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Zusammengekettet

Er kam auf das Haus von Andreas zu.

»Guten Tag.«

»Guten Tag, Andreas.«

»Komm doch 'rein.«

»Du sprichst so merkwürdig.«

»Komm doch!«

»Ja, Andreas, wo ist denn Rita?«

»Ich weiß es nicht. Rita und ich, wir kennen uns nicht mehr.«

»Was? Ihr beide … bei eurer sprichwörtlichen Liebe; ihr wart doch das vollkommenste Liebespaar, das wir uns denken konnten.«

»Wir lieben uns nicht mehr.«

»Wahrhaftig? … Andreas, ging sie von dir weg?«

»Ja, ja, sie ging weg.«

»Sag' mir …«

»Die ungarischen Gefängnisse sind schuld.«

»Ich weiß, daß ihr beide eingesperrt wart. Aber doch nicht lange.«

»Nicht lange! Sechs Monate …«

»Seid ihr geschlagen, mißhandelt worden? … Du drehst dich weg, Andreas. Oh, ich verstehe: sie ist mißhandelt worden, nicht wahr?«

»Nein. Nicht so, wie du glaubst.«

»Dann verstehe ich's nicht.«

»Im Gefängnis sagte der Kommandant von Pronay, der uns beide haßte und rasend wurde, wenn er uns sah: ›Ihr liebt euch, nicht?‹

»Da trennte er euch …«

»Im Gegenteil. Er hat gesagt: ›Ihr sollt zusammengebunden werden.‹«

»Und dann?«

»Dann kamen Tage, Nächte und wieder Tage. Verstehst du das? Nein, das kannst du nicht. Zunächst glaubten wir, wir würden zusammen sterben und freuten uns der engen Stricke; wir lagen Herz an Herz und sahen einander in die Augen. Aber nicht für den Tod, für das Leben waren wir zusammengebunden.«

»Um so besser.«

»Nein. Es ist viel schlimmer.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich sage dir, du wirst es nie verstehen. Ich würde früher auch wie du gesprochen haben. Kein Mensch kann verstehen, was es heißt, immer denselben fremden Atem zu spüren, wenn man die Augen schließt und den Kopf nicht wegbiegt. Nicht eine Hand breit waren unsere Gesichter entfernt. Anfangs war es schön, immer in ihre Augen mit den langen schlagenden Wimpern groß wie durch eine Lupe zu sehen und ihren Mund bei der kleinsten Bewegung auf dem meinen zu fühlen. Aber nicht lange … Denn dann …«

»Du wirst rot, Andreas.«

»Ja, ich schäme mich der Erinnerung. Zwei aneinandergefesselte Körper, wie wir …«

»Au, meine Schultern, Andreas. Wie Krallen sind deine Finger.«

»Ich will, daß du endlich verstehst.«

»Aber ihr konntet euch doch bewegen, konntet zusammen hin und her gehen.«

»Ja … sei still. Ich mag von den Einzelheiten nicht reden.«

»Natürlich. Aber …«

»Sei still! Es dauerte Tage, Nächte, Wochen und Monate!«

»Andreas, einfaches Mitleid …«

»Das Mitleid zertrümmern die Verhältnisse wie alles Schöne.«

»Andreas, deine Gefährtin war doch keine Sache.«

»Doch. Eine unglückliche Masse. In der ersten Woche sagte man noch: ›Laß nur, das macht nichts‹ oder ›Armer Kerl, ich habe dich sehr lieb. Um mich brauchst du keine Angst zu haben.‹ ›Wir werden vergessen, an was wir uns nicht erinnern wollen‹ und andere Lügen.

Dann sind Mitleid und Liebe langsam umgeschlagen, weil wir wußten, wir würden all das Furchtbare nie vergessen können.«

»Ganz von selbst?«

»In dem Schmutz, dem Unrat.«

»Nun sei du still, Andreas, bitte!«

»Und immer dasselbe Bild vor Augen zu haben, immer aus zwei Körpern zu bestehen, der eine fest gegen den anderen gedrückt.

In der ersten Zeit hatte das menschliche Doppelwesen, das wir waren, überhaupt nicht geschlafen. Unsere Augen bekamen einen fiebrigen Glanz und lagen tief in ihren Höhlen. Wir fürchteten den Schlaf. Später schliefen wir. Aber weckten einander wieder.

Die Stricke zusammen mit dem Gewicht der Frau taten mir weh und ich lud ihr durch meinen Körper die gleiche Last auf. Die Müdigkeit des einen ermattete und machte den anderen müde. Man widersprach, man kämpfte. Aber das war noch gar nichts. Vor allem, ich sage es noch einmal …«

»Wiederhole es nicht.«

»Doch … Vor allem war es die rohe Betrachtung eines Körpers, die unbarmherzige Teilung der eigenen Gestalt und des Lebens, schlimmer als eine Leichenschau. Die Atmung, das Herzklopfen und die furchtbare Ausdünstung der Maschine mit weichem Räderwerk, die wir darstellten. Der menschliche Körper ist ein Haufen Dreck und ein Gefangenenkörper um so mehr … Du siehst das nur ganz flüchtig, so, wie mein Bruder, der arme Teufel, glaubt, einmal die Hölle gesehen zu haben. Du ahnst es, aber im Grunde weißt du nichts davon.«

»Was ist dir plötzlich, Andreas? Du bist erregt, stehst auf …«

»Und weiß ich es denn? Weiß ich, ob die Qual des Geistes oder des Fleisches schlimmer ist? Wenn man nicht mehr sagt: ›Ich liebe dich‹ und sich nur noch um sich kümmert, beginnt man zu ächzen, zu schreien; und in diesen Schreien liegt Haß; mit unseren Blicken haben wir einander die Augen aus dem Kopf gerissen.

So haben wir alle Verbitterung, allen Ekel, alle Qual durchlebt. Ich habe sie dieser Gefühle beschuldigt und sie mich.

Diese Zeit hat unsere Liebe zermürbt. Ich muß gestehen: Wir haben es beide nicht lange ausgehalten. Selbst ein gemeinsames Verbrechen, gemeinsame Schmach würde man gern auf sich nehmen, wenn man einander liebt; denn das sind wenigstens Dinge, die rasch vorübergehen. Aber diese Gemeinsamkeit rächt sich furchtbar. Sie wird zur Krankheit, macht irrsinnig und erzeugt einen Haß bis in den Tod. Du weißt, es gibt Schmerzen, die du kaum merkst, wenn sie nur augenblicklich auftreten, die dich aber zum Weinen bringen, wenn sie länger anhalten. Und das ›länger‹ beginnt schon nach ein paar Stunden. Nach sechs Monaten wurden wir entlassen und konnten einander den Rücken kehren.

Noch jetzt bringt mich die Erinnerung an Rita außer Rand und Band und mir wird schlecht, wenn ich an ihre Augen denke. Ich fühle mich in ein wildes Tier verwandelt. Wir haben einander nicht verziehen.«

»Sie auch nicht? Woher weißt du das?«

»Nein, niemals! Sie wird es noch weniger können als ich.«

»Andreas, bedenke die Qualen, die Tausende unserer Freunde erlitten haben.«

»Ich weiß. Ich habe manches gesehen. Ich habe die Qual gesehen (und wenn ich die Augen schloß, gellten mir die Schreie und Schläge in die Ohren), die C. erleiden mußte. Mit Stöcken wurden ihm alle Zähne ausgeschlagen, die er dann verschlucken mußte. Er mußte den Inhalt eines Nachttopfes verzehren, den ein Gendarm aus dem Lazarett geholt hatte. Er starb vor Qual und Ekel.

Ich habe das verkrampfte Gesicht des S. gesehen, als ihm mit einem Seitengewehr die Fußsohle heruntergerissen wurde, wie man eine Schuhsohle abreißt.

Und die Genossin L., die nur noch ein Stück zerfetzten Fleisches bildete, als man ihr neugeborenes Kind mit Axt- und Keulenschlägen in den Bauch zurücktrieb.

Ich habe den tapferen ungarischen Bauern – er war ruhig und gefaßt – in das Zimmer des Gefängnisdirektors gehen sehen und konnte alles durch die Tür hören (ich sollte als nächster an die Reihe kommen). Als er die Unwahrheit nicht eingestehen wollte, als er nicht zugeben wollte, daß er von einem Komplott wisse und die Namen kenne, die man gerade brauchte, als er überhaupt keine Aussage mehr machte, wurde er gefoltert. Wir konnten die Säbelklingen auf seine Haut klatschen, die Knochen zersplittern hören, aber keine Klage wurde laut. Dann wurde es ganz still, denn die Mordbuben machten sich an eine Arbeit, von der man nichts hörte. Plötzlich gellte ein furchtbarer Schrei. Bald darauf wurde die Tür geöffnet, und der vor einer halben Stunde aufrecht das Zimmer betreten hatte, lag jetzt auf einer Tragbahre ausgestreckt und wälzte sich in Schmerzen. Der nicht sprechen wollte, heulte ununterbrochen und Schaum trat ihm vor den Mund. Seine Kleider waren zerrissen, auf dem nackten Bauch klaffte ein blutiges Loch. Ein Polizist hatte ihn mit einem rostigen Messer entmannt; er zeigte vor, wie er es gemacht hatte, aber seine Hand zitterte dabei.

Warum ich dir das erzähle? Um dir zu sagen, daß ich all diese Dinge mit eigenen Augen gesehen habe. Um dir zu sagen, wie es denen erging, die Ungarns Kerker nicht als Touristen besucht haben. Und noch anderes habe ich gesehen: den Tod in Uniform mit Tressen und Säbel, der in die Wohnungen eindringt und Väter zwingt, ihre Söhne zu verraten, und Kinder, sich hinter ihren Vätern zu verstecken, und Gläubige, ihren Glauben zu lästern.

Aber die Ungeheuer, die zwei Wesen voller Jugend, Leben und Liebe an den Lenden zusammengebunden haben, sind in ihrer Grausamkeit viel raffinierter gewesen. Mit ihrer Chirurgie haben sie in den beiden Menschen selbst das ausgerottet, was die im Herzen hatten.

Genosse, ein wirklicher Mensch trägt, ob er es weiß oder nicht, die rote Fahne auch im Herzen. Jetzt bin ich bemüht und begeistert, alles aufzubieten für die Menschheit. Siehst du, in den Gefängnissen altert der Körper, aber der revolutionäre Glaube verjüngt und festigt sich. Mein Haß gegen die Banditen, die über alle Länder der Erde, außer einem einzigen, herrschen, wird heute von einem Hauch froher Gewißheit wieder angefacht.«


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