, blonde, rote, schwarze, geputzte und schlicht gekleidete, Buben und Mädel, die Zukunft Wiens zu Gast beim größten Dramatiker seiner Vergangenheit. Wird sie ihn zum Wegweiser wählen in Kunst und Leben?

»Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings beseh'n, so wirst du, was ich schrieb und was ich bin, versteh'n.« Diese bündigste und beste Charakteristik seines Wesens und Schaffens bleibt die beste Einführung in jeden Grillparzer-Zyklus. Land und Leute Altösterreichs hat kein anderer tiefer ergründet und überlegener gemalt, die Sendung eines von theresianisch-josefinischem Geiste erfüllten Österreich kein Zweiter überzeugender und machtvoller verkündet als Grillparzer. Deutsche, Slawen und Magyaren in manigfaltigen Spielarten begegnen uns in seinen Stücken. Die ungarische Gräfin Erny, Kunigunde von Massovien, Libussa mit ihren Zauberschwestern, die Esther des Königs Ahasver wie die Rahel im Toledo des Königs Alfonso haben ihre Urbilder in manchem Gau unseres weiten Reiches. Und was in Herz und Kopf der Wienerin vorgeht, hat aus eigenen und fremden Liebesgeschichten niemand besser gewußt als Grillparzer. »Niemals hat ein Dichter, selbst Kleist nicht (nach dem Zeugnisse Freytags), die Zaubergewalt der ersten Liebe, das dämmerige, geschlossene Hinleben vorher, das jungfräuliche, furchtsame Erbeben, das kräftige Aufbrennen der Leidenschaft reichlicher und zarter geschildert.« Die Heimat dieser Hero wird aber rascher im Geburtsort ihrer anmutigsten Wiener Darstellerinnen, Wessely und Medelsky, als in Hellas zu finden sein. Kurzsichtige haben daraufhin das ganze Griechentum Grillparzers kurzweg verworfen. Auerbach sah in der Medea nur in Stearin gegossene Antike, Hero wurde eine Wiener Nonne genannt, und es fehlte nur, daß Sappho als Kaffeeschwester von Karoline Pichler geneckt wurde. Grillparzer hat es damit nicht anders gehalten als Shakespeare, von dem Goethe sagt: »Er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich nicht seiner lebendigen Zeit gleichgestellt hätte. Niemand hat das materielle Kostüm mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschenkostüm und hier gleichen sich alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich, Menschen sind es, Menschen vom Grunde aus, und denen paßt wohl auch die römische Toga.« »Seine Jugendeindrücke wird man nicht los«, lautet eine sinnverwandte Gewissenserforschung Grillparzers. »Meinen eigenen Arbeiten merkt man an, daß ich in der Kindheit mich an den Geister- und Feenmärchen des Leopoldstädter Theaters ergötzt habe.« Aus diesem Nährboden ist nicht zum Schaden beider Werke »Die Ahnfrau« und »Traum ein Leben« hervorgegangen, wie Schuberts Weisen, Märsche und Tänze vielfach künstlerische Steigerungen der Heurigenmusik unserer Schenken sind. In schalkhafter Übertreibung hat der Dichter dieser volksmäßigen Grundlagen seiner Art und Kunst in einem, bezeichnenderweise mit dem Professor der Ästhetik Robert Zimmermann geführten Gespräch gedacht: »Die Leute wollen immer Ideen haben in meinen Stücken, und Ideen habe ich auch, freilich nur solche, wie sie die Fiaker auch haben. Sehen Sie, die Sappho, die ist so eine Fiakeridee, da heißt's: ›Gleich und gleich gesellt sich gern.‹«

Wird unsere von Nietzsches Taumelkelchen trunkene, von der Problemdramatik Hebbels, Ibsens und Strindbergs übersättigte Jugend die tiefe Weisheit des schnurrigen Ausspruches verstehen? Klarheit und Wahrheit, den Mut der eigenen Meinung höher stellen als die Losung der Mode? »Nennt sich modern, das Lumpenpack, die dichtende Kanaille. Betracht' ich meinen neuen Frack mit seiner langen Taille und seh' im Geist der Mode Sturz in nicht gar weiter Ferne, trägt wieder man die Taille kurz, wo bleibt dann das Moderne?« So strenges Strafgericht durfte ein Schöpfergeist halten, der im Vormärz und mehr noch im Nachmärz, vor allem in seinem künstlerischen Testament, dem dichterisch, philosophisch, ethisch unerschöpflichen »Bruderzwist in Habsburg«, mit den dunkelsten Rätseln unseres Staatslebens gerungen, im Bastard Kaiser Rudolfs II. wie zuvor im Prinzen Otto von Meran und König Alfonso von Castilien kranker und entarteter Liebe mit erbarmungsloser, erschreckender Aufrichtigkeit den Spiegel vorgehalten und über die Greuel des Glaubens- und Völkerkrieges, über die Träger eines weltumspannenden Bundes der »Friedensritter« seinem Doppelgänger Rudolf II. Prophetenworte in den Mund gelegt hat, die wir gern wieder einmal von der offenen Bühne herab hören möchten. Das Burgtheater hat, weil es zur Stunde keinen überragenden Darsteller für Rudolf II. hat – eine Aufgabe, zu der ein Nächst- und Höchstberufener, Mitterwurzer, leider nicht gekommen ist – auf die Einreihung des »Bruderzwistes »Libussa« wurde 1920 im Burgtheater aufgenommen. »Der Bruderzwist in Habsburg« fehlt bis zur Stunde. »König Ottokars Glück und Ende« scheint ausgeschlossen – im Frei-Staat wie seinerzeit jahrelang im Unfreistaat des Vormärz.« in den Zyklus verzichten müssen. Begreifen wir, daß auch »Libussa« fehlt, für die Frau Bleibtreu alle Gaben mitbringt, so ist uns der Abschluß des Grillparzer-Zyklus mit Gerhart Hauptmanns »Elga«, der grellen und verfehlten Dramatisierung der Erzählung Grillparzers »Das Kloster von Sendomir« um so unbegreiflicher. Es war weder ein Paladin Grillparzers noch ein Paladin Hauptmanns, der »Elga« dem Esther-Fragment an die Seite stellte. Welcher Paladin Schillers würde am Ende eines Schiller-Zyklus dem Demetrius-Fragment den Schluß Laubes oder als sträfliche Zugabe die »Karlsschüler« folgen lassen? Grillparzers »Hannibal und Scipio«, oder als biedermeiersches Kuriosum Bauernfelds »Bekenntnisse«, zu dem Grillparzer ganze Szenarien und Auftritte beigesteuert hat, das Vorspiel der »Libussa«, am besten, wie bei der Wiedereröffnung des Burgtheaters – nach der Unterbrechung durch den Weltkrieg – die szenische Darstellung von Grillparzers Gedicht an Radetzky, hätten diesen verdrießlichen Ausklang des Grillparzer-Zyklus leicht vermeiden lassen.

Weiter den einzelnen Abenden und Leistungen, die meist guter Durchschnitt waren, nachzugehen, widerstrebt dem Ernst der Zeit. Der archimedische Punkt, die Welt aus den Angeln zu heben, war im August 1914 leichter gefunden als der gegenwärtig sehnlich gesuchte neue archimedische Punkt, sie wieder in die alten Fugen einzurenken. Heute, da Stunde um Stunde aus den Staatskanzleien der Entente und ihren Telegraphenagenturen die Macbeth-Hexen neue Schreckensposten in die Welt tragen, kommt einem alles Drum und Dran des Lebens, und nun gar des Bühnenlebens, mehr als einmal töricht und überflüssig vor. In ähnlicher Stimmung hat Turgenjew Antwort auf solche Fragen gesucht und gefunden, in seinem letzten Gedicht in Prosa, dem nach meinem Empfinden ergreifendsten Blatt seines Lebenswerkes: »In den Tagen, da Zweifel über das Geschick meines Vaterlandes mich niederdrücken, bist du allein mir Halt und Stütze, o du große, gewaltige, wahrhaftige und freie russische Sprache … es ist unmöglich, daß eine solche Sprache nicht einem großen Volke verliehen sei.« Ein Grillparzer-Zyklus bringt gleiche Trostgedanken. »Wenn ein Talent und ein Charakter zusammenkommen,« heißt es in Grillparzers ästhetischen Studien, »so entsteht das Genie.« Der Österreicher darf und wird in solchem Sinne Grillparzer als Genie grüßen, als Dichter, der sich »eben doch, trotz allem Abstande, für den Besten hielt, der nach Goethe und Schiller gekommen ist«. Und ein Stamm, der einen solchen Dramatiker hohen Stils hervorgebracht und seine Triebkraft mit Volksdichtern vom Schlage Raimunds und Anzengrubers noch lange nicht erschöpft hat – Zeuge dessen Karl Schönherr – wird alle Weltenstürme überdauern. Grillparzers Bühnendichtungen haben im Burgtheater den ersten Jahrhundertring angesetzt; er wird menschlicher Voraussicht nach nicht der letzte bleiben.


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