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Gottfried Keller in Deutsch-Österreich

Ein stoffreiches Buch, nicht ein anspruchslos aus dem Stegreif hingeworfenes biographisches Blatt wäre notwendig, die menschlich und künstlerisch gleich reichen Beziehungen des Schweizer Dichters zu Deutschösterreich auszuschöpfen. 1871, zu einer Zeit, in der die erste Auflage von Kellers, ein halbes Menschenalter vorher bei Vieweg verlegtem »Grünen Heinrich« als Ladenhüter so gut wie unverkäuflich im Buchhandel und halbverschollen auf den verstaubtesten Fächern der Leihbibliotheken schlummerte, verkündete Emil Kuh im Literaturblatt der »Neuen Freien Presse« vom 7. Januar den unvergänglichen Wert dieses autobiographischen Romanes, der in der Weltdichtung so einzig ist wie sein Schöpfer. In dem Begleitbrief, mit dem Kuh seinen Meisteraufsatz, in dem es bei aller Bewunderung an kritischen Vorbehalten nicht fehlte, dem Zürcher Staatsschreiber übersandte, hieß es: »Ich kenne in der deutschen Literatur außer Goethe, der auf jeder Lebensstation neben mir steht, nur zwei Menschen, welche entscheidend auf mich gewirkt haben: Friedrich Hebbel und Artur Schopenhauer. Seit der ›Grüne Heinrich‹ mein eigen ist, habe ich einen dritten zu nennen, der mich menschlich bedeutungsvoll gefördert, der als ein Erlebnis sich in mir eingezeichnet hat.« Kellers Gegenäußerung war gehaltener im Ton; sie verhehlte gleichwohl nicht den folgenreichen Eindruck, den Kuhs Lob und Tadel auf den heiklen, selbstkritisch angelegten Meister gemacht hatte. Gelesen hatte Keller den Artikel noch vor Eintreffen der Sendung Kuhs; ein Nachbar, der die »Neue Freie Presse« hielt, hatte ihm die Nummer, als sie ankam, frisch zum Frühstück geschickt. Kuhs Anerkennung ließ er nur bedingt gelten; seine Ausstellungen, die sich mit alten, selbstquälerischen Bedenken begegneten, beachtete er nicht bloß; in seinem bis zu Kuhs Tod 1877 fortdauernden, von beiden Männern überlegen geführten Briefwechsel verlangte der sonst so selbstsichere Künstler geradezu die Ratschläge des Wiener Kenners, die er bei seiner grundstürzenden Umarbeitung des Ur-»Heinrich« nicht immer zum Segen der Neugestaltung des mittlerweile in über 70 Auflagen erschienenen Buches vielfach beherzigte. Eine persönliche Zusammenkunft, die dem Zürcher ebenso am Herzen lag wie dem Wiener, kam durch allerlei verdrießliche Abhaltungen nicht mehr zu stande. Desto begieriger griff Keller, der Kuhs Kritiken und sein Buch »Zwei Dichter Österreichs – Grillparzer und Stifter« sorgsam gelesen, und bald witzig, bald wuchtig mit Zustimmung oder Widerspruch stets wie mit einem Ebenbürtigen beredet hatte, nach seiner Hebbel-Biographie, über die er F. Th. Vischer schrieb: »Ein hochinteressantes Werk, das mir aber, bis jetzt wenigstens, die Furcht erweckt, daß die beabsichtigte Aufrichtung der Statue sich schließlich in eine Niederreißung derselben verwandeln könnte. Die Maßlosigkeit des heutigen gereizten wienerischen Wesens, in welcher Kuh selbst wider Willen befangen ist, überschreitet hier die Grenzen.« »Freilich muß man auch sagen, daß Kuh das Wühlen und Grübeln in schadhaften Hautstellen und hohlen Zähnen an sich für wissenschaftlich und verdienstlich gehalten hat. Künstlerisch ist es nicht, und hierin ist der talentvolle Mann auch im Wiener Literatentum verwachsen, aus dem er sonst so löblich herausgestrebt hat.« In diesem Einspruch wider Kuhs Wahrheitsfanatismus äußert sich Kellers Unparteilichkeit gegen einen sonst hochgehaltenen Kunstrichter, dessen Lebenswerk er nach wie vor geziemend achtete. Er verwarf kein Blättchen Kuhs. Und wie sehr das Andenken des Wiener Kritikers in der Schweiz weiter blüht, beweist, daß Kellers Biograph Baechtold die Sammlung der »Kleineren Schriften« Kuhs forderte, die ein anderer Schweizer Literarhistoriker, dem wir die Veröffentlichung von Kuhs Gegenbriefen an Keller im Zürcher Taschenbuch 1904/05 danken, Alfred Schaer, 1910 für unseren Literarischen Verein besorgt hat: ein Schatzkästlein von Kameen: Goethe, Gilm, Klaus Groth, Halm, Hebbel, Hölderlin, Otto Ludwig, Mörike; nicht der geringste Schmuck darin sind die drei dem »Grünen Heinrich«, den »Sieben Legenden« und den alten und neuen Bänden der »Leute von Seldwyla« gewidmeten Studien.

Kuhs Beispiel weckte Nacheiferung. Auch Kürnberger hat in seinen 1877 erschienenen »Literarischen Herzenssachen« sich rückhaltlos zu Keller bekannt und sein Buch dem Zürcher geschickt, der in seinem Dankbrief sagte: »Gelesen habe ich das ganze Werk sofort mit demjenigen Interesse, welches der nie nachlassende Geist desselben erzwingt. Über die gesteigerte, ja fast absolute Form, in welcher Sie Ihre Zustimmung gefaßt haben, äußere ich mich bescheidentlich dahin, möge es mir vergönnt sein. Ihnen nie eine zu tiefe Herabstimmung zu bereiten.« Und im Folgejahr 1878 würdigte Wilhelm Scherer die »Zürcher Novellen« in einem Essay, der, von der Sachkenntnis des Historikers und Philologen durchtränkt, in dem Satz gipfelt: »Kellers Poesie ist nicht für jedermann aus dem Volke. Gleichwohl nimmt die Zahl derer, die an Gottfried Keller Freude finden, stetig zu und ich habe das immer für ein sehr gutes Zeichen wachsender ästhetischer Bildung gehalten. Möge es sich an den ›Zürcher Novellen‹ bewähren wie an den ›Leuten von Seldwyla‹. Es kommt dann wohl noch manches Fäßlein edlen Weines zutage, süß und schwer mit starker Blume, die Schnapsbuden aber werden leerer.« Ein Lobspruch, den Keller in einem Brief an Frau Justine Rodenberg launig hinnimmt: »Herr Professor Scherer hat mich herrlich einbalsamiert und vor der Welt geehrt.« Ein Dank, dem er ein paar Jahre später nach einer Keller-Kritik Otto Brahms den ironischen Seitenhieb folgen läßt: »Der Verfasser des bewußten Artikels ist aus der Schule des Professors Wilhelm Scherer, welche uns arme Lebende historisch-realistisch behandelt und mit saurer Mühe überall nur Erlebtes ausspürt und mehr davon wissen will als man selbst weiß.«

Die Dame, der gegenüber Keller in der Vertraulichkeit brieflicher Bekenntnisse diesen Stoßseufzer nicht unterdrückt, ist wiederum eine Deutschösterreicherin Marie v. Frisch, geborene Exner, die mit ihrem Bruder zu den besonderen Lebensfreunden des wählerischen, nicht immer leicht zu behandelnden Dichters gehört. Vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft bis zu Kellers Tod, zwei Jahrzehnte währte diese Beziehung, die den Wienern wie dem Zürcher nie durch das leiseste Wölkchen verfinsterte Stunden und den Lesern von Kellers Briefen die lieblichsten Gaben brachte.

Ende der Sechzigerjahre war Adolf Exner an die Universität Zürich berufen und am 19. Juli 1869, Kellers 50. Geburtstag, Zeuge des Fackelzuges und Kommerses zu Ehren des Dichters geworden. Die Anregung zur Feier hatten die Studenten aller Hochschulen gegeben, denen sich die Sängergesellschaften seiner Vaterstadt anschlossen. Acht Banner, berittene Chargierte und ein Musikkorps mit einem ansehnlichen Gefolge von Freunden, Bekannten, Bürgersleuten und Volk waren das leibhaftige Gegenstück schweizerischer, von Keller mit landsmannschaftlicher Vorliebe im »Grünen Heinrich« und dem »Fähnlein der sieben Aufrechten« geschilderten Volksaufzüge. Vor dem Stadthotel Bauer wurde Halt gemacht und Kellers, von Baumgartner vertontes, zur Nationalhymne gewordenes Lied »O mein Heimatland« angestimmt. Dem Sprecher der akademischen Jugend antwortete vom Balkon aus Keller: wenn so hell in das Kämmerlein des Poeten geleuchtet würde, fände man, wie er befürchte, am Ende nichts als ein altes, verlassenes Frauenzimmer – die Muse früherer Tage. Dann wurde der Dichter in vierspänniger Kutsche in die Tonhalle geführt, wo der Dekan der philosophischen Fakultät Georg v. Wyß dem Dichter das Ehrendoktordiplom überreichte. Seiner jubelnd aufgenommenen Promotion folgte ein Dutzend Reden, von Johannes Scherr, Kinkel und anderen. Sie alle übertraf Kellers Gegenrede, die in Scherz und Ernst, als Weck- und Mahnruf den Patrioten, den Volkserzieher, den Künstler, den Vollbürger des Freistaates bester und bündiger kennzeichnete als jedes fremde Wort. Hernach machte der Dichter einen Rundgang durch den Saal, um jedem besonders zu danken; dabei lernte er Adolf Exner kennen, der ihm gleich bei dieser ersten Begegnung wohl und immer mehr bei jeder folgenden gefiel. Frei von Überschwang, grundgescheit, empfänglich für echte Kunst, befreundet mit Semper und Brahms, auch dort, wo er Meistern ehrlich anhing, jedes neue Werk mit frischen Sinnen prüfend, wo's nottat, offen in Einwendungen und Änderungsvorschlägen, war er mit seinem heiteren Naturell und gemäßigtem Seelenklima ein Mann nach Kellers Geschmack. Und wie Adolf gewann Marie Exner, die 1872 den Bruder in Zürich besuchte, das Herz des oft als Murrkopf verschrienen Staatsschreibers, der dieser richtigen Tochter des großen Reformators unseres Unterrichtswesens, Leo Thuns bedeutendsten Ratgebers Franz Exner, diesem weiblichen, auch malerisch begabten Sproß der erlauchten österreichischen Gelehrtenfamilie auf seine aparte, in keinem Komplimentierbuch überlieferte Weise huldigte. Im Gespräch und, nachdem Adolf Exner 1872 an Stelle Iherings nach Wien zurückkehrt, in Briefen, von denen jeder einzelne ein humoristisches Kleinod war, gab er sich gemütlich und schnurrig, anschlägig und fürsorglich, wie ein schalkhafter, für das Wohl seiner Schützlinge geschäftig bedachter Märchengeist. Marie und Adolf Exner hätschelten den Staatsschreiber wiederum, ohne lang über das Wie nachzudenken, aus angeborner Herzenshöflichkeit genau in der Art, wie sie dem spröden, Schmeicheleien und Übertreibungen abholden, wahrhaftigen Mann wohltun mußte: durch die Tat. Marie Exner überraschte den alten Junggesellen Weihnacht um Weihnacht mit Wiener Bescherungen, wie sie nur feinstes Zartgefühl ersinnen konnte, und Adolf, dem Keller gern von seinen Plänen und Entwürfen Kenntnis gab, sagte schlankweg, was er darüber dachte, fast immer siegreich mit seinen Winken, die bisweilen selbst die Titelwahl einzelner Geschichten tapfer bestritten. Die Freundschaft, die Keller (wie einer seiner Briefe beginnt) für das »Hochgeehrte Exnertum« hegte, bewies der schwerbewegliche Staatsschreiber, der zeitlebens keinen Rutscher nach dem näheren Italien machte, durch wochenlange Besuche, die er den Wienern in ihrer Heimat abstattete. Im Weltausstellungsjahr 1873 kam Keller an den Mondsee, wo in der Einschicht »Am See« die vier Brüder mit Marie Exner und den Jugendfreunden Ernst und Otto Fleischl ein paar Bauernhäuschen bewohnten; Keller quartierte sich ebendort in Reichls Gasthaus ein. Tagsüber schrieb er an seiner Novelle »Leben und Tod«, die er auf Adolfs Wunsch, der diesen Titel altfränkisch, sentimental nannte, »Dietegen« umtaufte; er malte auch um die Wette mit Marie Salzkammergutveduten nach der Natur, die er der Wiener Freundin hinterdrein in der spatzhaften Form stiftete, daß er ihren Namen als den der Zeichnerin mit lateinischen Floskeln auf das Blatt setzte. Die stärkste Gunstbezeigung Kellers für die Wiener war aber die grenzenlose Nachsicht, mit der er, der unverdrossenste, ausdauerndste Zecher, ihren geschlossenen Wassertrinkerkreis beim Abendschoppen um sich duldete. Zu guter Letzt, es war wohl just am 19. Juli, Kellers 44. Geburtstag, vergalten die Wiener dem Ehrengast seine Großmut. Sie rückten, alle fünf sozusagen Rokoko gewandet, in unverfälschtem G'schnasaufzug vor Kellers Herberge, die Männlein den Dreispitz als Kopfbedeckung, Adolf Exner als Vorreiter auf einem der einer ausgedienten Dorfkalesche vorgespannten Bauernpferde, in mutwilliger Ferienstimmung den Dichter neckend, der sich ihre fröhlichen Einfälle behaglich bekommen ließ und an einem abschließenden Tänzchen sich weidlich ergötzte. Wie wohl dem Staatsschrciber unter den jungen Kernmenschen zu Mute war, zeigen nicht nur seine Zürcher Episteln, in denen er dem »hochschätzbarsten Fräulein Marie« noch vielmals für die gute Behandlung und Freundlichkeit dankt. Auf Weihnachten will er ihr trotz allem Sträuben die Ohrringe seiner Großmutter schicken für den Fall, daß sie sich nächste Fastnacht wieder in Rokoko kleiden wollte. Dann bestellt er Grüße an den »unbeschlichenen Tyrannen Adolf« (Exner), ferner die Filiale Winimund und Siegewarter (so munter spielt er mit den Namen des Brautpaares Siegmund Exner und Emilie Winiwarter), an den Schützenkönig Ernst und den Schürzenkönig Otto F(leischl). Und deutlicher noch als durch all diese Gaben und Scherze bekräftigt er seine Gesinnung dadurch, daß er im Juli 1874 wieder bei den Wiener Freunden, zunächst wochenlang in einem Gartenzimmer von Adolf Exners Heim, Ferienaufenthalt nimmt, dann mit ihnen einen Abstecher nach Reit bei Brixlegg macht. Auch diesmal schickt der Heimgekehrte dem »schönsten Fräulein Exner und den verehrtesten Anwesenden« seinen mit den putzigsten Reiseanekdoten gewürzten Dank. Die bald nachher proklamierte Verlobung Marie Exners mit Professor Anton v. Frisch freut ihn, und zur Heirat spendet er telegraphisch ein Scherzgedicht, das mit dem Wortwitz einsetzt: »Macht frisch Wetter heut.« Er verheißt, jedenfalls noch mehr als einmal nach Wien zu kommen, ein Vorhaben, das nicht mehr verwirklicht wurde: die Freunde sahen einander nur ein einzigesmal wieder, 1883, als Adolf Exner zum Universitätsjubiläum nach Zürich kam.

Ihr Briefwechsel stockte indessen nicht in den sechzehn Jahren von 1874 bis 1890. Heitere Zwischenspiele fehlen nicht, die nur mehr als einmal durch Krankheitsfälle, häusliche Heimsuchungen abgelöst und herzbeklemmend beendigt werden durch Kellers letzten Brief an Marie Frisch, in dem er der »verehrten braven Frau Professorin« schönstens für die Bilder ihrer vier Haimons-Kinder dankt und ihre Einladung an den Wolfgangsee wehmütig mit der schauerlichen Geschichte der qualvollen Krankheit und des Sterbens seiner jahrelang an einem Herzklappenfehler hinsiechenden Schwester beantwortet: »Ein wahrer Holbein! Ich habe über die Zeit immer mit Heulen zu kämpfen gehabt. Ein Fläschchen Tokaier, das sich bei den schönen Weinflaschen fand, die Ihr mir vor einem Jahr oder so geschenkt, lieferte ihr die letzten Erquickungstropfen in einem winzigen Gläschen.« Der Brief an Marie Frisch ist nach Baechtolds Zeugnis der letzte, mit klarer Hand geschriebene Kellers, der dazumal schon selbst kränkelte und nicht ganz ein Jahr nach seinem 70. Geburtstag, 15. Juli 1890, wie er voraussah, »nicht mehr vermeiden konnte, von einem bestimmten Fuhrwerk«, dem Leichenwagen, »Gebrauch zu machen«. Den Wiener Freunden blieb der ganze Mann so dauernd nahe, wie der Dichter allen guten Deutschen in und außerhalb der Schweiz. Zum Zeichen treuer Erinnerung ließ vor wenigen Jahren Hofrat Siegmund Exner an Reichls Gasthaus in See am Mondsee in aller Stille eine Marmortafel anbringen mit der Inschrift:

» In diesem Hause wohnte und dichtete Gottfried Keller im Sommer 1873.«

Es ist hoffentlich nicht das letzte Denkzeichen, das die Wiener Freunde dem Zürcher Dichter widmen. So freigebig sie Baechtolds (von Ermatinger erneute) Biographie durch Überlassung ihrer Briefschätze und sachliche Mitteilungen bereicherten, in begreiflicher, nur allzu weitgehender Zurückhaltung haben sie von niemandem weniger erzählt als von sich selbst. Nun wäre nichts Gottfried Kellers Art und dem Wesen des »Exnertums« widerstreitender, als selbstgefälliges Ausmalen ihres Verkehrs. Sagt sich der Wissende aber, daß Johannes Brahms an jedem erreichbaren Brief Kellers solchen Gefallen fand, daß er ihn eigenhändig abschrieb, und entsinnt man sich, daß die leider lang geschiedene Emilie Exner Über Emilie Exner vgl. meine » Biographenwege«, Berlin 1913 (49-63). mit dem richtigen Ton und Takt in zwei Privatdrucken die Familienchronik der Exner in Brunnwinkel und den Kreis der Villa Wertheimstein schilderte, dann ist der Wunsch erlaubt, daß ein Überlebender Gottfried Kellers Briefe an die Geschwister Exner durch ihre Gegenbriefe, von denen Baechtold nur karge Proben gibt, ergänzen und uns ausführlichere Aufschlüsse über ihre Erlebnisse mit dem Zürcher gönnen möge.

Sein Andenken ist hierzulande solcher und anderer neuer Pflege doppelt wert, weil wir tief in seiner Schuld stehen und es nur zum eigenen Heil ausschlagen wird, wenn wir seine Liebe zu unserer Heimat mit hingebender, verstehender Gegenliebe lohnen. Das im einzelnen zu erweisen, würde wiederum einen noch von keinem Fachgelehrten oder Liebhaber versuchten besonderen Gang auf Kellers Spuren durch Österreich verlangen. Wagen wir ein paar Andeutungen für diese Zukunftsaufgabe. Die Märzrevolution begrüßte er mit einem heute nachdenklicher denn je stimmenden Gedicht:

Wien 1848.

Stadt der Freude, Stadt der Töne,
Morgenfrohes, stolzes Wien,
Dessen frühlingsheitere Söhne
Nun der Freiheit Rosen zieh'»:
Ja, wir haben uns versündigt.
Als wir grollten deiner Lust,
Deinem Jauchzen, das verkündigt
Eine starke, tiefe Brust.

Auf den zauberischen Wogen
Deutscher Tänze schwebtest du;
Wetter kamen schwül gezogen.
Schelmisch logst du üppige Ruh.
Eisgrau saßen tote Wächter
Vor dem klangerfüllten Haus.
Sieh', da sandt'st du edle Fechter
Singend in das Frührot aus.

Den Fehlschlag dieser Hoffnungen zeigt das ein Jahr später, 1849, entstandene, augenscheinlich auf Erzherzog Johann als Reichsverweser gemünzte satirische Gedicht:

Der Gemsjäger.

Es kam ein alter Jägersmann
Herab an unsrer Ströme Flut,
Er hatte kurze Hosen an
Und trug 'nen spitzen Jägerhut.

Er ging so ernst, er sah so schlicht
Wie seiner Joppe graues Tuch;
Aus seinem Mund ging das Gerücht
Von manchem guten Weidmannsspruch.

»In seiner Tasche«, dachten wir,
»Birgt er gewiß das Alpenkraut,
Für altes Leid das Elixier,
In hoher Einsamkeit gebraut.

Und wachsam recht nach Jägerart
Späht rings sein scharfes Aug' herum
Und seine sich're Kugel wahrt
Vor Feinden unser Heiligtum.«

Wir holten ihn mit Kränzen ein
Und führten ihn mit frohem Mut
In unser ernstes Haus hinein
Und ernsthaft zog er seinen Hut.

Nun sitzt er d'rin, der Spaß ist aus.
Verriegelt ist die neue Tür
Und aus dem totenstillen Haus
Blinzt nur des Jägers Rohr herfür.

Eine herrliche Zukunft sieht er dagegen für die deutsche Bühne aus dem Wiener Volkstheater aufsteigen. Als er 1850 mit seinem Freunde Hettner, dem Theoretiker, als schöpferischer Künstler die Lösung dramatischer Aufgaben sucht, »vergnügt er sich in allen möglichen Dummheiten der Wiener Possen. Wenn die tragische Schauspielkunst täglich mehr in Verfall gerät, so hat sich dafür in der sogenannten niederen Komik eine Virtuosität ausgebildet, welche man früher nicht kannte.« Jeder Satz seiner Betrachtungen über Altwiener Vorstadtstücke ist ein Treffer. Er vergleicht ihre Zustände dem englischen Theater vor Shakespeare. Nur sieht er, zumal in den Couplets, in politischen und sozialen Anspielungen Ansätze zu politischen Komödien großen Stils: »Der deutsche Michel, Belagerungszustand, Deutsche Einheit u. s. w. sind meist der Gegenstand dieser Couplets und ziemlich erbärmlich zusammengereimt, und doch ist in alledem mehr aristophanischer Geist als in den Gymnasialexerzitien von Platen und Prutz« – die Entwicklungsfähigkeit der Wiener Volkskomödie von Nestroy und Kaiser bis auf Anzengruber hat Keller in phrophetischem Gemüt vorausgeahnt.

Über der lebendigen Wiener Posse mißachtet er neue Anläufe der Wiener Tragödie nicht. Durch Hettner war ihm der Wiener Bachmayr empfohlen worden: ein begabter Bauernabkömmling, in seinem bürgerlichen Beruf Advokaturskonzipient, der mit dramatischen, niemals aufgeführten Erstlingen die Aufmerksamkeit von Grillparzer, Bauernfeld, Halm, nicht aber die Gunst Laubes auf sich gelenkt hatte. Zornmütig und überreizt nahm Bachmayr die Zurückweisung seines Volksdramas »Der Trank der Vergessenheit« zum Anlaß einer Preßfehde, in der er, wie zuvor in einem Privatbrief an Laube, öffentlich foderte, der neue Leiter des Burgtheaters möge als Schiedsrichter, ob sein Stück mit oder ohne Grund abgelehnt wurde, den jungen – Kaiser Franz Josef anrufen. Trotz oder wegen dieses abenteuerlichen Verlangens des Brausekopfes trat Hettner, der dem Stück in Brockhaus einen angesehenen Verleger verschaffte, und Keller auch publizistisch als Fürsprecher des »Trankes der Vergessenheit« ein. Daß und warum Bachmayr trotz dieser bedeutenden Anwälte mit keiner seiner früheren oder späteren dramatischen Arbeiten durchdrang und ein unleugbares Talent so heil- und hoffnungslos verzettelte, daß er 1864 lebensüberdrüssig – wie der Held in Saars Novelle Tambi, dem er wohl als Urbild diente – sich ertränkte, hat Minor, Band 10 des Grillparzer-Jahrbuches, in einer vorzüglichen Biographie Bachmayrs berichtet und dabei Gottfried Kellers inzwischen in den nachgelassenen Schriften wiederholter Würdigung des »Trankes der Vergessenheit« gedacht.

Angelegentlicher als mit dem verunglückten Wiener Tragiker des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Keller in der Zürcher Novelle »Hadlaub« mit dem Wiener Aufenthalt dieses Minnesängers, den er zum Schreiber der Manesseschen Handschrift macht. Keller malt liebreich das Volksleben im mittelalterlichen Wien und auf dem Tullner Feld, erneut die Tanzlieder Nitharts von Reuenthal, stellt Soldaten, Handwerker, Scholaren, Kirchweih und Raufhändel vor Augen, in denen ein rätselhafter alter Spielmann zu grunde geht, in dessen Nachlaß Hadlaub eine Handvoll Lieder des v. Kürenberg findet, »Erzeugnisse eines wirklichen und ganzen Dichters. Erstaunt ahnte er in diesen kleinen Proben einen von hundert anderen Sängern unterschiedenen Geist, der in unbekannter Einsamkeit waltete.«

Mit gleicher Ehrerbietung spricht er von Grillparzer. Als ihm Emil Kuh 1871 den »Armen Spielmann« schickt, sagt er: »Es liegt ein tiefer Sinn in der scheinbar leichten Arbeit: Die Gewalt der absolut reinen Seele über die Welt.« Nach Grillparzers Tod schreibt er: »Es wird das seltsame Phänomen stattfinden, daß in der Gesamtausgabe ein mehr als Achtzigjähriger erst nach seinem Tode seinem Volke recht bekannt und zugänglich wird.« Grillparzers Gedichte nennt er »einen wichtigen Band, der während der letzten vierzig Jahre manchen Mann berühmt gemacht hätte. Es sind doch in Ton und Stimmung vollendete Sachen darin und gar nicht wenige.« Je länger sich Keller in Grillparzers Lebensarbeit versenkt, desto mehr wundert er sich über die »säuerliche, miserable Art, wie manche Norddeutsche von Grillparzers Überschätzung sprechen. Es ist doch fast jedes Stück eine Entdeckung von Schönheitsfundgruben, es reicht keiner der letzten vierzig Jahre hinan. Und in den Prosaaufzeichnungen (Biographisches) ist er von klassischer Angemessenheit, Redlichkeit, Verständigkeit, der wahre Kontrast zu der Süßigkeit und Tiefe der Dichtungen.« Im Innersten getroffen, läßt er, als ob Kuh damit zugleich manchen Widerspruch in Kellers eigenem Wesen endgültig bezeichnet hätte, dessen schiefes Urteil gelten: »Ihr Spruch von dem Mangel eines tiefen Wohlwollens ist hart und wahr wie ein gerechtes Urteil. Vielleicht mangelt auch noch ein jüngerer Bruder desselben, ein gewisser Leichtsinn, welcher den Mann von Jugend auf so ängstlich an der heimatlichen Bureaukratenkarriere kleben und ihn nie frisch und frei in die Welt hinaus segeln ließ.« Manche Züge des Charakters und der Schicksale der Beiden würden zu einer plutarchischen Parallele laden, die tiefe Heimatliebe, der unerbittliche künstlerische Ernst, die stolze Bescheidenheit im Bewußtsein echter, angeborener, schöpferischer Naturkraft. Der Größere und der Unglücklichere war Grillparzer. Unter dem Druck eines lähmenden Despotismus fehlte ihm die unzerstörbare Zuversicht auf die republikanische Freiheit, die Kellers Leben und Schaffen trostreich durchwärmt und erhellt.

So eindringend wie mit Grillparzer hat sich Keller mit keinem andern deutschösterreichischen Dichter in seinen Aufzeichnungen befaßt. Wie gut er aber Anastasius Grün, Lenau, Stifter kannte, geht aus gelegentlich hingeworfenen, in aller Knappheit tiefgründenden Worten hervor. Und so hart und heftig er Halbe wie Ludwig Eckart anfassen konnte, dem er (in einem auf unserer Stadtbibliothek aufbehaltenen Brief) auf den Kopf zusagte, wie er über ihn denke, das Lebendige kannte und rühmte er nach Verdienst. Roseggers kleine Geschichten bevorzugte er; halb anekdotische Skizzen wie »Ein Pfeiflein zur rechten Zeit«, »Ums Vaterwort«, »Wie ich mit der Theresel ausging«, galten ihm als Meisterstücke. Der Tierfreund hatte seine Lust an Marie Ebners »Krambambuli« und als ein krittelnder Schulmeister »Das Gemeindekind« in seiner Gegenwart mäkelnd ganz nett nannte, fuhr er derb schwyzerisch auf: »Das ischt nicht nett, das ischt gut.« Daß er auch den Dichter der »Kreuzelschreiber« kannte, erfuhr ich kürzlich aus Kalbecks Ausgabe seiner Briefe an Heyse: er dankt dem Münchener Freund für ein Geburtstagstelegramm mit der Wendung: »G'freut hat's mi ganz Anzengruberisch.« Die Sympathie war gegenseitig. Als ich den Wiener Dichter das erstemal in seinem Heim besuchte und unwillkürlich sein Bücherbrett musterte, auf dem Fritz Reuter und die »Leute von Seldwyla« einen Ehrenplatz einnahmen, nannte der Lobkarge Keller kurzab »einen brillanten Burschen«. Das Wort ging mir ebenso nach, wie ein handschriftlicher Eintrag der Ebner. Am 9. Juni 1875 schrieb sie, die nach dem Scheitern ihrer dramatischen Pläne neue Wege als Erzählerin suchte: »Ich lerne Gottfried Keller kennen. Welch ein Meister. Marie Ebner, da lerne, lerne, lerne!« Das Gebot der Dichterin sollten wir andern alle, Forscher, Kritiker, Bürger, beherzigen: Lerne, lerne, lerne von Gottfried Keller! In Kunst und Leben zählt er zu den Meistern, bei denen du nie auslernst.


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