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Rochus Freiherr v. Liliencron

I.

(Zum neunzigsten Geburtstage.)

So sinnreich Jakob Grimm über den Segen des hohen Alters in der Berliner Akademie geredet hat, überzeugender als das weise Wort des Fünfundsiebzigjährigen wirkte das Beispiel seiner in frühen und späten Stufenjahren gleichmäßig fortgehenden Arbeit, sein Hinweis auf das Vorbild des bis an die Grenze des neunzigsten Jahres stetig weiter schaffenden Alexander v. Humboldt. Noch länger währende Tätigkeit als dem Sprach- und Naturforscher war Ranke beschieden: an seinem neunzigsten Geburtstage dankte der Nimmermüde den Festgästen mit einer Ansprache, die dem großen Anlaß überlegener gerecht wurde als die wohlgemeinten, wohlgebauten Glückwünsche seiner Schüler und Freunde. Ein Gleiches konnte am 8. Dezember 1910 den Gratulanten des Holsteiner Barons begegnen, der das Riesenwerk der Allgemeinen Deutschen Biographie aus heiklen Anfängen zu hoher Vollendung geführt hat. Arbeitsfreudig und jugendfrisch, als ob es gar kein Alter gäbe, empfing Rochus v. Liliencron noch in der jüngsten Woche treue Besucher. Es ist, als ob das Schicksal dem Wundermann, der sich die Erhaltung von mehr als zwanzigtausend fremden Lebensläufen angelegen sein ließ, in seinem eigenen Lebenslauf nach seinem eigenen Zeitmaß und Münzfuß lohnen wollte; es läßt ihn wohlbehalten sein drittes Menschenalter abschließen, wachen Geistes ein viertes beginnen. Andere rechnen nach Arbeitsjahren, Liliencron darf nach reich erfüllten Arbeitsjahrzehnten zählen.

Er stand am Ende der Vierzig, als er, von Ranke gewählt und geworben, dem Rufe der von König Max II. begründeten Historischen Kommission bei der Münchener Akademie folgte und Leiter eines Unternehmens wurde, das alle Deutschen, die seit den Anfängen der Geschichte bis auf die Gegenwart von Bedeutung in der Entwicklung ihres Volkes geworden, unbefangen und zuverlässig würdigen sollte: Glaubensboten, Fürsten und Fürstinnen, Staats- und Volksmänner, Krieger, Entdecker, Erfinder, Künstler, Gelehrte, Kaufleute, Landwirte, Techniker, Ketzer, Geheimbündler, Sonderlinge, Schwarmgeister, Abenteurer. Der Plan war so kühn und allumfassend, daß Heinrich v. Sybel, unbeschadet seiner sonstigen Vorliebe für Rochus v. Liliencron, wiederholt meinte: »Da wird nichts draus.« Zweifel, die das kühle Urteil Heinrich v. Treitschkes über die ersten Bände der Allgemeinen Deutschen Biographie eher verstärkte als entkräftete. Unbeirrt durch solche Bedenken, selbstsicher in den ungezählten großen Sorgen und kleinen Verdrießlichkeiten eines Hunderte von Mitarbeitern aller Stände und Fächer in seine Kreise ziehenden Redaktionsbetriebes, wurde Liliencron aller Hindernisse Herr, widerlegte er alle Unglückspropheten durch die Tat. Er hat nicht nur 45 durchschnittlich 50 Bogen umfassende Lexikonbände des ersten Alphabets zu gutem Abschlusse gebracht; seinem Eifer war es beschieden, für die zehn Bände Nachträge des zweiten Alphabets Generalstäbler und Gewährsmänner zu bestellen. Und wenn er auch eines Augenleidens halber 1907 mit bewunderungswürdiger Entsagung die Herausgabe der bis in alle Einzelheiten von ihm vorbereiteten beide letzten Bände mit dem Generalregister jüngeren Kräften überließ: untrennbar wie die Mühen blieben auch die Verdienste der monumentalen Schöpfung in alle Zukunft mit dem Namen Liliencrons verknüpft.

Zum Gelingen eines so seltenen Lebenswerkes war sicherlich die ungewöhnliche Lebensdauer Liliencrons die erste Voraussetzung. Die erste, nicht die einzige. »Liliencron ist eine universale Natur« – so hieß es in einem biographischen Blatt zu seinem 75. Geburtstage 1895 – »das heißt nicht nur, daß er offenen Sinn für alles, was schön und gut ist, besitzt, daß er nichts Menschliches sich fremd erachtet, daß er für Natur und Kunst und Menschenwelt ein warmes Herz und ein klares Verständnis sich erworben hat, sondern er ist Theologe und Germanist, Jurist und Diplomat, Musikhistoriker und Musiker, Essayist und Novellist in einer Person, und wer weiß, ob er, der nun ein weltliches Prälatenamt bekleidet, nachdem er Universitätsprofessor und Kabinettsrat, Bibliothekar und Intendant einer Hofkapelle gewesen ist, und wichtige politische Missionen erfüllt hat, nicht eigentlich zum Theaterintendanten oder Botschafter geschaffen war.« Jedenfalls ist die Mannigfaltigkeit dieser Anlagen dem Leiter der Allgemeinen Deutschen Biographie zu gute gekommen: sein Forschergeist und sein Künstlersinn, seine weltmännische Gewandtheit und nicht zum wenigsten die sprichwörtlich gewordene Herzenshöflichkeit der »liebenswürdigsten deutschen Exzellenz«.

Als gewissenhafter Gelehrter machte Liliencron stets Halt an den Grenzen der eigenen Kenntnisse. Er wußte genau, wann und wo immer er fremden Rat und Beistand einholen mußte. Feinem Spürsinn in der Witterung für die richtigen Helfer kam sein diplomatisches Geschick gleich, sie zu erwerben. Wie ein echter Dramaturg nicht ruht, bis alle Rollen von der größten bis zur kleinsten mit der berufensten Kraft besetzt sind, gab sich Liliencron nicht zufrieden, bevor es seiner Beredsamkeit und Geduld gegönnt war, Haupt- und Nebengestalten der Allgemeinen Deutschen Biographie in den rechten Händen zu sehen. Seinem Geschmack, seinem Einfluß hat das Monumentalwerk Musterbeiträge zu danken, wie den Arndt von Gustav Freytag, den Friedrich Wilhelm IV. Rankes, die Humboldts von A. Dove, Rudolf II. von Felix Stieve, Kaiser Wilhelm von Erich Marcks, Maria Theresia von Arneth, den Bismarck von Max Lenz, den Rümelin Schmollers, den Lassalle Pleners, den Ihering Mitteis' und eine kaum übersehbare Reihe ebenbürtiger Arbeiten unserer ersten Religions- und Rechtshistoriker, zünftiger und unzünftiger Kenner, unserer besten Philosophen, Philologen, Ärzte, Natur- und Altertumsforscher. Über den Siegen der ersten, in einem so langen Zeitraum ausgiebig gelichteten Kerntruppen vergaß der geborene Führer nicht, Neulinge heranzuziehen und in seiner gediegenen Schule anfangs mit bescheidenen, allmählich mit immer verantwortlicheren Aufgaben zu betrauen. In der Fülle geistiger und praktischer Fähigkeiten Liliencrons fehlte zudem nicht die dem genialsten Feldherrn unentbehrliche Schicksalsgunst: Wetter- und Schlachtenglück. Die Allgemeine Deutsche Biographie begann nach langen, mühevollen Vorbereitungen unmittelbar nach der Begründung des neuen Reiches: die entscheidende Beratung in der Münchener Akademie, an der außer Ranke und den Mitgliedern der Historischen Kommission auch als Verleger der Chef der Firma Duncker & Humblot, Dr. Karl Geibel, teilnahm, war – wie mir der Letztgenannte erzählte – in demselben Augenblicke zu befriedigendem Abschlusse gelangt, als Zeitungsausrufer die Meldung von der Übergabe Straßburgs verkündeten. Die große Botschaft wurde als gutes Vorzeichen willkommen geheißen, und zweifellos hatte an dem buchhändlerischen Erfolge der ersten seit dem Jahre 1874 fast ununterbrochen weiter erscheinenden Bände der Allgemeinen Deutschen Biographie die wachsende Freude an Kaiser und Reich nicht geringen Anteil.

Der Einsatz, den Liliencron für diese ergiebigen Ernten leistete, war freilich der höchste, über den er zu gebieten hatte: Verzicht auf viele eigene Lieblingsarbeiten. »So bewundernswert, vielleicht für viele zu beneiden dies Leben ist, so mag doch auch ihm die Tragik nicht fehlen« – meint der über Liliencrons Wesen und Wirken wohlunterrichtete Alfred Biese. »Wer weiß, ob nicht auch dieser edle und reiche Geist im Innersten seiner Seele sich gesteht: Was du erstrebtest, hast du nie erreicht, wo du stehen solltest, um dein Bestes geben zu können, um ganz du selbst zu sein, hast du nie gestanden. Denn wer will bei solcher Vielseitigkeit, bei so mannigfachem Talent für die Wissenschaft wie für die Praxis, für Theater und Musik, für Diplomatie u. s. w. sagen, wo das Schwergewicht liegt, wo vieleicht das Höchste erreicht wäre?« Tröstlicherweise haben solche Anfechtungen die Harmonie des Denkens und Fühlens unseres Patriarchen niemals getrübt. »Was immer das Höchste und Erstrebenswerteste bleibt, das ist« – nicht nur nach dem Zeugnis Bieses, vielmehr nach dem Eindrucke aller Urteilsfähigen – »in diesem Leben erreicht worden, es ist die in sich feste und doch heitere Weltanschauung, die ohne Bitterkeit, ohne Haß die Zusammenhänge der Dinge um das Tun und Treiben der Menschen beurteilt, und zwar gegründet in echter Selbstbescheidung und Demut.«

In Wirklichkeit hat sich Liliencron in keiner Wandlung seines vielbewegten Lebens, in keiner aus Pflicht oder Neigung ergriffenen Aufgabe zwiespältige Stimmungen anmerken lassen. Als Jenenser Professor wie als Abgesandter des Herzogs Bernhard von Meiningen beim Prinzregenten (nachmals König) Wilhelm von Preußen und als Vertrauensmann des Hauses Augustenburg in den Verhandlungen, die der Ehe des heutigen deutschen Kaiserpaares vorangingen; in der Studierstube und am Redaktionstisch, auf Bibliotheks- und Archivreisen wie als Schleswiger Klosterpropst, immer und überall machte er die gleiche Erfahrung: »Mich hat im Leben eine jede Arbeit, sobald ich sie ernsthaft anfaßte, eben aus diesem Grunde gefesselt und für den Augenblick befriedigt.« Solche Liebe und Mühe blieb selten unbedankt. Liliencron ist persona gratissima bei allen, die sein Lebensweg mit ihm zusammenführte, vom Kaiserhause und seinen Kollegen in der Berliner und Münchener Akademie bis zu den unscheinbarsten gelegentlichen Mitarbeitern der Allgemeinen Deutschen Biographie. Und seine wissenschaftlichen Hauptwerke behaupten sich bei den nachwachsenden Geschlechtern. Schon seine Doktordissertation über Neidhart, die Liliencrons Lehrer Müllenhoff an die Gebrüder Grimm und Moritz Haupt schickte, brachte dem Anfänger zu seiner Überraschung die Botschaft Haupts: er werde die Arbeit sogleich in seiner »Zeitschrift für deutsches Altertum« drucken lassen; Liliencrons Auffassung und Kritik treffe vollständig mit den Ergebnissen seiner eigenen Untersuchung zusammen. Etwa zwei Jahrzehnte später (1866) begrüßte Gustav Freytag die von Liliencron in Angriff genommene Sammlung der historischen Volkslieder der Deutschen mit uneingeschränkter Anerkennung für den Herausgeber, »einen der namhaften Gelehrten deutscher Sprach- und Altertumswissenschaft und seine gute Arbeit«. Fast ein Menschenalter hernach erwiderte Liliencron die ihm von der Universität Kiel verliehene Würde eines Ehrendoktors der Theologie mit der Widmung seines von der berufensten Kritik als grundlegend bezeichneten Buches: »Liturgisch-musikalische Geschichte des evangelischen Gottesdienstes von 1523 bis 1700.«

Die unablässige Beschäftigung mit Menschen, Melodien und Texten versunkener Zeiten hat Liliencron niemals der Welt und Kunst der Gegenwart entfremdet. In Meiningen, München und Schleswig lud er die Besten in sein gastfreies Haus. Empfänglich für gesunde Talentproben der Jüngeren, war er einer der ersten, die nachdrücklich auf Frenssens »Jörn Uhl« hinwiesen. Und der treue Pfleger und Mehrer kostbarer alter Herbarien hegt liebreich ein eigenes poetisches Hausgärtlein, in dem er edle, wohlschmeckende Früchte zieht. Liliencrons Shakespeare-Novelle »Die siebente Todsünde« führt auf ungewohnten Wegen in seltsame Gedankengänge zur Vorgeschichte der »Hamlet«-Dichtung. Und seine allerliebste Humoreske »Wie man in Amwald Musik macht« zeigt den Hüter des guten Alten als ebenso wohlbewanderten Kenner des guten und des bösen Neuen unserer modernen Musikpflege, als munteren Widersacher der Klavierpest.

Die lieblichste Blüte von Liliencrons Art und Kunst sind aber seine »Kindern und Enkeln erzählten Lebenserinnerungen: Frohe Jugendtage«. Der prächtige Hausvater hatte die Achtzig überschritten, als er uns 1902 mit diesem leider kaum 200 Seiten umfassenden schmächtigen Büchlein beschenkte. Goethes Verse

Warmes Lüftchen, weh' heran,
Wehe uns entgegen,
Denn du hast uns wohlgetan
Auf den Jugendwegen.

wären das rechte Leitwort für diese Erinnerungen, die einzig sind, wie die Persönlichkeit des Erzählers. Daß einem Einundachtzigjährigen das Herz aufging, als er sich in die Knaben- und Universitätszeit zurückträumte, könnte nicht überraschen. Das Erstaunliche bleibt, daß dieser Einundachtzigjährige durch Gestaltungskraft, durch seine Laune und Frische die meisten dreißig- und vierzigjährigen kernhaften Berufsliteraten beschämt, ganz zu geschweigen unserer neumodischen, als Greise zur Welt gekommenen Ästheten. Zur Erklärung dieses Rätsels führt eine für Liliencron rühmliche Schulanekdote, die er – sonst jeder Selbstgefälligkeit so fern, daß nicht das kleinste übelduftende Dunstwölkchen von Eigenlob am lichten Firmament seiner Jugendgeschichte aufsteigt – mit unverkennbarem Behagen erzählt: »Mein Abgangszeugnis« – vom Lübecker Gymnasium – »entläßt mich neben einer recht schmeichelhaften Zensur in den einzelnen Fächern mit der Bemerkung, mein Betragen sei in allen meinen Verhältnissen ›gut und liebenswürdig‹. Wenn einer der Unterzeichner der schönen Adresse, mit der man mich sechzig Jahre später bei Schluß der Allgemeinen Deutschen Biographie so hoch geehrt und so tief gerührt hat, dies liest, so wird er wissen, warum ich lachte, während ich dieses Zeugnisses hier erwähne.« Ganz andere Leute als Liliencrons Lübecker Lehrer haben ihm in allen späteren Stellungen seines Lebens die gleiche Wahrheit bezeugt: sein Betragen sei in allen seinen Verhältnissen gut und liebenswürdig. So leicht wie auf den Schulbänken der Hansestadt mag das nicht immer gewesen sein. Als diplomatischer Vertrauensmann deutscher Kaiser- und Fürstengeschlechter, als Präsidenten der Gelehrtenrepublik der Allgemeinen Deutschen Biographie, als scharfblickendem Zuschauer (um wiederum mit Goethe zu reden) des »Weltwirrwesens« dürfte Liliencron nicht verborgen geblieben sein, daß bei Hofe, unter Professoren, Künstlern, Schriftstellern so wenig als sonstwo auf Erden Engel die Mehrheit sind. Seinen reinen Sinn hat das niemals bekümmert. Die Richtschnur seines Handelns blieb stets nur das eigene untrügliche Gewissen. Und so erfuhr er die Genugtuung, daß seine Lebensführung wie sein Lebenswerk allen ohne Ausnahme die gleiche Ehrfurcht einflößt, daß der Schöpfer des » Monumentum Germaniae« der Allgemeinen Deutschen Biographie selbst ein vor bildliches Monumentum Germaniae geworden ist.

Dieses Germanien Liliencrons reicht wirklich so weit, bisweilen sogar noch weiter als die deutsche Zunge klingt. Von Anfang griff der ganz und gar nicht engherzige Grundplan der Allgemeinen Deutschen Biographie über die Grenzen des gegenwärtigen Deutschen Reiches hinaus nach der Schweiz, den Niederlanden, Deutschrußland, Deutschamerika. Und zumal unserem Österreich fiel von Anfang ein Löwenanteil zu. Liliencron nahm selbst Staatsmänner wie Andrassy, Politiker wie Smolka trotz ihrer magyarischen und polnischen Abkunft in den Kreis der Allgemeinen Deutschen Biographie auf, weil ihr Wirken bedeutsam geworden für die Entwicklung Deutschösterreichs. Leitete Liliencron in dieser Fürsorge für die habsburgischen Erblande zunächst zweifellos seine wissenschaftliche Pflicht, so folgte er überdies seiner alten Vorliebe für Land und Leute unserer Heimat. 1843 kam er zum erstenmal nach Österreich zum Besuche seiner Tante Gräfin Freya Baudissin auf deren Gütern Wasserburg und Karlstetten bei St. Pölten. Die Fahrt ging damals über Dresden elbeaufwärts nach Prag, von da mit Stellwagen nach Budweis, auf der Pferdebahn weiter nach Linz, von dort abermals mit dem Dampfer donauabwärts.

»Fröhliche Wochen« verlebte der Gast nun in Niederösterreich. Er besuchte die Wachau, saß im Lilienfelder Refektorium neben dem Abt und Castelli, verbrachte auch acht urvergnügte Tage in Wien. Wie der unermüdliche Hörer der Grimm, Ranke, Savigny, Homeyer u. s. w. in Berlin Zeit und Lust gefunden, edelste Geselligkeit zu genießen, im Hause Mendelssohn mit Felix und dessen Geschwistern vertrauten Verkehr zu pflegen und über dem Besuch des Hofschauspiels die herzhaft belachten Schnurren Fritz Beckmanns nicht zu versäumen, verschmähte Liliencron auch in der alten Kaiserstadt nicht, »sich auf das höchste an den unvergleichlichen Komikern der Wiener Lokalposse Nestroy und Scholz zu ergötzen«. Die köstlichste Frucht seiner Ferienreise kam aber seinen gelehrten Studien zu gute. Auf Wanderungen vom Baudissinschen Gute aus war er nach Wasserburg, Pottenbrunn, an die Traisen, ins Tullner Feld gekommen, Gegenden und Namen, die ihm in Neidharts Tanz- und Frühlingsliedern genau lokalisiert begegnet waren. »Sofort zeigte sich, daß die Nachahmer diese Manier des Meisters ohne Kenntnis der Lokalitäten nachgeahmt hatten«: Liliencron, der buchstäblich, wenn auch unvermutet, auf den Spuren Neidharts gewandelt war, schied auf Grund der leibhaftigen Anschauung der Lage dieser Ortschaften die echten von den falschen Liedern.

Auf allen späteren Reisen nach Österreich hielt es Liliencron wie auf jenem ersten Ausflug: ernste Forscherarbeit paarte sich mit hohem Kunstgenuß und gemütlicher Geselligkeit. So auch bei seinem vorläufig letzten Besuche Wiens im Jahre 1901. Als Ehrenpräses einer im Unterrichtsministerium tagenden wissenschaftlichen Kommission erfüllte Liliencron zum Erstaunen jüngerer Fachgenossen, unter anderen unseres Musikhistorikers Guido Adler, seine Gelehrtenpflicht mit bewunderungswürdiger Rüstigkeit. Trotz der anstrengenden Sitzungen fand er Zeit, die Witwe seines Landsmannes Hebbel zu besuchen. In dem angeregten Gespräche gedachte Liliencron auch Sophie Schröders und ihrer Darstellung der Mutter von Messina. Die beiden Achtzigjährigen kamen in feurige Erregung, als sie sich Einzelheiten jener großen Leistung ins Gedächtnis riefen. Liliencron wollte wissen, ob er Sophie Schröders Gestalt und Gebärden, als sie sich über die Leiche des Sohnes beugte, richtig beschrieb: »Die alte Frau Hebbel spielte sofort den gewaltigen Moment, und es war hochinteressant, in der begeisterten alten Schülerin das Abbild der längst entschlafenen Meisterin wiederzusehen.«

In demselben Oktober 1901 überraschte Liliencron auch mich, der bis dahin nur brieflich mit dem allverehrten Mann verkehrt hatte, unangemeldet mit seinem Besuche. Die Bitte der Hausfrau, unser Tischgast zu sein, nahm er gleich für den nächsten Tag an. Das rosige Gesicht stach jugendlich von dem schneeweißen dichten Haupthaar ab. Die geistige Beweglichkeit, der echte Frohsinn und die liebenswürdige Unterhaltungsgabe des alten Herrn war eine solche Herzstärkung nicht nur für den kleinen Kreis der Geladenen (Lobmeyr, Adler, Friedjung, Glossy, Schlenther, Thimig), sondern auch für die von dem wohlerfahrenen Großvater mit besonderer Güte behandelten Kinder, daß in mir nur der eine, leider unerfüllbare Wunsch aufstieg: unseren früheren Hausherrn Gabillon in unserer Mitte zu sehen. Während ich mir im stillen ausmalte, wie tapfer der Schleswiger und Mecklenburger miteinander gezecht und um die Wette Theatergeschichten erzählt hätten, brachte mir das Stubenmädchen die Nachricht, eben sei eine alte Dame vorgefahren; da sie aber gehört, daß wir noch beim Speisen seien, wäre sie gleich wieder fortgegangen. Die Karte trug den Namen: Gräfin Luise Schönfeld-Neumann. Im Nu sprang ich vom Tisch auf, um den Flüchtling einzuholen. So liebenswürdig der außerordentliche Zufall war, der die feinste Künstlerin des Alt-Wiener Burgtheaters just mit diesem Ehrengast zusammenführte, noch liebenswürdiger waren die beiden, das Mannheimer Kind der Haizinger-Neumann und der Holsteiner Kavalier. Beide Achtziger. Beide Charakterköpfe, die das Alter nur noch veredelte. Beide Meister eines vollendeten Konversationstones, in dem anmutiges Spiel, sichere Form und kerngesundes Naturell ungesucht eins geworden. Die Art, wie die Zwei sich miteinander und im Verkehre mit den anderen gaben, war, ohne altväterisch zu sein, nicht ganz die heutige: sie stammte aus ruhigeren Zeiten und wirkte mit dem Reiz einer älteren, nach meinem Gefühl edleren Kultur geselligen Verkehrs.

Ich glaubte, daß dieses Bild seinesgleichen nicht finden würde in meinem Gedächtnis. Ich sah damals nicht voraus, daß ich sechs Jahre später in Schleswig der Gast des Stiftspropstes Liliencron im adeligen Johanneskloster sein und den Patriarchen mit seiner Frau, der ebenbürtigen Lebensgefährtin des verehrten Mannes, zusammen sehen würde. Den Bund dieses Paares zu schildern, wird niemand wagen, der Liliencrons Geschichte seiner Bräutigamszeit aus den »Frohen Jugendtagen« kennen gelernt hat. Diese Blätter tragen die Aufschrift, die Liliencrons ganzer Ehe und in gewissem Sinne seinem ganzen Lebenslauf gelten darf: Sonnenschein.

II.

(Zum hundertsten Geburtstage.)

Am Säkulartag Rochus v. Liliencrons, 8. Dezember 1920, gedenken die Landsleute vor allem seiner Säkularschöpfung, der Allgemeinen Deutschen Biographie, zu deren Werkmeister ihr Anreger und Urheber, der erste Präsident der Historischen Kommission bei der bayrischen Akademie der Wissenschaften, sein Lehrer und Freund Leopold v. Ranke, mit untrüglichem Kennerblick ihn als den allein Berufenen auserwählt hatte. Liliencron stand am Ende der Vierzig, als Rankes Ruf an ihn erging, und am Ende der Achtzig, als er 1907 zum Schmerz aller Sachverständigen wegen seiner Augenschwäche von seinem Amt sich entheben lassen mußte. Fünfzehn Bände sollte nach der ersten entscheidenden Braunschweiger Unterredung zwischen Ranke und Liliencron die Allgemeine Deutsche Biographie umfassen, als Zeitgrenze für die von den Anfängen der deutschen Geschichte Einzureihenden das Todesjahr 1870 gelten; im Lauf der Arbeit wuchs indessen die Zahl der Bände nur für das erste Alphabet auf 45 und, da sich die Notwendigkeit der Ausdehnung der Zeitgrenze auf das Todesjahr 1899 und der Erweiterung auf ein zweites Alphabet herausstellte, auf 55 Bände. 53 hat er selbst herausgegeben, und für die Schlußbände so gründlich vorgesorgt, daß seine Nachfolger, von denen kein einziger sich als Ersatzmann des Unersetzlichen ansah, sich bequem an seine Anordnungen halten und vielfach noch von ihm druckreif bereitgelegte Manuskripte veröffentlichen konnten. Mehr als 1400 Mitarbeiter haben sich Liliencron als dem Generalissimus der Allgemeinen Deutschen Biographie zu Gebote gestellt. Über 26.000 Lebensbeschreibungen hat er planmäßig kundigen Fachmännern anvertraut, die Würdigung aller, für die Entwicklung deutscher Art in Staat, Kirche, Heer, Kunst, Wissenschaft, Technik, Handel, Volksleben bemerkenswerten Persönlichkeiten von Arminius bis auf Bismarck zuwege gebracht.

Zum Gelingen eines solchen Riesenunternehmens mußten sich seltene Gaben in einem Wesen zusammenfinden: wie sein Meister Ranke blieb er bis in das allerhöchste Greisenalter ausnehmend rüstig, geistesfrisch, arbeitsfroh, wohlgelaunt. Und für die Gesinnung, mit der er seine Heeresfolge zu gewinnen, zu behandeln und zu bedanken wußte, mag aus ungezählten Zeugnissen das anmutige Rundschreiben herausgehoben sein, mit dem er eine ihm zum achtzigsten Geburtstag und zugleich zum Abschluß des ersten Alphabets der Allgemeinen Deutschen Biographie dargebrachte Huldigung erwiderte: »Aus einer Vorlesung, die ich im Anfang der Vierzigerjahre bei Heinrich Steffens hörte, erinnere ich mich seiner Äußerung: die Blüte sei eine Entsagung der Pflanze, denn die Pflanze müsse das frische Blättertreiben drangeben, um die fruchtzeitigende Blüte zu schaffen. Gewiß mehr romantisch als botanisch; aber es kann doch als Symbol für Ihre biographische Arbeit gelten. Denn bei jeder der Biographien, die ich Ihnen auf den bestimmten Tag abzufordern kam, mußten Sie das rastlos frische Blättertreiben der wissenschaftlichen Tagesarbeit beiseite schieben, um an irgendeinem Punkt die geschichtliche Erkenntnis zu der sich abschließenden Blüte eines Menschenbildes zusammenzufassen. So war in der Tat jedes dieser Bilder und Bildchen für Sie eine Entsagung in jenem Steffensschen Sinn. Sie haben aber die gesamte Fülle solcher Opfer dem vaterländischen Zweck freudig gebracht, und wenn dann auch die zerpflückte Blüte mir mitunter etwas spät in mein Herbarium eingelegt wurde, so zeigte mir das nur um so mehr, wie groß für Sie die Mühe gewesen war. Mit solch hingebender Arbeit haben ja Sie selbst mit den anderen allen der 1418 die Allgemeine Deutsche Biographie eben zu dem gemacht, wofür Ihre mich wahrlich im tiefsten Herzen beschämende schöne Adresse und so manches gütige Wort im Gedenkbuch in Ernst und Scherz, in Vers und Prosa nun mir dankt und mich belobt.« Er werde danken, so oft sein Auge auf die ihm so wohlbekannten Züge der Schriften und Bilder fällt. »Bewahren Sie mir für immer die gütige kameradschaftliche Gesinnung, mit der Sie am Fuße des Z den froh herabsteigenden Bergführer begrüßt haben.«

Es war noch lange nicht die letzte Bergfahrt, von der der Achtzigjährige heimkehrte. Zunächst suchte und fand er den Weg in das Paradies der Kindheit zurück; er beschenkte seine Nächsten und später die ganze deutsche Leserwelt mit dem köstlichen Idyll »Frohe Jugendtage« (1902), das besser als jedes fremde Wort die sonnigen Eindrücke der Frühzeit, die Knabenjahre in Holstein, die Gymnasialzeit in Plön und Lübeck, die Kieler und Berliner Universitätssemester, die Beziehungen zu seinen großen Lehrern Ranke, Savigny, Müllenhoff, Droysen, seinen Verkehr mit Otto Jahn, den Gebrüdern Grimm, Bettina, Felix Mendelssohn, Liszt, der Crelinger-Stich und ihren künstlerisch begabten Töchtern, die dänischen Erlebnisse bis zu seiner Verlobung mit der Kopenhagener Patriziertochter Luise Tutein, Eltern und Brüder, Musikfreuden und Theatergänge, überlegene Naturen und drollige Käuze in seinem ureigenen Tone vor Augen stellt. Und er fuhr nach dem, den Bescheidenen überraschenden Widerhall, den die »Frohen Jugendtage« bei den Besten weckten, mit dem Diktat weiterer »Lebenserinnerungen« fort, die er selbst nicht herausgab, um die Empfindungen seiner Frau während des dänisch-deutschen Zwiespaltes zu schonen, so daß mir erst nach seinem Tode beschieden war, in der »Deutschen Rundschau« (März, April, Mai 1913) diese drei stoff- und schicksalsreichen Kapitel zu veröffentlichen, die über seine Bonner Dozentur, die Märztage 1848, Dahlmann und seinen Kreis, seine kriegerischen und diplomatischen Waffengänge im Unabhängigkeitskampf der Herzogtümer 1848 bis 1850, seine guten und trüben Erfahrungen als Professor in Kiel und Jena mit ungesuchter Kunst, schlicht und wahr, in Ernst und Humor gleich selbstsicher Aufschluß geben.

Diese Wanderungen des Selbstbiographen lenkten ihn niemals ab von den Wegen der Allgemeinen Deutschen Biographie, deren 46. bis 53. Band er 1902 bis 1906 herausgab; nach seinem Rücktritt hieß er Band 54 wohlwollend willkommen, und mit tiefer Bewegung empfing der Neunzigjährige den Schlußband 55 mit den letzten Nachträgen zum zweiten Alphabet. Die Veröffentlichung des (56.) Registerbandes, den er länger als ein Jahrzehnt zuvor nach seinem Entwurf von seinem treuen Schleswiger Hilfsarbeiter Graap hatte ausarbeiten lassen, erfolgte erst einige Monate nach seinem Tode; dieses alphabetische Namensverzeichnis zu allen vorangehenden 55 Bänden wich in einigen Punkten von Liliencrons Plänen ab. Sonst wies die Vorrede des Registerbandes, ein aus Alfred Doves Feder stammendes Meisterstück deutscher Prosa, Licht und Schatten weise verteilend, überzeugt und überzeugend nach, daß Rochus v. Liliencron und die Allgemeine Deutsche Biographie für alle Zeiten untrennbar zueinander gehören. Und über das Grab hinaus wirken seine Anregungen weiter für den unerläßlichen Ausbau seines Monumentum Germaniae.

Fünf Jahre nach Liliencrons Tod, zugleich fünf Jahre nach der Veröffentlichung des 25 Bogen starken, lediglich die 26.300 Biographien in alphabetischer Übersicht ordnenden Generalregisters, beschloß die Historische Kommission 1917 die seinerzeit schon von Liliencron vorbedacht ins Auge gefaßte »Anfertigung eines Autorenregisters« zu allen 55 Bänden der Allgemeinen Deutschen Biographie, »das einem oft geäußerten Bedürfnisse der Gelehrtengeschichte abhelfen wird«.

Ungelöst bleibt einstweilen dagegen die gleichfalls schon von Liliencron vielerwogene Frage, was einmal geschehen soll, wenn das Grenzjahr 1899 mit allen Abschlüssen erreicht sein würde? Die Nächstliegende, vorläufige Lösung, den von mir auf Friedrich Ratzels Rat begründeten, mit Jahr und Tag gehenden Deutschen Nekrolog, hieß Liliencron 1897 nicht nur als durchaus mit seinen Gedanken und Wünschen übereinstimmend willkommen; er schrieb nicht bloß für den ersten Band meines Jahrbuches den ersten Artikel. Er setzte sich, weder vom Herausgeber noch vom Verleger um Beistand gebeten, als das Unternehmen 1901 stockte, der Sache wegen aus freiem Antrieb für dessen Fortdauer mit seinem ganzen Einfluß und Ansehen dergestalt ein, daß die reichsdeutsche Unterrichtsverwaltung für fünf Bände Zuschuß zuwendete; vom zehnten bis zum achtzehnten Band nahm dann der Verlag Georg Reimer selbstlos allein die Sorge für das Biographische Jahrbuch und den Deutschen Nekrolog auf sich, der für die Jahre 1898 bis 1899 und zumal für die Jahre 1900 bis 1913 in Texten und Totenlisten ansehnliche Vorarbeit leisten könnte für die früher oder später unaufschiebbare Weiterführung der Allgemeinen Deutschen Biographie über die Zeitgrenze von 1899 hinaus.

Daß eine Allgemeine Deutsche Biographie auf die Dauer mit Bismarck so wenig schließen darf, wie sie zuvor mit Arminius, Luther, Friedrich dem Großen, Schiller oder Goethe hätte schließen dürfen, ist augenscheinlich. Das einzige Monumentalwerk, das an Größe des Entwurfes und Gediegenheit der Ausführung mit der Allgemeinen Deutschen Biographie sich vergleichen darf, die National Biography, führte von den Anfängen der englischen Geschichte bis zum Tode der Königin Viktoria 1901 zunächst in 63 Bänden 30.378 Personen vor Augen, die für Groß- und Größer-Britannien bedeutsam erschienen. Die Leitung dieser National Biography sah jedoch alsbald nach Vollendung dieser in 15 Jahren (1885 bis 1900) abgeschlossenen Riesenarbeit nicht nur die Notwendigkeit ein, die National Biography über das zuerst festgesetzte Grenzjahr 1901 weiterzuführen. Sie hatte außer der Tatkraft, die bei deutschen Gelehrten zweifellos in gleichem Maße vorhanden wäre, die Geldmittel, an denen es vor und noch mehr nach dem Weltkrieg in Deutschland fehlt, in drei Ergänzungsbänden, die im Jahrzehnt 1901 bis 1910 in Betracht kommenden Persönlichkeiten in derselben Art zu würdigen, wie das für die vom Beginn der christlichen Zeitrechnung bis zum Tod der Königin Viktoria eingereihten Persönlichkeiten in den vorhergehenden 63 Bänden geschehen war. Das Bedenken, kürzlich Verstorbenen gegenüber fiele unparteiisches Urteil nicht leicht, focht die Redaktion nicht an. Der Vorteil, unmittelbare Lebenszeugen aufrufen zu können, wiege jeden Nachteil auf: es sei kein Schaden gewesen, daß vormals Boswell über Johnson, Lockhart über Walter Scott, Morley über Gladstone geschrieben hätte; welch unermeßlicher Gewinn wär' es gewesen, eine Biographie Shakespeares von Ben Jonson oder einem anderen Zeitgenossen zu bekommen: die Weisheit der Welt – so sagte Sidney Lee, einer der Leiter der National Biography, 1912 in seinem Rückblick At a journeys end im Nineteenth Century – würde daraus bis an das Ende aller Tage Nutzen gezogen haben. Stolz berühmt sich dieser und mancher andere Stimmführer der National Biography, daß einzig und allein in Großbritannien – im Gegensatz zu allen von Fürsten und Akademien des Festlandes ermunterten biographisch-enzyklopädischen Sammelwerken – ausschließlich durch den Unternehmergeist und den Reichtum eines einzelnen Privatmannes solche Ziele, die Schöpfung eines so gewaltigen Monumentum Britanniae und sein steter, durch die Kostenfrage ungehemmter Ausbau, erreichbar wären. Vermutlich könnte die mir nicht zugängliche Absatzstatistik der National Biography in England, Amerika, Australien und den Kolonien Anlaß zu lehrreichen Vergleichen für die Kauflust und Kaufkraft deutscher und britischer Leserkreise bieten. Materielle Bedrängnisse, Gefährdungen der für die Allgemeine Deutsche Biographie erforderlichen, verhältnismäßig sehr bescheidenen Subventionen aus den der Historischen Kommission vom bayrischen Fürstenhof gewährten Jahresgaben, wie sie nach dem jähen Heimgang König Max' II. und vor dem Zuwachs durch die Widmung des Wittelsbach-Fonds drohend aufstiegen, waren bei der National Biography ausgeschlossen. Ihr Bürge und Zahler war Mister Smith, zuerst Teilhaber eines mit Indien in Verbindung stehenden Exporthauses, hernach der Verleger und bald der Freund von Thackeray und Browning, der Begründer des Cornhill Magazine und der Pall Mall Gazette, der eine Weltbiographie in der Art von Michauds Biographie générale sich zur Aufgabe setzte, als er sich – von den Geschäften zurückzog und sich nur mehr eine, an seinen bisherigen Unternehmungen gemessen, bescheidenere Tätigkeit vorbehalten wollte. Der Vertrauensmann, mit dem er sein Vorhaben besprach, war Stephan Leslie (1837 bis 1904), ursprünglich Theolog, dann als weitgereister Vorkämpfer der Sklavenbefreiung und Wortführer des Agnostizismus einer der namhaftesten Publizisten; Mitarbeiter der Saturday Review, Redakteur der Zeitschriften von Smith; im übrigen einer der berühmtesten Pfleger des Schweizer Bergsportes, der Erfinder des geflügelten Wortes vom Spielplatz Europas. Stephan Leslie redete Smith den Gedanken einer Weltbiographie aus und bestimmte ihn zur Begründung der National Biography, deren erster Baumeister und Bauführer er wurde.

Fünfzehn Jahre hindurch, 1885 bis 1900, erschien mit der Regelmäßigkeit einer Naturerscheinung am Ersten jedes Quartals ein Band der National Biography. Und noch erstaunlicher als diese Pünktlichkeit der musterhaft arbeitenden Drucker, Buchbinder, Verlagskräfte und Verkehrsbeamten bleibt die – zumal deutschen Beiträgern und Redaktoren unserer Allgemeinen Biographie – unfaßbare Strenge und Straffheit der Oberleitung, die es wirklich durchsetzte, 29.120 Artikel auf 29.108 Seiten unterzubringen. Nach dem unerbittlich eingehaltenen Raumansatz wurde durchschnittlich höchstens eine Seite für einen Artikel verstattet. Da jedoch der Umfang vieler Artikel unter diesem Durchschnittsmaß von einer Seite blieb, hinderte die Urnorm nicht, daß der längste Artikel (Sidney Lees berühmter, später in Buchform wiederholter Shakespeare) 49 Seiten, Wellington 34, Bacon 32, Cromwell 31, Königin Elisabeth 28, Walpole 28, Byron 24, Newton 23, Swift 22, Sterne 22, Wycliffe 21 Seiten in Anspruch nehmen durfte.

Der durchgreifende äußere Erfolg der National Biography kam nicht auf einen Schlag. Der Thronfolger, nachmals König Edward, erschien wohl bei einem zu Ehren der Ausgabe des Schlußbandes Mister Smith gegebenen Bankett; bei Lebzeiten sei Smith sonst, so meint Lee, nicht nach Gebühr für seinen Gemeinsinn belohnt worden. But he has taken his rank among national benefactors. Eine Votivtafel in der Kathedrale von Sankt Paul gedenke seiner Verdienste um die nationale Sache und sein Bild hängt in der Nationalgalerie.

Den Beinamen eines Wohltäters seines Volkes hätte Rochus v. Liliencron, einzig und allein der Allgemeinen Deutschen Biographie willen, von seinen übrigen Leistungen ganz abgesehen, gewiß mindestens mit demselben Recht, wie der Urheber der National Biography von seinem und jedem kommenden Jahrhundert zu gewärtigen. So töricht und unbillig es wäre, die Tätigkeit der National Biography zu bestreiten, ihren unschätzbaren Wert zu verdunkeln: die Allgemeine Deutsche Biographie hat Vorzüge, die der Eigenart deutschen Wesens, der Milde und Einsicht, mit der Liliencron, jeder Zuchtmeisterei fern, die Mannigfaltigkeit der Mitarbeiter als Präsident einer Gelehrtenrepublik zu Worte kommen ließ, gerecht wird. Das spricht nach dem Abschluß des ersten Alphabetes ein Brief aus Boston schlicht und herzbewegend aus: »Mein Herr,« so schrieb am 5. Mai 1900 »der Sekretär der Bürgermeisterei dieser schönen Puritanerstadt« C. W. Ernst an Liliencron – »vor einem Vierteljahrhundert dankte ich Ihnen für das gewaltige Unternehmen der Allgemeinen Deutschen Biographie. Das Werk schien dem Deutschen im Auslande besonders wichtig, zumal als Band an die Heimat. Zu dem Jubel, der Ihnen von Kennern kommt, zu der Anerkennung der Wissenschaft nehmen Sie nun auch den stillen Dank aus der Ferne und Fremde, zumal für die treue, deutsche Art, die durch alles weht, für die Redlichkeit des großen Ganzen. Mehrmals hätte ich Wünsche gehabt, die ich für mich behielt, da ich sah, wie selbst das Dictionary of national biography kaum an die Allgemeine Deutsche Biographie reicht. Das deutsche Werk gibt deutsche Art; das englische ist fast zu kühl und referierend und könnte von Fremden geschrieben sein. Sei dem, wie ihm wolle, Sie gaben uns ein Jahrtausend deutschen Wesens in handlicher Form. Sie ahnen wohl nicht, was das für uns Ausgewanderte bedeutet.«

So rein empfundener Dank wiegt und wog wohl für Liliencron selbst schwerer, als reiche äußere Ehren, als Komturkreuz und Exzellenztitel, deren er, zumal am Ende seiner Tage, allerdings nicht nur seiner wissenschaftlichen Leistungen willen, teilhaftig wurde. Minder vornehme, weniger anspruchslose und friedfertige Naturen als der »erblich belustigte« Liliencron hätten angesichts dieser späten Zeichen hoher Gnaden Klage führen dürfen über schwere Versäumnisse in der Vergangenheit, unverdiente Zurücksetzungen, bitteres Unrecht, über die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist. Als er 1850 wegen seiner Treue für seine schleswig-holsteinische Heimat von den dänischen Machthabern seiner Kieler Professur entsetzt wurde, fand sich für den von Grimm, Wackernagel, Simrock, Haupt warm empfohlenen ersten Meisterschüler Müllenhoffs weder in Preußen, noch in Bayern eine germanistische Lehrkanzel. Als er aus der Enge der damaligen Jenenser akademischen Zustände in meiningenschen Hofdienst berufen, dem Herzog Bernhard Erich Freund in guten und bösen Tagen als Berater treu zur Seite stand, bis er 1866 in die Katastrophe seines Fürsten hineingezogen, ohne Pension sein Amt aufgab, folgte ihm der völlig unverschuldete Haß des Nachfolgers Herzog Georg von Meiningen, der acht Jahre hernach, das Liliencron angebotene, von Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Altenburg zugedachte Kuratorium der Universität Jena durch seinen Einspruch zunichte machte. Die Hoftheaterintendanzen von Meiningen, Dresden, München, Berlin, für die, zu rechter Stunde berufen, Liliencron der rechte Mann gewesen wäre, blieben ihm unzugänglich. Die Absichten wohlgesinnter Freunde, Liliencron als Oberbibliothekar nach Wolfenbüttel oder Berlin zu ziehen, als Hofmarschall bei Kronprinz Friedrich, als Generaldirektor der Museen oder, wie Gustav Freytag das gern gesehen hätte, als Unterrichtsminister walten zu lassen, blieben fromme Wünsche. Und in der Anzeige, die Moritz Ritter meinem Buch »Leben und Wirken des Freiherrn Rochus v. Liliencron. Mit neuen Beiträgen zur Geschichte der Allgemeinen Deutschen Biographie (Berlin 1917)« in Sybels Historischer Zeitschrift gewidmet hat, erzählt er: »Noch einmal wurde Liliencrons Name nach W. Beselers Tod (1884), da es sich um die Neubesetzung des Bonner Kuratoriums handelte, von Althoff in einer Besprechung mit H. Nissen genannt, von diesem aber mit einer unwirschen Bemerkung über kleinstaatliche Diplomaten abgelehnt. Ich verhehlte meinem Kollegen, der mir die Sache gleich nachher mitteilte, nicht, daß er damit unserer Universität einen schlechten Dienst geleistet habe.«

Liliencron trug diese Fehlschläge, Kränkungen, Enttäuschungen mit Ruhe und Größe. Seine reine Seele blieb unberührt durch das häßliche Treiben anderer. So klug und tief er in die Welthändel schaute, den Wettkampf mit Stellenjägern wies er jederzeit von sich. Die größten Aufgaben, die er zu lösen hatte, wurden ihm, ohne daß er sie gesucht, ins Haus getragen: die berufensten Meister seiner Fachwissenschaften, die Germanisten und Geschichtsschreiber der Historischen Kommission warben ihn zur Sammlung der historischen Volkslieder der Deutschen und zur Leitung der Allgemeinen Biographie. Die Vertrauensmänner des Hauses Augustenburg wählten den vielerfahrenen, mit höfischem Brauch wohlvertrauten, altadeligen Klosterpropst von St. Johann in Schleswig zum Vollmachtträger, um die Ehepakten zwischen Prinzessin Augusta und Prinz (nachmals Kaiser) Wilhelm ins Reine und, das Heikelste!, Bismarck zu deren Genehmigung zu bringen. Eine besondere Genugtuung war es ihm, die von Philipp Spitta begonnenen, nach dessen Tod ins Stocken geratenen Denkmäler der Tonkunst zu retten und, als hoher Siebziger unvermutet zur Oberleitung des Monumentalwerkes berufen, auch an dieser Stelle mit den ersten deutschen Musikhistorikern als primus inter pares katholische und evangelische Kirchenmusik, Oratorium, das Lied in seinen Spielarten und Instrumentalmusik in Musterausgaben auferstehen zu lassen: »Mir macht diese Aufgabe große Freude, da sie sich meinen alten musikgeschichtlichen Arbeiten anschließt. War doch die Musik im Leben meine erste Liebe, so wird sie nun meine letzte Arbeit sein.«

Sie verklärte selige, sie erhellte düstere Stunden; sie wurde in allen seinen Stimmungen zum Sinnbild. Als er am Sterbebett seiner Frau saß, mit der er kurz vorher wie ein Patriarch die goldene Hochzeit im Kreise von Kindern und Enkeln gefeiert hatte, und als Luise zum Abschied seine Hände ergriff mit den Worten: »Es war ein herrliches Leben mit dir«, horchte er ihren immer leiser werdenden Atemzügen: »Ganz deutlich hab' ich den letzten Atemzug gehört und er war mir der Schlußakkord einer herrlichen Symphonie.« Drei Jahre später, als in Koblenz Weihnachten gefeiert wurde, die letzten, die dem Einundneunzigjährigen vergönnt waren, und die Seinigen zauderten, das Weihnachtslied anzustimmen, sagte der Urgreis: »Na, da muß ich wohl helfen«, setzte sich an den Flügel und spielte den alten Choral »Vom Himmel hoch, da komm' ich her« so machtvoll, daß die Seinigen nur mühsam sich bezwangen, um in ihrer Ergriffenheit zu Ende zu singen. Echte Glaubensfreudigkeit und unversiegbare Musikfreudigkeit, zwei Grundelemente deutscher Volksart, erquickten ihn vom Anfang bis zum Ausgang seiner Tage.

Selten wurde ein reiches Leben reicher in des Wortes edelster Bedeutung ausgelebt. Pflicht der Nachlebenden bleibt es, wie meine Biographie schon 1917 mahnte, »vor und nach seinem Säkulartag sein Vermächtnis zu vollstrecken. Eine Erneuerung und Ergänzung, zum mindesten eine Epitome der Allgemeinen Deutschen Biographie« – nach dem bewundernswerten, im Maßstab von 1:14 gehaltenen Index et Epitome-Musterband und den drei das Jahrzehnt 1901 bis 1910 behandelnden Supplementbänden der National Biography – »und Volksausgaben der Denkmäler der Tonkunst sollten diese Schätze weiter in die Massen tragen. Eine Sammlung seiner kleinen Schriften würde für die Feinheit und Vielseitigkeit des Prosaikers vor der ganzen deutschen Leserwelt Zeugnis geben, die Aufnahme seiner Novellette ›Wie man in Amwald Musik macht‹ in eine Universalbibliothek in seinem Sinne Propaganda machen für rechte und wider unrechte Musik; seine Ideen über ›Chorordnung‹ sollten geistliche Musik in altem edlen Stil wieder aufleben lassen und neuen schöpferischen Meistern die Wege bereiten; seine ›Frohen Jugendtage‹ wären durch die Bruchstücke seiner späteren Lebenserinnerungen und eine Auswahl seiner Briefe zu einem Ganzen abzurunden, das sein Wesen im Naturselbstdruck zeigen würde.« Je mehr von diesen Anregungen erfüllt würden, desto heilsamer für Geist und Gemüt der nachwachsenden Geschlechter.

Als Liliencron am 5. März 1912 starb, schlossen die Seinigen die Todesanzeige mit dem Wahrwort: »›Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein‹ war der köstliche Inhalt seines Lebens.« Der Bibelspruch gilt auch für sein Fortleben, wenn die Nachwelt ihm die rechte Nachfolge leistet. Dann wird er ein dauernder Segen bleiben. Und sicherlich waren Segen stiftende Schutzgeister vom Schlage Rochus v. Liliencrons Deutschland niemals nötiger, als in unserer fluchbeladenen Gegenwart, die zu schauen – ein letztes Glück! – ihm erspart blieb.


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