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Das Lied des Soldaten

Weil ich nie in meinem Leben Glück hatte,« erklärte der arme Urlauber dem Mädchen.

Das sah man ihm freilich an. Andauerndes Pech hatte ihn ängstlich und bedrückt gemacht, seine Augenhöhlen umschattet. Seine Bewegungen waren unfrei geworden. In dem trüben Gesicht hatten nur die Augen einen schwachen Glanz behalten, Augen, die ein ungeschickter Maler allzu schwarz in diese traurige Umrahmung gesetzt hatte. Seine Haut und der Stoff seines weiten Regenmantels sahen gleich farblos aus. Man hätte meinen können, daß Kinderhände den armen Soldaten zusammengesetzt hätten aus Würfeln, Kugeln und Pyramiden, die schon abgegriffen waren und schlecht ineinander paßten.

»Manche Menschen werden zum Unglück geboren.«

Dies Wort war alles, was ihm seine Mutter einst hinterlassen hatte.

Aus nichts wurde nichts, er konnte tun, was er wollte. Er ließ die Tage und Jahre unnütz verstreichen. Die geringe Habe, die seine Eltern ihm hinterlassen hatten, hatte er verloren. All' seine Pläne ließen sich schlecht an; wie das Gerüst seines Körpers waren sie falsch angelegt und fielen ins Wasser. Er lebte verschüchtert und einsam dahin, verkapselte sich in Schweigen. Die Frauen beachteten ihn nicht; kaum, daß einige, die barmherziger waren, sich über ihn lustig machten. Und die Männer benutzten ihn nur für ihre Interessen. Fast schien es, als ob die Sonne über ihm schwächer leuchtete.

Dieser Mann, der niemals Glück erfahren hatte, mußte natürlich in den Krieg ziehen. Ebenso natürlich war es, daß es ohne Ruhm geschah. Er verließ die Stadt nicht mit einer begeisterten und weinberauschten Truppe, sondern verschwand eines Abends ganz allein, ohne Tambour und Trompete, ohne alle Verbindung mit der Umwelt. Er verschwand wie eine Romanfigur.

Er marschierte, ein namenloser Soldat, demütig in der Reihe. Heldenhaft rettete er das Leben vieler Kameraden. Doch keiner nahm davon Notiz. Den feindlichen Kugeln und sonstigen Fährnissen des Krieges entging er stets.

Und nun kam er – nur für sechs Tage – vom blutgetränkten Schlachtfeld heim. Während dieser kurzen Zeit bekam die Welt für ihn ein ganz neues Gesicht. Das hatte die liebliche Clairine zuwege gebracht.

Es war ein seltenes Zusammentreffen besonderer Umstände, das so viel Häßliches wegwischte; es lag daran, daß die jungen Männer des Landes gefallen waren. Es lag auch an der Sonne, an der Jugend. Man konnte Clairine auf grünen besonnten Steigen sehen, wie sie einen großen Soldaten von unscheinbarem Äußeren zärtlich küßte.

Als er wieder an die Front mußte, die Hand des Mädchens zum letztenmal gedrückt hatte und ganz allein war in der kalten trüben Dämmerung, leuchtete ihm ihre Gestalt wie eine helle Flamme, und sein Herz wurde warm für eine lange Zeit, vielleicht für immer.

Er lachte laut auf, wie ein Betrunkener, obwohl er nüchtern war: drollige Veränderungen gibt es doch manchmal! Wie stolz war er heute abgereist, und vor sechs (sagen wir sieben) Tagen war er müde und kaputt angekommen! Jetzt war er der erste, der über sich lächelte, über den dummen Kerl und über dessen unwahrscheinliches Pech.

Der alte Unglücksrabe mußte eine ganze Nacht und einen ganzen Tag reisen, um an seinen Frontabschnitt zu kommen. Die vielen Zwischenfälle der Reise konnten seine frohe, feste Zuversicht nicht zermürben. Die hatte er wiedergewonnen, wie einer seinen Namen wiederfindet. Selbst in dem überfüllten Gepäckwagen oder in der Ecke des Wartesaals, wo er eingezwängt wie ein Paket sitzen mußte, rauchte er vergnügt seine Pfeife, deren kleiner Kopf in dicke Dampfschwaden gehüllt war wie ein Kochtopf.

Die Entfernung regte seine Erinnerung an. In ihm erstand eine Clairine, die von Stunde zu Stunde herrlicher und menschlicher, greifbarer und verehrungswürdiger, die immer mehr Clairine wurde.

Ein kalter Sprühregen ließ den Bahnsteig, auf dem er aussteigen mußte, wie einen Hafenquai erscheinen. Er machte sich gleich auf den Weg, glücklich und voll innerer Freude. Als der Abend über das Land sank, fühlte er sich frisch, und später, als die Dunkelheit geheimnisvoll die Landschaft mit einem dichten Schleier verhüllte, war er soweit, die Liebhabereien seiner Kameraden zu verstehen und zu probieren.

Der Trupp kam an die Grenze des bewohnten Landes. Hier sah die Erde traurig aus, war schwarz und voller Vorboten des Krieges. Der Weg führte an niedrigen, viereckigen Stapeln vorbei: der große Munitionspark war jetzt am Abend nur eine einförmige schwarze Masse. Sonst waren hier riesige Mengen gelber und roter Granaten und schwarzer Minen zu sehen. Die Güterwagen, aus dem Westen kommend, hatten sie herangeschafft. Die Munition wurde in den Stunden abgeladen, wo keine Sonne und kein Mond leuchtet. Im Umkreis von mehreren hundert Metern war der Boden gleichmäßig mit den todbringenden Geschossen bedeckt.

Weiter hinten im schwarzen Dunst reckte eine gewaltige Kanone ihr Riesenmaul in die Lüfte; ihre scharfen Konturen zogen den Blick an.

Die Aussicht wirkte entmutigend auf den Menschen, der zum ersten Male in seinem Leben glücklich war; aber er fand seine Zuversicht bald wieder.

Nun kam er in eine eigenartige Stadt: in das Etappenlager. Die vielen Baracken bildeten Reihen, Straßen und Plätze. Die militärischen Kommandos, die Diensträume der Militärpost, die Bekleidungsmagazine mit ihren zehntausenden von Uniformen, die gefaltet und zu hohen Stößen aufeinandergeschichtet waren, zeigten ihre Silhouetten. Die niedrigen Feldlazarette, die viel Platz brauchten, erinnerten an Soldatengräber, an den Militärfriedhof mit den Kreuzen aus rohen Baumästen. Es herrschte ein unaufhörlicher Lärm von Flüchen, Scheltworten, kreischenden Rädern und ratternden Wagen. Patrouillen zogen umher … Zweifellos war etwas im Gange: es roch stark nach einer Offensive. Aber der Mensch, der als einzelner das wimmelnde Leben durchquerte, ließ sich in seiner frohen Stimmung nicht beeinträchtigen.

Und bald gelangte er an die Ruinen eines Dorfes, das nur noch ein Gewirr von Schutthaufen war. Weißer Kalkstaub lag auf den Gärten, um die halb verfallene Zäune liefen. Der Kirchturm, dessen Kreuz heruntergeschossen war, diente als Beobachtungsposten. Die Fahne des Roten Kreuzes wehte darüber.

Schüsse blitzten nah und fern auf, und Kanonendonner rollte ohne Unterbrechung.

Auf einem Hügel, der durch Vorberge gut gegen Einschläge gedeckt war, und über den die Granaten hinwegflogen, standen Offiziere des Stabes, um die Wirkung der Versuchsschüsse und das Einschießen zu beobachten.

Einer meinte: »Das ist schön.«

Darauf ein anderer: »Warten Sie, es wird noch viel schöner.«

Dann kehrten sie in ihre Etappenquartiere zurück.

Als der Urlauber sich dem ungeheuren Chaos des Krieges wieder näherte, empfand er Furcht vor den Gefahren um sich und über sich. Aber kein Gefühl in ihm war so stark wie seine Liebe, die alle Furcht vertrieb. Als hätte er Eile, begann er sogar rascher zu gehen und ein Lied zu singen.

Leichten Schrittes lief er eine Straße entlang, über die kreuz und quer umgeschossene Baumstämme lagen. Zur Rechten erinnerten ein paar schwarze Mauerreste und ein halber Torflügel nur allzu deutlich daran, daß hier ein Dorf gestanden hatte und im Trommelfeuer vielleicht in Sekunden vernichtet wurde. Und immer lauter sang er, während er durch den nebligen Abend schritt. Ein Soldat, der dort in einer Höhle hauste, sah ihn vorübergehen – lustig gestikulierend und ein Lied auf den Lippen; er hielt ihn für betrunken und glaubte, ihn warnen zu müssen.

»Pass' auf, alter Freund, hier gibt's Gendarmen, Daß dich das nicht Kopf und Kragen kostet!«

Er mußte über Reservestellungen springen, die eben ausgeschaufelt waren und nach frischer Erde rochen. Hier lagen wilde, grinsende Senegalesen und französische Gendarmen – die Berufssoldaten der Armee, die von allen waffenfähigen Bürgern während des Krieges am wenigsten zu kämpfen brauchten. Diese Truppengattung, überhaupt alle Kolonialsoldaten, waren dazu bestimmt, die Kampffront nach dem Hinterland abzuriegeln und die Flucht von Soldaten zu verhindern. Offiziell hießen die Gräben Reservestellungen, doch war das für ihre Bestimmung eine sehr liebenswürdige Bezeichnung.

Um es ihn nicht vergessen zu lassen, grinste ein Neger, als der Urlauber solch einen von Menschen wimmelnden Graben übersprang, ließ seine blitzenden Zähne bis an beide Ohren sehen, machte die Gebärde des Aufspießens und knurrte, nach vorn weisend: Französische Soldaten!

Der Soldat durfte nicht einmal ein Gesicht ziehen, mußte rasch diese ekelhafte Zone durchqueren; als er allein war, gewann er seine gute Laune, seine Heiterkeit wieder und sang ein neues Lied.

Ein wenig weiter lagen die eigentlichen Stellungen, ausgedehnte Gräben, hinter deren Böschungen Polizeisoldaten und ihre schwarzen Gehilfen mit Maschinengewehren lauerten. Als er bei den großen Unterständen anlangte, war es schon Abend über der Erde geworden. Hier war er abgeschieden von aller Welt und nur ein Glied des großen furchtbaren Mysteriums.

Er tastete nach allen Seiten die Wände ab, war gefangen in dem Raum, den die Erdmassen umschlossen und zusammendrückten, daß er den Atem zu verlieren meinte.

In dieser winzigen öden Hölle begann er noch schöner zu singen.

Unterdessen entspann sich in der Ferne eine Schlacht. Blitze und Einschläge wurden immer häufiger. Leuchtraketen und rote oder grüne Signalkugeln rissen die Blicke an sich. Ein Teil des Grabens war eingestürzt – die Schipper hatten ihn lange nicht ausgebessert. Die Böschung war so niedrig, daß manchmal der Blick in die Ferne schweifen konnte. Die Augen wurden geblendet von der Helle, die am Himmel durcheinanderflutete.

Etwas weiter lag ein Baum, dessen Krone noch aus dem Hohlweg herausragte, weil die Böschung an dieser Stelle flacher war. Ganz in seiner Nähe stand das eiserne Ungetüm, das Flammen gen Himmel spie. Deutlich sah man, wie das Feuer herauszischte und mit rollendem Krach wieder in sich zusammenfiel.

Im gewaltigen Donnern dieser Kanone konnte er seine Pfeife rauchen und singen, so laut er wollte.

Er stieg die schräge Ebene empor, und sein Lied verstummte nicht.

Manchmal war der nächtliche Himmel für Sekunden tageshell. Dann wieder barsten die Granaten, daß das ganze Firmament zusammenzubrechen schien. Die Ebene ließ das Mündungsfeuer der Kanonen und die Einschläge der Granaten sehen, und beinahe jeder Trichter war ein Grab gemordeter Menschen.

Obwohl er erregt war durch die taghellen Blitze und das metallische Donnern der Kanonen, lebte in ihm das Glück über Clairine.

Es war schon tiefe Nacht, als er in die Nähe der Stellung seines Regiments kam. Durch lange Serpentinengräben gelangte er schließlich zu seiner Kompagnie.

»Du kommst wie gerufen zur Arbeit!« sagte der Feldwebel statt einer Begrüßung. »Es war einer zu wenig. Nimm einen Spaten. Und sei ruhig, du Esel. Ich hätte Lust, dir ein paar 'runterzuhauen. Da wärst du gleich still.«

Der Soldat, der so trunken von Glück war, schämte sich ein wenig und schwieg. Denn er war der Stärkste nicht. Aber was war, war, und niemand konnte es ihm nehmen. Seine Freude währte, durchrieselte seinen ganzen Körper, und das Lied, das ihn seit dem Abschied von Clairine begleitet hatte, strömte frei aus seiner Kehle.

Der kleine Trupp der Schipper war aus der dämmrigen Stellung in die schwarze Nacht hinausgekrochen. Der Soldat sang wieder sein Lied, wie eine Katze am warmen Feuer schnurrt.

»Will der Teufelskerl wohl endlich still sein!« fluchte der Feldwebel.

Je ferner er von Clairine war, desto mehr erregte sie ihn, um so größer erschien ihm das Erlebnis. Rüstig stieg er über die schwarzen rauhen Erdschollen. Sternschnuppen leuchteten auf. Ihm war es wie ein Fest, ein Feuerwerk zu Ehren seiner Verwandlung vom Pechvogel zum glücklichen Menschen. Keine Macht konnte ihn hindern, das Schöne noch schöner zu finden und immer wieder sein Lied zu singen.

»Hör' doch auf!« flüsterten ihm die Kameraden wütend zu.

Aber soviel wußte er als Soldat schon von der Nachtarbeit: eine unmittelbare Gefahr bestand nicht; denn die vordersten Gräben waren noch weit, und außerdem kommandierte der Offizier die Abteilung selbst, was er im Augenblick der Gefahr nicht mehr zu tun pflegte.

Und dann war – wie ich schon sagte – sein Glück viel größer als er. Er konnte jetzt nicht mehr ruhig bleiben wie ein schlechter Schüler. Sein einfaches Herz war übervoll, und er sang, ohne aufzuhören, ohne an Ort und Stunde zu denken.

Alle Kameraden hatten Furcht vor dem seltsamen Menschen, dessen Lied nie endete. Die einzelnen Schipper standen zu weit auseinander, um ihm die Meinung zu sagen. Die Linie geriet in Unordnung, und eine Panik drohte.

»Bringt ihn zum Schweigen! Gleichviel, wie!« sagte der Offizier bebend vor Wut zum Feldwebel.

Der Feldwebel verbeugte sich, schnarrte etwas und verschwand wütend in die Nacht – alsbald wurde es still, ganz still über der Ebene.

Beim ersten Dämmerschein führte der Feldwebel den Arbeitstrupp in den Graben zurück und meldete in strammer Haltung:

»Ein Mann fehlt.«

»Das ist dumm,« sagte der Hauptmann, der auf seine Leute hielt.

Er sah Blutspuren auf der Tresse des Unteroffiziers.

»Sind Sie verwundet?«

»Nein, Herr Hauptmann. Es ist von meinem Messer.«

»Ah, sehr gut,« murmelte der Hauptmann, der an eine Heldentat dachte.


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