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Der erschossene Soldat

Während des Krieges, zur Zeit unseres großen Rückzuges, mußte ich als Verwundeter aus einem Lazarett ins andere. In Breteuil lag ich, in Chartres, in Courville, in Brives und schließlich in Plombières. Weil ich weder den Mönchen noch den anderen Pflegern fromm genug war, mußte ich auch von da bald wieder fort. Ihre Uniformen waren dunkelblau; ihre Gesichter strotzten vor Gesundheit, denn alle waren Geistliche mit mehr oder minder hohen kirchlichen Würden in ihrem Zivilberuf.

Aber ich will heute von etwas Anderem erzählen.

Eines Abends saß ich mit mehreren Kranken und Verwundeten im großen Saale des ersten Stockwerkes am Ofen, der gegen die Novemberkälte anzukämpfen suchte. Wir sprachen von Verbrechen, von Unglück und Ungerechtigkeit. Jeder gab eine selbsterlebte Geschichte zum besten und war dabei zufrieden. Ich empfing an diesem Abend viele Eindrücke, die ich später in meinen Büchern verwendete. Diese Zeilen werden einigen zu Herzen gehen, denn sie streift der Schauer erlebter Wirklichkeit, wie nach alten Legenden Meistergeigen die Zuhörer nicht erschütterten, weil sie mit großer Kunstfertigkeit gebaut waren, sondern weil die Seele ihres Erbauers aus ihnen widertönte.

Ein Kamerad – ich will ihn Pierre nennen – erzählte uns:

»Es gab einen Soldaten, der war standrechtlich erschossen worden und lebte doch weiter.«

Zur Bekräftigung setzte er hinzu, daß er Waterlot François geheißen hatte; der war erschossen worden. Aber nach der Erschießung, die in einer Talmulde stattgefunden hatte, war er wie durch einen Zauber verschwunden.

Pierre erzählte die Geschichte und sprach zuerst müde und ohne Teilnahme.

»Unweit von Meaurs bei Sezannes lag das 237. Regiment als Reserve des 270., das die erste Linie verteidigte. In der Nacht vom 5. zum 6. September 1914 lagen die 237er alarmbereit an einem Waldsaum.

Sie hatten ihre Tornister abgeworfen und lagerten im Halbschlummer eng nebeneinander. An die ständige Alarmbereitschaft waren sie gewöhnt; denn seit Kriegsbeginn war es ihnen kaum einen Tag anders ergangen. Sie hatten den belgischen Rückzug mitgemacht und schließlich, nach vielen raschen Verschiebungen, auch den großen Rückmarsch auf Paris. Immer mußten sie auf den Beinen sein, immer bepackt mit ihren Tornistern. Immer wurden sie angepeitscht, mußten immer tapfer und immer in dieser Hölle sein. Sie waren schon am Ende ihrer Kräfte: da begann – es war drei Tage vorher – die große Offensive, die ihre Strapazen vervielfachte.

Vor Ermattung schliefen sie wie tot in dieser Nacht – endlich ein Augenblick der Ruhe, der Ruhe eines Friedhofes.

Aber in der vordersten Linie trug sich unterdes eine schlimme Geschichte zu. Den deutschen Motorgeschützen war es gelungen, sich genau auf die französische Linie einzuschießen. Die 270er waren überrascht und erschrocken; sie verließen den Schützengraben und flohen, erst zögernd, dann immer rascher, nach hinten. Sie kamen zu dem Wald, wo die Soldaten des 237. Regiments schliefen. Diese wurden durch die Tritte der Flüchtenden, denen der Teufel im Nacken saß, geweckt und sprangen, den Dreck von sich schüttelnd, auf. Sie sahen, soweit man in der Nacht sehen kann, diese verängstigten Gestalten, die ihnen wie ein Spuk erschienen. Sie aufzuhalten wäre nicht ratsam gewesen. Was also tun? Schließlich schnellten auch die letzten Soldaten auf und stürzten mit den Kameraden davon.

Aber diese Panik dauerte nicht lange (eine Panik ist bekanntlich etwas Mechanisches wie eine Lokomotive, die man auch nicht sofort aufhalten kann, wenn der Führer die Herrschaft über sie verloren hat, und sie führerlos dahinrast). Beim ersten Tagesschimmer verschwand das Grauen. Versprengte des 237. Regiments formierten sich bei dem Dorfe Meaurs; ungefähr dreihundert liefen da zusammen, die nun ihr Regiment zu suchen begannen.

Zu ihrem Unglück aber kam gerade der General Boutegourd an dem Sammelplatz vorüber. General Boutegourd war der Kommandant der 51. Division; der war eine Kanaille, wie sie im Buche steht. Ihr werdet verstehen,« sagte Pierre, »daß ich gute Gründe habe, wenn ich ihm diesen Titel gebe, für den sich doch eine Menge Anwärter unter den hohen Stabsoffizieren finden.

Unter all diesen Offizieren zeichnete er sich durch besondere Gemeinheit und Roheit aus. Im Felde richtete er die Pistole gegen seine eigenen Leute, ja, er sprach davon, er müßte die französischen Soldaten ausrotten (weil ihm das bei den feindlichen wesentlich schwerer war). Oft prügelte er Nachzügler oder Mannschaften, die zu spät kamen, eigenhändig mit seinem Rohrstock.

Bei Guignicourt hinderte er die Marsch-Bataillone, gleichfalls mit Stockschlägen, das Wasser zu trinken, das die Bevölkerung für sie in Eimern an den Straßenrand gestellt hatte. Und noch manch ähnliche Heldentaten sind von ihm zu berichten.

Begleitet von seinem Stabe, ritt er die Straße entlang und traf auf die Reste des 237. Regiments.

›Wer sind diese Leute?‹ knurrte der gute Herr und war schon wütend. Einer antwortete ihm.

›Was sagen Sie? Ihr sucht Euer Regiment? So was ist mir noch nicht vorgekommen! Ein Korporal, sechs Mann sind sofort zu erschießen!‹

Er war gewohnt, daß sein Stab zu all seinen Befehlen Ja und Amen sagte: so sehr ließen sich die Offiziere von seinen vergoldeten Schnüren einschüchtern.

Diesmal aber war es ihnen doch zu viel, und sie erlaubten sich die Bemerkung:

›Herr General, bei allem Respekt, die Erschießung kann nicht stattfinden!‹

Sie bewiesen ihm die Unmöglichkeit seines Vorhabens: Die Truppe war nicht aus einer Schlacht geflohen, denn sie hatte gar nicht im Kampfe gestanden. Bei völliger Dunkelheit, in Ruhestellung, ohne Führer waren sie in die allgemeine Panik mithineingezogen worden. Außerdem wendeten die Offiziere ein: man kann sieben Leute nicht einfach ohne Urteil und vorangegangene Gerichtssitzung erschießen; gerade zu diesem Zweck sind ja die Kriegsgerichte da. Zwei anständige Offiziere, der Kolonel Vezat und der Oberst Richard Vitry, hatten erst diese Vernunftgründe angeführt, die jedoch den General nicht überzeugten; darauf versuchten sie, diesen ›Sultan‹, der über Leben und Tod zu entscheiden hatte, durch Bitten zu erweichen, Nichts half. Der General ließ die sieben Menschen auslosen und befahl ihnen, sich abseits zu stellen. Er selbst blieb da, um sich das Schauspiel anzusehen. Diese Grausamkeit freute ihn. Es machte ihm auch Spaß, mit ›Nein!‹ zu antworten, als sich einer der Verurteilten vor ihm auf die Knie warf, sein Mitleid erflehte und weinend von seinen fünf Kindern erzählte.

Das formale Recht war auf seiten des Generals. Wann kommt der Gedanke, einen Mord zu begehen, in den Kopf eines Berufssoldaten? Er gibt den Befehl, die Erschießung unweigerlich zu vollziehen, er bleibt dabei, sie abschlachten zu lassen.

Doch gibt es nicht in Frankreich Gesetze, die auch die Soldaten, und besonders die an der Front, zu schützen vorgeben und ihnen unveräußerliche Rechte zubilligen? ›Menschenrechte‹ heißen sie. Sie sind schon zum Gegenstand der Witzblätter geworden.

Aber wenn die Gesetze unklar und nicht einheitlich sind, so besagt das nur, daß das Volk dumm genug ist, sich dies gefallen zu lassen. Ich kann es nicht verstehen, wie ein Mensch, der ungefähr dasselbe Verbrechen begangen hat wie ein anderer, spazierengehen und sich überall zeigen kann, ohne daß die Leute auf ihn mit Fingern weisen oder ihm die Zunge herausstrecken.

Die sieben wurden in eine leere Scheune gesperrt und gleich am anderen Morgen unter starker Bedeckung hinausgeführt bis zu einer Mulde, die etwa anderthalb Kilometer hinter dem Dorfe liegt. Die armen Menschen mußten sich nun in einer Reihe aufstellen …«

Da unterbrach jemand die Erzählung Pierres – nein, er stöhnte vielmehr wie aus schwerem Traum auf: »Wie kann es sein, daß sich immer wieder Leute finden, die bereit sind, ihre Kameraden zu morden?!«

Einfach erwiderte Pierre: »Sie finden sich.

Man stellte sie also in einer Reihe auf und verband ihnen mit Halstüchern die Augen. Auch die Truppe formierte sich und hob die Gewehre. Ein kurzes Kommando:

Feuer!!

Die meisten Leute gehorchen, weil sie nur eine Herde armer Tiere sind und nicht den Mut haben, Menschen zu sein. Aber ihr bedingungsloser Gehorsam quält sie. Als die Soldaten die Finger an den Abzug legten, schlossen sie die Augen.

Nach dieser ruhmvollen Salve mußte ein Adjutant die Exekution vorschriftsmäßig zu Ende führen. Er trat heran und schoß zweimal auf jeden, der noch Lebenszeichen von sich gab, so daß das Gehirn des Getroffenen herausquoll. Einer von beiden, der Vater von fünf Kindern, schrie laut auf, als ihm so der Schädel zerschmettert wurde. Da hatte der Adjutant genug von seinem Werk und ging weg. Er soll vor Ekel geweint haben.

Es gibt solche Leute. Sie betreiben ihr schmutziges Handwerk, solange sie es können; dann hören sie auf. Man sagt, sie seien besser als andere. Ich für meinen Teil bin anderer Ansicht. Bei solchem Beginnen müßte ein anständiger Mensch schon vorher weggehen.

Im Augenblick des Kommandos: Feuer! hatte sich einer wie tot fallen lassen und rührte sich nicht mehr. Um den Bruchteil einer Sekunde war er zu früh gefallen. Der Schütze, der ihm gegenüberstand, hatte es nicht gesehen, weil er die Augen geschlossen hatte. Der Adjutant hatte es auch nicht bemerkt.

Nach dem Abmarsch des Vollzugskommandos war er verwundert, nicht tot zu sein. Andauernd überzeugte er sich durch Betasten seiner Gliedmaßen, daß er vollkommen heil sei. Er schlich sich wie ein verängstigtes Wild zum andern Ende der Mulde, stand auf und lief davon, als ob er vor sich selbst fliehen müßte.

Eine Stunde später sahen die Passanten nur sechs statt sieben Körper daliegen; fünf davon waren Leichen, der sechste Soldat nur verwundet: seine Schenkel waren zerrissen. Er wurde mitgenommen und verbunden.

Doch der andere lief ohne Ermatten die ganze Nacht durch und langte am nächsten Tage bei einem Truppenlager an. ›Wer mag dieser junge Mann mit den weißen Haaren sein?‹ fragten die Soldaten. In der Tat waren seine Haare schlohweiß geworden, obwohl er erst siebenundzwanzig Jahre zählte; jetzt glaube ich es, daß Haare nicht nur in Romanen in wenigen Augenblicken weiß werden, wo so etwas mit großem Effekt zu geschehen pflegt. (Dieses eine Mal wenigstens stimmt der wirkliche Krieg mit dem in Büchern geschilderten Kriege überein.)

In dem Truppenlager erzählte er wahrheitsgetreu seine Geschichte. Das war gefährlich; doch er hatte Glück, man lieferte ihn nicht aus. Als Überzähliger wurde er an ein Regiment überwiesen. In den Listen konnte er nicht geführt werden, denn er war tot, und zwar ›wegen Feigheit erschossen‹ worden, wie der Fachausdruck lautet. Ständig war er in Angst, sein ›Verbrechen‹ könne bekannt werden, und er würde für seine Ehrlichkeit nun endgültig erschossen werden.«

Einer der Zuhörer unterbrach ihn:

»Es war ein großer Fehler von dir, daß du uns seinen Namen genannt hast, mein Lieber … Glaubst du nicht, du hättest uns in seinem Interesse die Geschichte besser ohne die Namen erzählt?«

»Dem armen Kameraden schadet es nicht mehr,« erwiderte Pierre. »Unterdessen hat ihn eine Granate getötet; es war gut so für ihn. Er hat nun seine Ruhe, und auch du kannst ruhig sein.

Eines Tages traf sein neues Regiment an einer Straßenkreuzung auf sein früheres. Dem Verlangen, zu ihm zurückzukehren, konnte er nicht widerstehen. (Die Liebe eines Soldaten für seine Regimentsnummer ist merkwürdig; als ob diese Zahl irgend etwas für ihn bedeuten könnte!)

Bei seinem alten Regiment, das ihn auch als Überzähligen führen mußte, wurde er am 10. Juni 1915 während des Vorstoßes auf Artois bei Hébuterne von einer Granate vollständig zerrissen.

Es waren gewiß arme Kerle, die die Granate abgeschossen hatten – arme Kerle wie er oder wie seine Kameraden, die ihn damals erschießen sollten. Nur das Kommando zum Morden wird ihnen in einer anderen Sprache erteilt. Doch überall ist es derselbe Grund, der die Menschen zum Morde ihrer Brüder treibt.«

»Das ist wahr,« sagten die Kameraden.


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