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Der wahre Jesus

Ich habe vor einiger Zeit damit begonnen, meinen russischen, französischen und anderen Genossen – kurz, meinen Genossen – wahre Geschichten zu erzählen. Die »Sujets« meiner Erzählungen suche ich in der Wirklichkeit, ohne dabei eine Einzelheit von Bedeutung zu ändern … Die kleinen Dramen oder Komödien sind deshalb aus lebendigem Fleisch und Blut.

Eine solche Geschichte will ich jetzt erzählen: die von Jesus. Seit Jahren habe ich versucht, die wahre Gestalt des großen Menschen jenseits aller Tradition und mystischen Verkleidung darzustellen. Ich habe alle »Heiligen Bücher« gelesen, die sich mit ihm und seiner Lehre beschäftigen. Ich bin in ehrlichem Forschen nach Wahrheit den Arbeiten rechtschaffener, kluger und objektiver Gelehrten nachgegangen, welche die Ursprünge des Christentums bloßgelegt haben, wie die Archäologen die mächtigen Trümmer Thebens und Trojas ausgruben. In aufrichtiger Bewunderung vor wahrer Größe habe ich versucht, ein Evangelium zu schreiben, das ich das Evangelium der Wiederherstellung nenne, weil es die wirkliche Bedeutung des Menschen Jesus und seiner Lehre wiederherstellt, welche die Religion gänzlich verwischt hatte.

Die Vergangenheit berichtet allen, die hören wollen:

Um das Jahr 800 römischer Zeitrechnung – also vor 1900 Jahren – lebte ein armer jüdischer Prophet und predigte in Galiläa.

Er gewann kein großes Ansehen. Er lehrte nur einige Monate, vielleicht nur ein paar Wochen. Kein jüdischer oder römischer Historiker, der sich mit dieser Zeit beschäftigt hat, erwähnt ihn, und kein Zeitgenosse spricht von diesem Jesus. Denn er hat den glühenden Haß der Reichen und der Priester auf sich gelenkt. Er ging zu den Armen, zu den Sklaven, zu den geknechteten Frauen, zu den Ausgebeuteten und Unterdrückten.

Was sagte er diesen Menschen? Er verkündete: Alle Kraft ist in uns. Der Himmel ist machtlos. Die Gerechtigkeit fällt nicht aus den Wolken. Der Geist ist die Vorstellung von der Welt, die sich der Welt bemächtigt. Er hat jedem den Glauben an sich selbst gegeben. Er hat damit sogar Kranke geheilt, indem er sie an ihre Genesung glauben ließ; das ist ein menschliches Wunder.

Er war ein Zerstörer der Götzen. Er vernichtete die abstrakten Götzen: die Träume und die Dogmen. Er zertrümmerte sogar den Götzen Gott, der von derselben Art ist.

Er zerbrach die Fetische der Nationalität und der Rasse. Er dachte und sprach für alle Menschen der Welt und sagte ihnen: nur ihr selbst könnt euch euer Heil erkämpfen!

Damit hatte er recht: denn alle Macht wird von der Masse ausgehen, wenn sie erst einmal zu kraftvoller Einigkeit gelangt sein wird und die Verdammten dieser Erde in einer Front marschieren.

Er hat die Gleichheit verherrlicht, als er sagte: »Der Größte unter euch soll euer Diener sein.« Hat er Lenin vorher geahnt?

Der Schrei dieses Menschen nach Gerechtigkeit war den Verwaltungsbehörden der Römer unbequem, die sich in Palästina festgesetzt hatten, wo heute die Engländer herrschen (und nicht nur in dem einen Punkte sind die Römer von damals mit den Engländern von heute vergleichbar). Er wurde in ein Komplott gegen die Sicherheit des römischen Staates verwickelt und, obwohl er völlig unschuldig war, da er nie an einem Komplott teilgenommen hatte, vom römischen Gericht zum Tode verurteilt. Im Lauf der Zeiten wurde viel über seine Verurteilung erzählt. Manche behaupten, er wäre von den Juden getötet worden. Aber wir wissen, woran wir uns zu halten haben, wenn wir die Sachlage beurteilen wollen. In Juda herrschte über Leben und Tod der römische Staat, der eine große Aristokratie und ein Hort der Ordnung war wie unsere heutigen »Demokratien«. Ebenso wie diese heuchlerischen Schönredner unserer Zeit erwies sich der römische Staat sanften Träumereien gegenüber gleichgültig, aber unbarmherzig gegen solche, die gegen seine Ordnung anrannten. Immer war und ist diese Ordnung im Inneren eine Herrschaft der Diebe, nach außen eine Herrschaft der Räuber. Die Juden mögen Jesus gehaßt haben, getötet aber wurde er von der römischen Ordnung.

Als Jesus am Kreuze hing, die Welt um ihn dunkel wurde und er die Masse, die er hatte retten wollen, die Masse, die ihn nie verstanden hatte und nicht wußte, was sie tat, mit seinen brechenden Augen sah, wußte er, daß sein Werk mit ihm sterben würde und er hatte recht.

Als der Gekreuzigte gestorben war, kam eine lange Nacht für ihn. Auch sein Name war tot, und niemand erinnerte sich seiner. Hatten ihn einige seiner Schüler überlebt? Vielleicht. Es wurde behauptet, aber es ist nicht im mindesten sicher. Auf jeden Fall machten diese Schüler wenig von sich reden und wurden kaum von den Behörden gestört, was für ihre Klugheit, nicht aber für ihre Würdigkeit spricht.

Es vergingen Jahre, fünf, zehn, zwanzig Jahre … Aus Kindern wurden Männer, aus jungen Männern alte Leute. Und damals begannen Menschen in Asien eine neue Religion zu predigen und verkündeten dem Volke: der Messias ist gekommen.

Bald lehrten sie: Christus ist auferstanden. Diese Lehre wurde von Juden verbreitet; aber es waren keine palästinensischen Juden, sondern Juden aus den griechischen Kolonien, die griechische Bildung besaßen und von der heidnischen Kultur durchdrungen waren.

Im Mittelpunkt dieser Religion stand ein neuer Gott: der Christus, von dem bis dahin niemals die Rede gewesen war. Sie erfand einen neuen Glauben: den Glauben an ein Leben nach dem Tode. Damit wurde sie eine Religion des Todes. Ihre Reformatoren lehrten: Wegen der Sünde der ersten Menschen ist die Menschheit zur Fron, zum Leiden von der Geburt bis zum Tode verurteilt gewesen. Aber der Sohn Gottes hatte eingewilligt, durch sein Opfer die Menschen zurückzukaufen. Und damit begann – für die Rechtgläubigen – vom Augenblick des Todes an das Reich des Lichtes. Das ewige Leben war ihnen sicher.

Dieser Vorgang der Erlösung sollte in überirdischen Regionen geschehen. Der Heiland Christus war gewissermaßen ein himmlischer Meteor. Er war nicht einmal in Wahrheit der Sohn Gottes, sondern eine Erscheinungsform der göttlichen Einheit, ein leuchtender Teil der ewigen Glorie.

Die Lehre vom Licht, das nach der Behauptung der neuen Priester im Himmel und im Bereich des Jenseits in Erscheinung treten sollte und von der Umwandlung des Todes in eine vollkommene Unsterblichkeit hatte nichts mehr mit dem armen Propheten zu tun, der einmal in Jerusalem gepredigt hatte. Kein Mensch dachte daran, eine Beziehung zu ihm herzustellen: zu allerletzt hätten es die Apostel getan. Zwar sagte ihre Lehre, daß das Erlösungsopfer des Christus in seiner Verurteilung und Kreuzigung bestanden hatte. Aber diese Strafe wurde rein geistig und mystisch aufgefaßt und aus den biblischen Psalmen und der griechischen Mythologie hergeleitet. Die Apostel kannten ihren Gott nur durch die Ekstase ihrer Offenbarung und durch leuchtende Gnadenbeweise. Er war für sie lediglich ein theologischer Begriff. Es ist wahr, daß er auch Jesus hieß, aber Jesus heißt nichts weiter als Retter; und hieß denn der galiläische Prophet Jesus? Es wurde freilich gelehrt, aber erst viel später, denn zu jener Zeit sprach überhaupt niemand von ihm.

Die erste christliche Generation lebte und starb. Es starben die Begründer des Christentums: Paulus, Barnabas, Petrus und andere, ohne dem christlichen Messias einen menschlichen oder geschichtlichen Zug verliehen zu haben.

Erst viel später, vielleicht zwanzig Jahre nach dem Tode des Paulus (dieser Mann stellt unsere beste Quelle dar, weil er das Christentum hauptsächlich gestaltet hat; er entlehnte sein Material, wie wir heute mehr und mehr feststellen können, den Kulten der Nachbarvölker), verlangten die Gläubigen, deren Zahl mächtig gewachsen war und in denen nicht mehr die mystische Begeisterung der ersten Zeit lebte, Einzelheiten über ihren Gott zu wissen, der wie ein Mensch gelitten haben sollte. Was hatte er gelitten? Wo und wie war es geschehen? Wann und in welcher Gestalt hatte sich Gott unter die Menschen begeben? »Wir sehen zwar mit den Augen des Glaubens, aber ihr müßt uns Einzelheiten geben!« verlangten sie.

Aus diesen und anderen Gründen mußten die Führer der Kirche ein menschliches Bild des Christus schaffen. Da identifizierten sie ihn – und erst in dem Augenblick – mit irgendeinem Menschen, der gelebt hatte. Sie griffen eine schon verwischte Gestalt, die im Laufe der Zeiten verblaßt war – ein halbes Jahrhundert war seit der Zeit vergangen, da der römische Gouverneur den Galiläer hatte kreuzigen lassen und erklärten: dieser war es.

Wenn er nie existiert hätte, wäre er jetzt erfunden worden; denn man brauchte einen Menschen, der dem Christus Fleisch und Blut gab. Wenn dieser Mensch nicht Jesus geheißen hätte, würde er künftig diesen Namen geführt haben müssen.

Alle Einzelheiten seines Lebens, das erzählt wurde, stimmten genau mit Prophezeiungen des Alten Testaments überein: Jesus, der Messias, Sohn Marias und des Heiligen Geistes, wurde geboren zu Bethlehem, lebte in Nazareth, predigte am See Tiberias, vollbrachte gewaltige Wundertaten, wurde gefangen und hingerichtet von den Pharisäern und Priestern zu Jerusalem, ist am dritten Tage wieder auferstanden und fuhr auf gen Himmel. Die Bücher, in denen wir diese Geschichte finden, heißen die Evangelien. Das erste der Evangelien erschien gegen Ende des ersten Jahrhunderts »nach Christus«, das letzte in der uns überlieferten Form gegen Ende des zweiten Jahrhunderts.

Durch einen Vorgang magischer Art: die Auferstehung, wurde die menschliche Gestalt zum ersten Male mit der göttlichen Mythenfigur vereinigt, wurde durch übermenschliche Attribute verhüllt und in einem Strom von Wundern, alten Prophezeiungen und neuen Dogmen ertränkt.

Aber das seltsamste ist, daß der arme ermordete Prediger, der wie ein Tier geopfert worden war, um nach der Lehre des Rachat seinen Leib in bitterer Qual darzubringen, um ein greifbarer Beweis der großen göttlichen Ungnade zu sein, als Persönlichkeit so groß war, daß seine Größe immer wieder durch die religiöse Maschinerie schimmert, die ihn zerschmettert hatte.

Aus den Evangelien dringt ein Rest der wirklichen Rede, ein Rest des wahren Jesus, der gefangengenommen und hingemeuchelt wurde. Ein Schrei nach Gerechtigkeit und Gleichheit klingt aus den Büchern; es ist der Schrei nach proletarischer, nach revolutionärer Gerechtigkeit, den er unter die stumpfen Massen geworfen hatte.

Es ist an dieser einfachen und wahren Geschichte ganz außergewöhnlich – und die Wahrheit schält sich immer reiner heraus, seit es erlaubt ist, die »Heilige Geschichte« wissenschaftlich zu untersuchen – daß der wahre Jesus, Jesus der Mensch, inmitten der Fiktionen, welche die Evangelisten hinzugedichtet haben, bestehen bleibt. Wir finden ihn wieder, wenn wir guten Willens suchen und erkennen an vielen Stellen so hohe menschliche Werte, die Religionsstifter niemals erfinden konnten.

Der wahre Jesus, der uns in den Geschehnissen gegenübertritt (wir müssen die Stellen außer acht lassen, die von seiner Verurteilung als politischer und sozialer Rebell handeln, weil wir darüber nur den Bericht und die tendenziöse Beweisführung seiner Henker verwerten können), offenbart sich vor allem durch seine Lehre, die sich nicht ebenso glatt verkleiden ließ wie die Ereignisse seiner Erdenbahn.

Man kann nach einer eingehenden Lektüre sogar zu der Ansicht kommen, daß die wahre Lehre des überwundenen Galiläers den christlichen Reformatoren bis zu einem gewissen Grade bekannt war und von ihnen benutzt wurde. Aber sie waren alle Judasse, die seine Gedanken ausnutzten und ihn verrieten. Seine lebendige, wahre und reine Lehre diente dazu, eine künstliche Dogmatik zu stützen, die den Gedanken Jesus' gerade widerspricht. Es geht so weit, daß man ihn genau das Gegenteil dessen sagen läßt, was er gedacht und gepredigt hat. Man läßt ihn, der gesagt hat, daß alles aus uns selbst kommt, sagen, das alles von Gott kommt. Man machte ihn zu einem Zwischending von Gott und Mensch, ihn, der gelehrt hatte, daß es keine Verbindung zwischen dem Menschen und der Unendlichkeit gibt, daß die Größe des Menschen sein eigenes Werk ist und sein wird und daß sich von oben her keine soziale Ordnung errichten läßt, genau so wenig, wie man einen Bau mit dem Dach beginnen kann.

Wir können also ohne weiteres sagen, daß er bisher vollständig vergessen war, da die Reste seiner Gedanken vergraben und derart beschmutzt wurden. Es wurde aus ihm der sentimentale Prediger einer süßlichen, utopischen Liebe gemacht und er hatte doch stets von einer logischen und fruchtbaren Solidaritätsgesinnung gesprochen: fügt anderen nichts zu, von dem ihr nicht wollt, daß es euch geschehe!

Noch schöner und gewaltiger als die Kraft, mit welcher der wirkliche, menschliche Jesus die Lügen und den Irrtum der christlichen Lehre durchbrach, ist die Tatsache, daß es allein dieser menschliche Jesus war, der im Mittelpunkt der neuen Mythologie stand und ihre Bedeutung, ihre Stärke ausmachte.

Die Gestalt eines Gottmenschen, der von seiner Hände Arbeit lebt, der leidet und von den Reichen und den Priestern verfolgt wird, wurde vom Volke geliebt, das diese Religion darum annahm.

Die Armen unterstützten sie durch das Opfer ihres Blutes. Sie überlegten nicht, daß die ganze Schönheit Lüge und auf einer Komödie aufgebaut war. Denn das gleiche Wesen kann nicht einmal Gott und einmal Mensch sein. Ein Gott, der sich zum Menschen machte, wäre ein Simulant, und seine menschlichen Leiden wären ein Betrug. »Menschlich ist nur der Mensch.« Die Massen sind rein und einfältig: als sie glaubten, mit Recht oder Unrecht, eine Gestalt und eine Idee aus ihrer Art gefunden zu haben, wurden sie ihre treuesten Anhänger.

Nach den Evangelien nahmen die Unglücklichen und Enterbten diese Religion auf. Das internationale Proletariat hat der christlichen Sache zu Leben und Sieg verholfen. Es wurde eine Massen-, eine Klassenbewegung. Das erlaubte dem Christentum, sich trotz seiner Schwächen, seiner Widersprüche und dem Fluch seiner Dogmen durchzusetzen.

Als die Kirche durch die Massen zur Macht gekommen war, verleugnete sie sie, stieß sie zurück. Sie wurde zu einer reaktionären Macht des Staates und unterstellte sich dem Römischen Reiche, dem sie in allem glich. Der wahre Jesus und seine Gesinnungsgenossen wurden Fremde für sie. Die Blutgeschichte der Kirche ist eine Schande für alle Gläubigen.

Heute beginnt das große Drama von neuem. Es entsteht der Gedanke einer gewaltigen Organisation, dazu bestimmt, die sozialen Verhältnisse zu ändern. Sie ist gegen den furchtbaren Mechanismus unserer Ordnung und gegen die Gefräßigkeit und die Grausamkeit unserer Zivilisation gerichtet, die schon wankt und dieselben Zeichen des Verfalls und der Zersetzung offenbart, wie damals die antike Welt. Die Idee wird getragen von den Ausgebeuteten und Unterdrückten. Sie wird im Zeichen von Sichel und Hammer siegen, wie die andere unter dem Zeichen des Kreuzes triumphiert hat.

Aber sie trägt nicht den Todeskeim des christlichen Aberglaubens in sich. Sie stützt sich nicht auf Träume, auf übernatürliche Dinge, auf Wolken oder auf den Tod. Recht und Leben und ebenso eindeutige Gesetze, wie sie die Naturgesetze darstellen, bilden ihre Grundlage.

Und darum trägt sie alle menschlichen Möglichkeiten in sich, nicht nur eines Tages zu siegen, sondern für alle Zeiten die Parasitenherrschaft und ihren unzertrennlichen Gehilfen, die Kirche, abzulösen.


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