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Die Aufrechten

Welche bunten, packenden Szenen für einen Film ließen sich aus dem Chaos unserer gegenwärtigen Geschichte schreiben und zu einem großen Zeitepos gestalten.

Die eine dieser Szenen beginnt im blutigen Zeichen des Weltkrieges. Sie ist ein Heldenlied der Erkenntnis und des Willens. Ich denke oft an ihre ehernen Bilder, seitdem ich einige der Helden kennengelernt habe, welche die Fahrt überlebten und nicht gestorben sind.

Zunächst zeigt die Leinwand, die ein Spiegelbild der Welt ist, das größte und wichtigste Bild. Ein großes Meeting von Leuten in Uniform. Es ist ein Meeting zum Tode verurteilter Menschen. Um acht Uhr morgens begann es; um zehn Uhr wird es vorbei sein. Keine Verordnung befahl diese Stunde, sondern das Schicksal. Um zehn Uhr wird es enden. Über den Soldaten leuchten rote Fahnen, die sie zu dem Meeting mitbrachten, in solcher Zahl, daß das Feld mit dem roten Schleier überzogen scheint. Die Redner sprechen laut und eindringlich zur Menge und schließen alle mit den Worten: »Wir wollen nach Rußland zurückkehren und nichts anderes!« oder »Wir wollen der Revolution helfen!« Ein anderer sagt: »Wir sind elftausend Mann.«

Ein langweiliger Kerl wendet ein: »Wäre es nicht doch besser, nachzugeben und die Waffen zu strecken?« Darauf haben alle nur eine Antwort: »Nein! Wir wollen unter der roten Fahne sterben.« Sie singen die Marseillaise und die Internationale.

Fünf Minuten vor zehn hört das Meeting auf. Die Musik spielt einen Trauermarsch. In der Ferne donnern Kanonen. Ein feuerspeiender Vulkan bricht zwischen den Menschen aus. Zwei Musiker werden getroffen und brechen zusammen, die anderen spielen weiter. Man sieht in dem Rauch menschliche Glieder fallen und im Todeskampfe um sich schlagen. Überall zucken Blitze und krachend fallen die Granaten ein.

Die Mordstätte liegt in Frankreich, im Departement Creuse. Die Menschen sind russische Soldaten. Ihre Feinde, ihre Besieger sind russische und französische Soldaten.

Nachdem wir den Tatsachen vorangeeilt sind, doch ohne ihren Boden zu verlassen, wollen wir zurückgehen und von vorn beginnen:

Wir müssen lange gehen: zu den armseligen Hütten im weiten Rußland, in ein Blockhaus des Gouvernements Moskau. In ein gelbes niedriges Bauernhaus der Ukraine; in eines der Häuser Armeniens oder Georgiens, die flach wie Platten sind und eingebettet in Berge oder steile Hochebenen; oder vielleicht in eine der baufälligen Hütten, wo früher die Petroleumarbeiter von Baku wohnten. Die Bauern und die Arbeiter, die Armen sprechen miteinander; an den Wänden hängt ein Zarenbild. Sie sprechen vom Leben, das hart und traurig ist. Denn die Leute sind arme geknechtete Arbeiter; sie sind wie mit Ketten an ihre Arbeit gefesselt. Manche suchen im Trunk den Trost und ein Vergessen des Elends. Dann erklären die Großen den Krieg, der alles noch viel schlimmer macht. Elend und Leid werden größer. An allen Enden des Reichs beugen sich die Arbeiter und Bauern, die ewig geknechteten Menschen der Tiefe.

Ein ganz anderes Bild: Wir stehen vor einem großen, hell erleuchteten Palast. Wir treten ein und sehen prächtige Galerien mit herrlichen Skulpturen und strahlende Kronleuchter, die in goldenen Sälen leuchten. Diplomaten streiten. Der Franzose erklärt dem Russen: »Wir brauchen unbedingt russische Soldaten an unserer Front. Der Krieg zieht sich in die Länge. Wir müssen neue Massen junger Leute haben. Wir haben bereits Neger angeworben, aber das genügt noch nicht. Wir brauchen russische Hilfe. Frankreich hat Rußland Geld geliehen, und niemand leiht umsonst.« So sprach Paléologue fast wörtlich zu Sasonow, dem zaristischen Minister des Auswärtigen. Die russische Regierung ist einverstanden und legt die Zahl der Truppen fest, die nach Frankreich gehen sollen: man will jeden Monat vierzigtausend russische Soldaten an die französische Front schicken.

In die Strohhütten, in die Blockhäuser, in die Mietskasernen, wo die Arbeiter der Städte wohnen, dringt ein Hoffnungsstrahl: Freiwillige nach Frankreich werden angefordert. Vielleicht geht der Vater oder der Sohn, der Soldat ist, nach Frankreich. Frankreich ist die Republik, das Vorbild eines freien Landes, wo es keine Fürsten gibt, wo das Volk Herrscher ist. Frankreich hat Revolution gemacht. »Ja, wir haben es 1905 auch versucht, aber es ist uns nicht gelungen. Überall wurde der Aufstand niedergeschlagen und Soldatenkordons schossen und schlugen die Massen auseinander.« Welch ein Glück, nach Frankreich zu kommen! Der Gedanke gibt den jungen Leuten auf den Feldern und in den Fabriken neuen Mut. Er entzündet ein Licht im Herzen der Soldaten, die lange Röcke anhaben und in den Kasernen und den Frontquartieren zusammengepfercht liegen. Je fünf Mann haben ein Gewehr.

Zur Musterung melden sich die Freiwilligen in großer Zahl. Nur die Besten werden genommen: die großen und standfesten Leute. Auch auf Bildung wird Wert gelegt, d. h. sie müssen lesen können. Nur fünfzehn von hundert Freiwilligen werden ausgesucht. Die anderen, die man ablehnte, sind enttäuscht und traurig wie ein Mensch, der aus einem schönen Traum zur Wirklichkeit erwacht. Die Auserwählten erwarten fieberhaft die Abfahrt: denn da drüben werden sie nicht geohrfeigt und nicht geschlagen werden, wie im russischen Heer auf russischem Boden. Jeder Mann wird sein Gewehr haben. Die Freiwilligen sind begeistert von dieser schier unglaublichen Aussicht.

Die Reise zeigt ihnen auf einmal die halbe Welt. Lehrt sie die Kugelform der Erde erkennen. Sie durchfahren das weite Rußland und das ungeheure Sibirien. Von Wladiwostok werden sie nach Frankreich eingeschifft. Andere werden über Archangelsk nach Brest transportiert. Dann treffen wir die russischen Truppen in den Ankunftshäfen wieder: sie werden in dem gelobten Frankreich mit allem Pomp ausgeschifft. Ovationen und Hymnen werden ihnen dargebracht. Die Marseillaise klingt auf. Das Volk rast. Die Soldaten bekommen Zigaretten und Schokolade und patriotisch erregte Frauen umarmen die Schönsten.

Bald kommt die erste Enttäuschung. Der Krieg geht nicht vorwärts. Das Kommando befiehlt eine Verschärfung der Disziplin; denn es liegt natürlich an den Soldaten, wenn das Heer nicht einen Sieg nach dem anderen erringt. Die militärischen Ehrenbezeugungen müssen strikt erwiesen werden, genauer als in Friedenszeiten. Sie formen die Männer zu Automaten um, zu in Serien hergestellten Automaten. Auch körperliche Züchtigungen, Ohrfeigen und Stock werden wieder eingeführt, mit der Begründung, »der russische Soldat verstehe nur Prügel«.

Wie sie sich mit eigenen Augen überzeugen können, geht es nicht bloß den Russen so. Auch die Senegalesen, die aus ihrer fernen Heimat mit Drohung oder lockender Versprechung an die Front geschleppt wurden, erhalten die Disziplin mit dem Stock eingeschärft.

So werden viele Geschöpfe, ja die meisten, behandelt: die Rinder, Pferde, Senegalesen und die russischen Soldaten. Denn das sind in der Vielgestaltigkeit des Lebens die, welche nur Schläge verstehen. Ohne Zweifel denkt man dabei an die Klänge der Marseillaise und an die »Menschenrechte«. Musik ist nur ein schöner Klang und die Menschenrechte stehen auf einer spanischen Wand geschrieben, die zwischen dem Volk und seinen Herrschern steht.

Die Lage wird immer trüber. Eine Zeitung, für die Russen an der französischen Front bestimmt, »Nasche Slovo« (Unsere Stimme), ist den Stäben nicht immer zu Willen und protestiert gegen einige Mißbräuche. Man weiß, daß unter den Mannschaften agitiert wird, daß ein »schlechter Geist« im Entstehen ist.

Hohen Orts ist man bekümmert und wütend; die Kommandostellen organisieren gemeinsam mit den Behörden Provokationen, um die Möglichkeit zu scharfem Vorgehen zu erhalten.

Eine solche Provokation stiftete ein Agent der Russischen Botschaft an, ein gewisser Vining. Diese Tat, die, für sich betrachtet, eine gemeine, furchtbare Episode in dem schrecklichen Drama darstellt, endigte mit dem Mord an dem Obersten Krause, den ein paar erregte Soldaten oder vielleicht auch bezahlte Subjekte eines Abends steinigten. Die Provokation erfüllte ihren Zweck: neben anderen scharfen Maßnahmen wurde »Nasche Slovo« verboten. Eine Anzahl russischer Revolutionäre wurden aus Frankreich ausgewiesen, acht Soldaten standrechtlich erschossen, die sämtlich unschuldig waren und nichts mit der Ermordung des Obersten Krause zu tun gehabt hatten.

Damit hörte die Zeit bloßer Enttäuschung auf; es begann die Zeit des Terrors und der brutalen Unterdrückung.

Auf diese Weise hatten die russischen Soldaten Einblick in die wirklichen Verhältnisse gewonnen und gelernt, die schillernden Worte listiger Soldschreiber richtig einzuschätzen. Eines Tages erfuhren sie eine große Neuigkeit, natürlich weder öffentlich noch von ihren Offizieren: die Februarrevolution war ausgebrochen. Es geschah im Gegenteil alles, um ihnen die Wahrheit zu vertuschen. Und doch verbreitete sich das Gerücht, zuerst freilich langsam, unter dem russischen Expeditionskorps. Einer liest in einer Ecke einen Brief, andere zeigen sich die Briefe, die aus der Heimat gekommen sind. Nur wenig stand darin, denn sie waren durch die Zensur gegangen. Der Mann aus der Ecke schwenkt jubelnd sein Papier. Er zieht die Aufmerksamkeit auf sich, und eine Gruppe bildet sich um ihn: in Rußland war Revolution! (damit ist die Zensur durchbrochen!). Schon kommt ein Offizier, zerreißt das Papier und tritt darauf. Er wird blaß vor Ärger und geht hinaus. Bald besinnt er sich, kommt zurück, hebt die Papierfetzen auf und steckt sie in die Tasche. Den Soldaten sucht er klarzumachen, daß das alles nur Zeitungsklatsch sei, daß die Redakteure, die täglich die Zeitungen vollschreiben müssen, nichts wie Scharlatane seien, und daß eine große Portion Dummheit dazu gehöre, ihre Schreibereien zu glauben. Wie es immer in solchen Fällen geht: – die Soldaten hatten darin Erfahrung –, einigen kommen Bedenken. Doch die Wahrheit bricht sich Bahn, weil sie härter und stärker als der Irrtum und die Lüge ist. Sie ist wie ein reiner Diamant. Der letzte Mann kommt schließlich dahinter: In Petrograd und Moskau gibt es keinen Zaren mehr. Jeder verspürt den Hauch der Freiheit. Das Licht der Revolution leuchtet diesen Soldaten im fernen Land. Als ob der Himmel sich den Ärmsten geöffnet hätte!

Dann entbrannte ein Kampf zwischen den Offizieren, welche die politische und soziale Umgruppierung des Zarenlandes verbergen oder wenigstens sehr, sehr verändert darstellen wollten und den Soldaten, die die Wahrheit wissen wollten. Schließlich nahmen die Soldaten die Entscheidung selbst in die Hand. Vom 1. Regiment der 1. Brigade wurde eine Versammlung im Keller einer Glashütte veranstaltet, die eine Umfrage und die Fühlungnahme mit den Delegierten der anderen Regimenter zur Folge hatte. Alle waren einer Meinung: »Wir wollen nach Rußland zurückkehren. Hier haben wir nichts mehr zu tun.« Dieser Wille nahm bei der Masse der russischen Soldaten an der französischen Front feste Formen an. Dieser Wille ist es, der dem ganzen Drama seinen Impuls gibt. Er strahlt das Licht aus, das die Gestalten unseres Films auf die Leinwand wirft.

Die Entscheidung der Soldaten wurde dem Obersten Netchvolodow mitgeteilt. Dieser Offizier war es nicht gewöhnt, mit seinen Soldaten zu verhandeln, als ob sie Gleichgestellte wären, und sich ihre Wünsche anzuhören. Er wurde ohnmächtig, als er hörte, die Leute wollten nach Hause geschickt werden. Er fiel zu Boden und mußte aufgehoben werden.

Das Wort ihres Willens: »Wir wollen nach Hause zurückkehren!« gewann Gestalt und wurde bei den russischen Truppen immer stärker. Daher gedachte man sie in eine Schlacht zu jagen, die sich in jeder Beziehung als nützliche Ablenkung erweisen würde. In der Schlacht muß sich der Soldat mit der Waffe in der Hand verteidigen. Er muß töten, um nicht selbst getötet zu werden. Er hat keine Zeit, an etwas anderes zu denken und läßt wohl oder übel seine Utopien vom »freien Mann« beiseite. Außerdem reißt eine Schlacht Lücken, die, wie ein Aderlaß das Gift, den schlechten Geist einer Truppe vermindern. Endlich liegen häufige Angriffe stets im Interesse des Offizierskorps. Dabei lassen sich Orden und Tressen verdienen und das persönliche Risiko wird um so kleiner, je höher der Offizier die militärische Stufenleiter emporgeklommen ist. Ein französisches Wortspiel lautet: L'avancée des soldats est la condition de l'avancement des officiers. (Ohne Vorwärts der Soldaten kein Aufwärts der Offiziere.)

Darum wurde der 1. Brigade des russischen Expeditionskorps der Angriff auf Fort Brimont befohlen. Die Russen nahmen sechsundzwanzig Stacheldrahtverhaue, besetzten die Dörfer am Fuße des Forts; das Fort selbst aber konnten sie nicht erstürmen, da die Franzosen die vereinbarte Verstärkung nicht eingesetzt hatten. Schließlich mußten sich die Russen zurückziehen, ohne einen anderen Erfolg, als siebzig Prozent ihrer Mannschaft verloren zu haben. Das bedeutet: mehr als zwei Drittel Verlust. Um dieses Verhältnis wirklich darzustellen, sollte man Schädel und zerschossene Köpfe aufeinanderschichten und daneben die heilgebliebenen Köpfe, die nur den dritten Teil des Haufens blutiger, beschmutzter Schädel ausmachen dürften. Die Überlebenden dieser Strafunternehmung wurden auf einzelne Dörfer verteilt, damit ihr schlechter Geist nicht weiter um sich griffe.

Jetzt begann die offene Feindschaft zwischen Offizieren und der Mannschaft. Immer mehr Soldaten wurden unwillig, murrten und verlangten offen ihre Freiheit: »Wir wollen nicht hierbleiben, wir wollen nach Rußland zurück, wo wir für die gerechte Sache der Menschheit kämpfen können, für das Wohl aller Ausgebeuteten und Unterdrückten.«

Die Offiziere versuchten mit allen Mitteln – durch Drohungen und Bitten, durch Betrug, Quälerei, Mißhandlungen, Provokationen und Intrigen – im Einverständnis mit den französischen Behörden die rebellisch gewordenen Regimenter wieder zu ergebenen Dienern der kapitalistisch-imperialistischen »Ordnung« zu machen, der »Ordnung« der Henker und Parasiten.

Die Soldaten organisierten sich. Sie wählten ihre Räte oder Sowjets und waren bestrebt, sich mit den anderen russischen Kampfeinheiten in Verbindung zu setzen. Die Offiziere arbeiteten dieser Bewegung entgegen, versuchten sie abzubiegen und den Soldaten die Sowjets zu verleiden. Hier vermengt sich das Drama mit der Komödie, welche die Franzosen spielen. Der französische Generalstab hat nach der Februarrevolution durchgesetzt, daß die russischen Truppen auf französischem Boden künftig nicht mehr den russischen, sondern französischen Gesetzen unterstehen sollen. Und die Rechte eines Soldaten stehen im Widerspruch zu den französischen Gesetzen.

Die Resolution der Freiwilligen, in Anbetracht der politischen Umgruppierung in ihr Vaterland zurückkehren zu wollen, wird nicht beachtet; man führt die erste und zweite Brigade nach einem kleinen Ort des Departements Creuse, namens La Courtine, und umstellt sie dort. Zwischen den Baracken des Lagers halten die Russen Meetings ab, in denen sie energisch und immer deutlicher ihre klare, selbstverständliche Forderung aufstellen. Sie erschallt wie ein einziger gepreßter Schrei, als einförmiges Motiv einer drohenden Bitte, die sie eint und zusammenschweißt. Sie geben nicht nach. Sie werden aufgefordert, das Wort Sowjet in Komitee umzuwandeln. Sie lehnen es ab.

Am 20. Juni gibt der General Lokowtzky an die beiden Brigaden den Befehl, zu Übungen anzutreten. Sie weigern sich.

Man versucht es mit den schärfsten Mitteln: die Brigaden werden geteilt. Man stiftet Zwist zwischen der 1. und 2. Brigade, die fügsamer ist und besser bearbeitet wurde. Die Soldaten, die sich bedingungslos den Anordnungen des Kommandos unterwerfen, werden in das Lager von La Cournot und nach Felletin abgeschoben; man veranstaltet ein Gelage für sie, bei dem Zank und Krach nicht ausbleiben. Die Unbeugsamen, die Unbestechlichen bleiben in La Courtine; sie werden als Rebellen betrachtet. 11 000 sind es, die einen geschlossenen Block darstellen, eine Menschenmasse. Mit den größten Versprechungen läßt sich nur ein Häuflein von siebzig Mann losreißen, während die andern sich freiwillig einem strengen Reglement unterwerfen, das keinen Seitensprung, keine Unordnung zuläßt. Sie entsagen dem Alkohol. Ein riesiger Kontrast klafft zwischen den klugen, gerechten Revolutionären von La Courtine und den Knechten, die sich ihrer Sklaverei freuen und stolz in La Cournot einhergehen. Der Sowjet von La Courtine stellt mehrmals bei den betreßten Unterhändlern der Imperialisten die Forderung: »Wir wollen nach Rußland zurückgeschickt werden. Wir schwören, im Vaterlande unsere Pflicht als Soldaten zu erfüllen!« Ein gewisser Vorkow kommt von Petrograd, um sie zum Gehorsam zu ermahnen. Er erhält dieselbe Antwort. Ein Pope erscheint und predigt ihnen mit pathetischer Stimme: »Bereut und bekennt eure Sünden!« Sie jagen ihn aus dem Lager. »Man kann uns töten, aber niemals besiegen!« Übergehen wir die Statisten des Dramas: die Spione, die Verräter und Angeber, deren jeder an seinem Faden zieht und eine Intrige spinnt. Die Soldaten von La Courtine stehen wie ein Karree, das in der Schlacht von allen Seiten eingeschlossen und bestürmt wird, sich aber nicht ergeben will. Es wird ihnen vorgeworfen: »Ihr verratet eure Soldatenehre,« und sie antworten: »Dafür retten wir unsere menschliche Ehre.« Oder: »Ihr habt uns betrogen. Ihr seid Verräter.« Und als Antwort: »Wir wurden betrogen. Wir waren die Hampelmänner einer Lüge.«

Die in jeder Beziehung ausgezeichnete moralische Stellung dieser passiven Revolte verdient besonders gewürdigt zu werden, ebenso die schweren Gewissenskonflikte, in welche die Soldaten durch die Auflehnung gebracht wurden.

Die russischen Soldaten haben lange gezögert und lange diskutiert. Obwohl der Gedanke an die Russische Revolution sie entflammte und ihr Herz erfüllte, handelten sie nicht impulsiv oder phantastisch. Sie sind nicht aggressiv gewesen. Sie haben nur passiven Widerstand geleistet und sich töten lassen – wie es einige Jahre später die Hindus unter Gandhi getan haben, die ihre nackten Körper den Maschinengewehren, den Handgranaten und den englischen Bajonetten darboten.

Die Russen vertraten den Standpunkt: Wir haben das Recht, über uns selbst zu bestimmen, da die Revolution in unserem Vaterlande eine vollständige Umwälzung hervorgerufen hat. Wir fühlen uns nicht mehr gebunden, weil die Herren, denen wir den Treueid geschworen haben – und die uns schmählich belogen –, gestürzt sind; sie tanzten auf schwankendem Boden, und der Wind wehte sie weg. Unser Schicksal änderte sich in dem Augenblick, wo sich unsere Augen öffneten. Denn nicht für alle Zeiten sind wir an die Schlächter wie Vieh verkauft, nur weil Nikolaus II. Konstantinopel haben wollte und dazu französisches Geld brauchte, oder weil der englische Imperialismus die Herrschaft der Meere behalten und der deutsche Imperialismus sie erobern wollte, oder weil die Vereinigten Staaten ebenso wie alle Waffenfabrikanten, Tuchfabrikanten und die anderen mächtigen Börsenspieler in der ganzen Welt Geld verdienen wollten. Wir glauben nicht mehr an den ungeheuren Vorwurf, nach dem das Deutsche Reich Wilhelms des Zweiten der einzige Räuberstaat inmitten lammfrommer Großmächte war. Wir haben die Pflicht, den Handel mit unseren Körpern und unseren Seelen zu annullieren. Wir haben die Pflicht, uns zurückzukaufen.

Die Offiziere waren der Meinung: Hurra, die Revolution! Es lebe die Freiheit! Aber wir müssen den Krieg im Interesse der Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens fortsetzen. Wenn ihr nicht kämpfen wollt, seid ihr feige; ihr werdet eure Revolution ersticken und von französischen Kanonen zusammengeschossen werden.

Wie alle gesunden und vernünftigen Menschen, die ihre Pflicht kennen und sie erfüllen wollen, haben die russischen Soldaten lange unter sich diskutiert. Eine besonders erregte Debatte fand darüber statt, ob sie an der Schlacht um das Fort Brimont teilnehmen sollten oder nicht.

Dies geschah aus dem Bestreben heraus, das Richtige und Rechte zu tun, und nicht aus Furcht. Das haben sie bewiesen. Denn die Lage war damals noch unentschieden und unklar; sie trafen daher keine Entscheidung, sondern faßten den Entschluß: »Wir wollen kämpfen und nach den Befehlen der Offiziere handeln.« Und sie zogen geschlossen zu ihrem Schlachthaus.

Nach dieser Abschweifung wollen wir uns wieder dem Palais zuwenden, das wir schon kennen. Die französischen Kommandostellen haben Furcht vor den mutigen Rebellen, die ganz und gar Soldaten der Revolution geworden sind. Denn solche Beispiele wirken ansteckend: schon siebzehn Fälle von Meuterei französischer Soldaten waren zu verzeichnen. Die große Masse der Soldaten beginnt den kapitalistischen Sinn des Krieges zu ahnen und will nicht mehr. Warnungen werden laut. Die französische Regierung erklärt der russischen: »Lassen Sie sie nach Hause zurückkehren oder brechen Sie ihren Widerstand! Dabei werden wir gern helfen.« Und drüben in einem anderen Palais sitzt Kerenski und hat noch mehr Furcht vor diesen Soldaten. Er, der Führer der Revolution, hatte immer vor der Revolution Furcht. Er ist gar nicht daran interessiert, die Revolutionäre im eigenen Lande zu haben. Wie stets, gebraucht er auch in diesem Fall nur leere Ausflüchte und schickt als einzige Antwort Verstärkungen für die 2. Brigade, die gegen die erste steht.

Betrachtet man das Lager La Courtine von oben, etwa von einem Flugzeug aus, so kann man die Einkreisung beobachten, die sich unter dem Oberkommando des Generals Belaiev vollzieht. Im inneren Ring stehen drei Bataillone Infanterie, drei Maschinengewehrkompagnien und vier Batterien; die Russen stellten die Soldaten, die Franzosen das Material. Im äußeren Ring stehen das 19., 78., 82. und das 105. Linienregiment, die durch Artillerie und Kavallerie verstärkt sind. Am 14. September erläßt General Belaiev ein letztes Ultimatum. Die Russen lehnen es ab. Die Zivilbevölkerung muß La Courtine verlassen und die Zernierung und der Angriff nehmen ihren Anfang.

Jetzt beginnt das Meeting der zum Tode Verurteilten, das ich herausgegriffen habe, um es ganz zuerst zu zeigen. Erinnern wir uns kurz der einzelnen Phasen des bewegten Bildes. Die ersten Schüsse fallen, zwei Musiker und acht Mann werden getötet. Der Feind hat Gräben rings um La Courtine gezogen. Es erfolgt ein planmäßiger Angriff auf die elftausend Mann, die keine Mittel zur Verteidigung haben. Sie haben ihr Leben verlorengegeben, doch nicht ihre Idee. Fünf Tage wird mit allen Schrecken einer Schlacht gekämpft. Die Offiziere morden, wen sie erreichen können. Sie haben keinen anderen Grund für ihre Morde als ihre Wut und Grausamkeit. Plünderungen werden nicht verhindert. Gegen die Überlebenden geht es mit aufgepflanztem Bajonett. Hunderte werden getötet, noch mehr verwundet, und achthundert verschwinden überhaupt.

Von den elftausend bleiben kaum achttausend übrig. Genau läßt sich die Zahl der Toten nicht feststellen, weil man sie nachts in aller Heimlichkeit beerdigen und jede Spur eines Grabes vertilgen ließ. Bis auf den heutigen Tag ist die Grabstätte nicht bekannt.

Die Überlebenden wurden auf Transportschiffe gebracht und in dunklen, stinkenden Räumen unter Deck nach Afrika befördert.

Zur selben Zeit lagen andere russische Soldaten bei Saloniki. Sie haben dasselbe Heldenschicksal erlebt wie ihre Kameraden an der französischen Front. Aber sie erwachten erst nach der Oktoberrevolution, der zweiten, wirklichen russischen Revolution. Es war keine Revolution, welche die alte Welt stürzte; es war die Revolution, die auf den Ruinen der alten eine neue Welt aufbaute. Auch diese Soldaten erklärten: Wir haben lange genug den Befehlen der Zaristen Frankreichs und der russischen Neo-Zaristen gehorcht. Wir wollen unsere Hände nicht mehr in dem Krieg der Sklavenhändler betätigen. Wir gehören in unser Vaterland, in den Krieg um die Befreiung.

Sie haben Not und Entbehrung gelitten, wurden hingerichtet, man versuchte sie verdursten zu lassen, ließ sie einzeln hinterrücks ermorden. Aber sie haben nicht nachgegeben, und die Überlebenden haben sich in Afrika mit ihren Brüdern von der französischen Front vereinigt.

Viele starben in der afrikanischen Gluthitze. Sie zogen von Lager zu Lager, aus einer Hölle in die andere; jeder Tag ihres Marsches ist eine erschütternde Episode in der Passion der Revolutionäre auf fernem Boden. Zwar hatte sich der Schauplatz verändert, nicht aber ihre Gesinnung: sie wollten nicht mehr Helfer der Imperialisten sein, sondern dem neuen Rußland dienen.

Endlich fällt hohen Ortes nach langen Unterhandlungen, erbitterten Kämpfen und unter dem Gesichtspunkt, daß die Affäre peinliche Konsequenzen haben könnte, die Entscheidung, die Russen in ihr Vaterland zu schaffen.

Aber das scheinbare Ende ihres Leidensweges ist nur der Beginn eines neuen. Zwar werden sie nach Rußland transportiert, aber für das Heer des weißen Banditen Denikin angeworben, der von Frankreich und England bewaffnet wurde, um den Staat der Arbeiter und Bauern niederzuringen. Sie leisten Widerstand, sie meutern. Man dezimiert sie und es geschehen Dinge, wie sie abscheulicher und gräßlicher unsere Zeit nicht sah. Ihre Zahl wird täglich geringer. Trotzdem: sie stehen wie ein Mann.

Die historischen Ereignisse verhindern den Abschluß der Tragödie und verleihen ihr ein ganz anderes Gesicht. Denikin wurde von der Revolution niedergerungen. Die Arbeiter von Tula stellen den weißen Horden einen so gewaltigen Damm entgegen, daß Denikin weichen muß; er flieht erst bis zum Schwarzen Meer und schließlich nach Paris.

Damit ist die kleine Schar russischer Soldaten endlich auf ihrem Platz. Sie wurden wahre Soldaten der Revolution. Sie haben ihre Arbeit geleistet, von der sie träumten und die sie ahnten, als sie sich weigerten, noch länger den Henkern der Völker zu dienen. Ihr unerschütterlicher Widerstand hat schließlich den Sieg davongetragen. Nie wurde ein Eid in der Geschichte der Menschheit herrlicher gehalten, als von diesen Russen, die größer und menschlicher waren als die anderen.

Ich kenne einige von ihnen persönlich. Die einfachen Soldaten haben von Anfang an der Pseudodemokratie des Westens, ihrer bürgerlich vermummten Despotie und ihrer papierenen Freiheit im wahrsten Sinne Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie haben den Gesang der Marseillaise den verantwortlichen Machern der großen internationalen Räuberei in die Ohren dröhnen lassen. Auf ihrem blutigen Marsch durch die Hölle der alten Welt, auf ihrem Wege ins gelobte Land – der Heimat aller ausgebeuteten Menschen – haben sie mit ihrem Willen, ihrem Herzen und ihrem Blute gekämpft. Mit allen Kräften arbeiteten sie am Bau der Zukunft und kehrten sich ab von den Marktschreiern der Zivilisation, der Gerechtigkeit, des moralischen Fortschritts und der Republik, die auf den ministeriellen Jahrmarktspodien und in der Music-Hall in Genf auftreten.


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