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Und doch keine Heimkehr

Die Nordamerikaner haben viel für Mexiko übrig. Sie sind stark daran interessiert, denn das Land ist wertvoll, hat mächtige Ölquellen und reiche Bodenschätze. Es ist bekannt: solche Bodenschätze müssen den Yankees gehören, ihre Ausbeute muß nach Wall-Street wandern, diesem turmhohen Tresor, dem größten der Welt, der sich ganz von selbst immer mehr füllt. Die Nordamerikaner bemühen sich auch nach Kräften, in dem schönen Mexiko den Unabhängigkeitssinn und den bösen Geist der Revolution auszurotten, der noch schlimmer ist als der Unabhängigkeitssinn, weil er erst dem Freiheitsdrang eine vernünftige Grundlage gibt.

Aber das gute Geschäft macht ihnen Mühe, denn die mexikanischen Arbeiter sind ganz und gar nicht für eine Kolonisation durch die U. S. A. zu haben. Und immer wurden von den Massen des Volkes geliebt, die sich laut und vernehmlich dem Zwang einer englisch sprechenden Zivilisation widersetzt haben. Viele von ihnen haben die Amerikaner ins Gefängnis werfen lassen. Weil das mexikanische Volk, wie man weiß, die Zähne gezeigt und sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen begonnen hat, müssen sie im Gefängnis bleiben.

Im Jahre 1913 wurden José Rangel, ein bekannter mexikanischer Revolutionär, zu 99 Jahren Kerker und ein anderer, den ich José Réal nennen will, zu 75 Jahren durch die Schergen der großen demokratischen Republik verurteilt. Mit anderen Worten: sie waren zum Tode durch Altern verurteilt und sie betraten das Gefängnis wie ihr Grab.

Tatsächlich genießen die politischen Gefangenen dieses Landes keinerlei Vergünstigung.

Aber manchmal wird eine Maßregel angewandt, die sich als Strafmilderung, ebensogut jedoch auch als besonders raffinierter Strafvollzug ansehen läßt: Es kommt, wenn auch nur sehr selten, vor, daß sie die Erlaubnis erhalten, einmal die Ihren zu besuchen, unter der ehrenwörtlichen Verpflichtung, zu bestimmter Stunde wieder im Gefängnis zu sein. Und wohl gemerkt: die Gnade, die erst große Freude auslöst, aber so furchtbar endet, wiederholt sich nie. So ging es José Rangel, später José Réal.

Der war, wie ich bereits erzählte, 1913 verurteilt worden. Vierzig Jahre war er damals alt, wie seine Frau. Seine Tochter Savaria war erst acht Jahre, als er aus dem Kreise der Lebenden schied und sein Sohn Vincente zwölf. Inzwischen waren die Kleinen groß geworden, hatten geheiratet, und beide hatten schon Kinder. Alle bewohnten sie noch das gleiche Haus in San Sebastiano, in dem José Réal gelebt hatte, als er ein Mensch war.

Als er hörte: »Du darfst einen Tag lang nach Haus gehen. Am Abend wirst du das Gefängnis verlassen, mußt aber am nächsten Abend wieder hier sein!« – wurde sein Herz schwer vor großer Freude. Er sollte die stille liebe Clemence wiedersehen, die zwanzig Jahre sein Leben, Freud' und Leid mit ihm geteilt hatte, ein kräftiges junges Weib an Stelle eines Töchterchens und einen schönen jungen Mann an Stelle eines Knaben. Endlich zwei Babys, deren Großvater er war, ohne je mit dem Mann und der Frau gesprochen zu haben, deren Schwiegervater man ihn nun nannte. Ja, ein Wunder und doch wahr: er sollte sehen, sollte mit eigenen Händen berühren dürfen, wovon ihm ein paar Briefe, linkisch und wortarm, recht und schlecht berichtet hatten: »Ein Kind wurde geboren, das Arturo heißt, und eins, das heißt Michel. Sie wachsen, sie sind lustig.« Das ist alles, was der Brief erzählt.

Er sollte es körperlich erleben dürfen, während einer unendlich langen Zeit, einen vollen Tag sein ganzes Sein damit erfüllen!

Sein Glück war um so größer, als sich die Angelegenheit sehr lange hingezogen hatte, mehrere Monate von ihr die Rede gewesen war, er mit zusammengebissenen Zähnen von ihr geträumt und zwischen Hoffnung und Verzweiflung dahingelebt hatte.

Als endlich der Tag bestimmt war – er war gleich ein ganz anderer Mensch voll frischen Mutes –, überlegte er, ob er den Seinen sein Kommen mitteilen oder ob er sich einfach am Abend einfinden solle. Vielleicht mit den Worten: »Da bin ich. Ich würde gern was essen,« so, als ob er vom Bauplatz heimkäme.

Doch schien es ihm zu gefährlich, die Überraschung zu wagen: wenn sie nun zufällig gerade nicht zu Haus wären! Nein, er wollte sich lieber anmelden. Eines Tages nun verließ er das Gefängnis gegen drei Uhr nachmittags. Er sollte am nächsten Abend bei Sonnenuntergang – es war Sommer – wieder zurück sein. Aber nicht einen Augenblick dachte er an diesen nächsten Abend, an das Ende von allem.

Es war ihm fremd geworden in den dreizehn Jahren, auf dem Straßenpflaster frei dahinzugehen, die Arme recken zu können, rechts und links, ohne mit der Hand an eine Mauer zu stoßen. Er wußte nicht mehr, was es heißt, mit den Augen die lichte, ferne Weite trinken zu können.

Er war nicht sehr sicher zu Fuß, oft tanzte ihm alles vor den Augen, und die Leute, die ihn trafen, sagten: »Der ist gewiß von einer schweren Krankheit aufgestanden.« Damit hatten sie nicht so unrecht.

Er hatte ausgerechnet, daß er gegen acht, bei hereinbrechender Dunkelheit, zu Haus ankommen könnte, wenn er zuerst mit der Bahn fahren und das letzte Stück Wegs laufen würde. Er würde die Lieben noch im Lichte des Tages sehen können, bevor sie die Lampe ansteckten. Das müßte schön sein.

In dem Zug fühlte er sich geblendet und sehr müde. Beim Rollen der Räder fielen ihm die Augen zu, die doch sehen, all das Schöne in sich aufnehmen und nichts verpassen wollten.

Er sah nur einen Reisenden, der zugleich mit ihm eingestiegen war und von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihn warf. Er hatte wohl die Gestalt dieses Reisenden schon oft gesehen; aber unter der starken Erschütterung, in die ihn die fremde Umwelt versetzte, wurde ihm nicht bewußt, daß er den Mann kannte. Es war ein Polizeiinspektor, der ihn an seinen Eid erinnern sollte, falls er nicht zurückkehrte, wie er sich verpflichtet hatte. Denn kein Gefängnis- oder Regierungsbeamter hat besonderes Vertrauen zur Anständigkeit und Ehrenhaftigkeit der Menschen. Der Inspektor indessen benahm sich korrekt und gab sich scheinbar große Mühe, an etwas anderes zu denken.

Endlich konnte José aussteigen. Es war sechs Uhr. Jetzt hatte er noch ungefähr zwei Stunden zu laufen: für einen gewöhnlichen Menschen eine Kleinigkeit, nicht aber für einen Gefangenen, der seit dreizehn Jahren nur ein paar Schritte in einem winzigen Hofe gegangen ist.

Als er die Straße entlang seines Weges zog, überkam ihn ein unbezwingliches Verlangen nach Schlaf. Zuviel Neues war an diesem halben Tage auf ihn eingestürmt.

Sein Körper zog ihn zu Boden, und er schloß die Augen. Er konnte diesem Verlangen nicht mehr widerstehen. Unter einer Holzbaracke streckte er sich aus, ohne auch nur noch denken zu können. Er war zu müde, noch etwas zu denken; und wenn Tränen in seinen Augen standen, so kamen sie vom Gähnen. Mit noch offenem, gähnendem Munde fiel er in einen tiefen Schlaf. Als er wieder aufwachte, stand die Sonne schon am Himmel. Sein Leib schmerzte ihn, und er stand auf. Er begann zu rennen, dem Ort zu, wo sein Haus stand. Doch nicht lange konnte er so rasch laufen und er begnügte sich, tüchtig auszuschreiten.

An Arbeiterhäusern, Häuschen mit Vorgärten, Baracken kam er vorbei: die Häuser von San Sebastiano liegen ganz verstreut an der Straße. Von den ersten Anwesen hatte er noch drei bis vier Kilometer bis zu seinem Haus zu gehen.

Auf der Schwelle eines der Häuser stand jemand, der ihm beim Näherkommen winkte:

»José!«

Es war Santander, sein alter Kamerad aus der Zeit des Elends und des Kampfes.

»José! Ja, jetzt erkenn' ich dich. Du bist es!«

José antwortete einfach, ohne die Arme zu rühren, mit einer Stimme, die vom Laufen erschöpft war und schwer von einer Herzenslast, die ihn drückte:

»Ich bin's.«

»Ich erkannte dich gleich,« rief froher Santander. »Du hast dich kaum verändert. Übrigens hat uns Clemence, deine Frau, erzählt, daß du kommen sollst. Sie war gestern abend hier, weil sie dachte, du wärest schon da. Als niemand kam, ging sie in der Nacht wieder zurück.«

Nur wenige Schritte davor war er in Schlaf gesunken. Wäre er doch noch eine oder zwei Minuten weitergegangen, hätte er bei Clemence sein können.

Im Laufe des Gespräches waren andere Freunde und Kameraden aus ihren Häusern gekommen, winkten und traten mit lauten Grüßen heran. Die Augen leuchteten aus den braunen Gesichtern. Sogar Tränen standen in ihren Augen. Sie ergriffen seine Hände, umarmten ihn und drückten ihn an sich, stark und brüderlich.

Auch Frauen kamen. Die Kinder hatten zu spielen aufgehört und betrachteten alles. Und selbst der Pfarrer Léonte war da, mit dem José früher gar nicht gut gestanden hatte. Pfarrer Léonte war dick und rund geworden, sein voller Mund sah wie mit Speck eingerieben aus. Er lachte und fuchtelte mit den Händen, aber in seinen Augen stand nichts Gutes.

»José, komm doch herein! Nur auf ein Glas Wein!«

Unter den Umständen konnte er es nicht abschlagen. Es würde ihm auch neue Kraft geben.

»Ja, aber nur trinken, dann muß ich weiter.«

»Ja, ja. Sie warten auch schon auf dich.«

Doch brachten die Bitten der Freunde zuwege, daß er sich setzte (schon der kurze Weg hatte ihn müde gemacht), während die Frau nach Wein lief.

»Noch ein Glas, alter Freund!«

Gläserklingen, Fragen und laute Schreie erfüllten die kleine Stube, in der sie saßen.

»Jetzt ist's genug, ich gehe.«

Aber er konnte nicht mehr aufstehen …

In seinem Kopfe drehte es sich von den drei Gläsern, die er getrunken hatte. Verwirrt schenkte er sich noch ein viertes Glas bis zum Rande voll, um sich Mut und Kraft anzutrinken, und goß es in einem Zuge hinunter.

Das wirkte wie ein Stockhieb auf seinen Nacken, und unklar begriff er, was er angerichtet hatte.

Die anderen fragten sich: »Was hat er bloß?« und verstanden es nicht, was es heißt, Jahre hindurch in einer Zelle zu sitzen, nichts als Bohnen und lasche Suppen zu essen, nichts als Wasser zu trinken. Die vier Gläser, die er getrunken hatte, wirkten wie vier Krüge auf einen anderen Menschen.

Wie eingetrocknet war sein Hirn, und er mußte sich selbst im Sitzen festhalten, um nicht zu fallen. Die Gestalten seiner Freunde schienen ihm vervielfacht, ihre Münder, leicht verbreitert durch ein gutmütiges Lächeln, unendlich breit, die Mauern schief. Er sah die Leute, die kamen und gingen, im Zickzack torkeln.

Das furchtbarste war: er sah anfangs das Unheil klar genug, das er angerichtet hatte.

Zorn packte ihn, er stand auf und schrie los. Aber dieser Ausbruch warf ihn vollends nieder, und er sank zurück.

Noch einmal bemühte er sich, aufzustehen, das Gesicht zur Tür und zur Straße, mit stieren Augen.

Die Freunde suchten ihn rasch zu stützen. Denn sie schämten sich, waren traurig, und doch war es nicht ihre Schuld. Sie hatten das alles nicht bedacht, das war ihr einziger Fehler.

José wankte auf Pablo gestützt zur Tür.

»Die Luft wird ihm gut tun.«

Sie bekam ihm schlecht. Anstatt die Trunkenheit aus dem zu sehr geschwächten Körper zu treiben, fachte sie die innere Glut nur noch mehr an.

Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau vor ihrer Tür.

Er rief: »Clemence!«

Es war nicht Clemence, aber er wollte zu ihr gehen. Da führten ihn die Freunde hin.

Sie hatte Furcht, die Frau, und ihr Gesicht wurde bleich. Sie zitterte und wollte weglaufen, aber sie traute sich nicht.

Er sprach sie, flehte sie an:

»Kennst du mich denn nicht mehr? Wo sind die Kinder und die ganz Kleinen? Wo stecken sie? Zeig sie mir doch!«

Die Freunde wollten ihn wegziehen und schrien ihm alles Mögliche ins Ohr. Die einen schalten, die anderen baten, und keiner wußte, was besser wäre. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.

Etwas abseits betrachtete der Pfarrer Léonte die Szene mit einem etwas zynischen Lächeln.

Unterdessen war eine junge Frau die Straße von San Sebastiano entlang gekommen. Mit froher Miene war sie gekommen. Als sie den Auflauf sah, strahlte ihr Gesicht.

»Er ist da.«

Als sie den armen Menschen erblickte, der mit verglasten Augen dahinwankte, stieß sie einen Schrei aus.

Der Ton dieser Stimme wirkte ganz eigentümlich auf José Réal.

Man hat von der »Stimme des Blutes« geredet, und vielleicht ist das nicht so falsch; denn ganz plötzlich beruhigte er sich und richtete seinen Blick auf sie.

Aber die junge Frau weinte und hielt die Hände so vor das Gesicht, daß der Vater die kindlichen Züge der kleinen Savaria auf dem Gesicht nicht fand und wieder wegsah. Auch das Kind sah er nicht, das sich an den blauen Rock der Mutter klammerte und sich furchtsam hinter ihr versteckte.

Er verfiel in einen wirren schlimmen Traum. Er bildete sich ein, man wolle ihm eine Tür nicht öffnen, vor der er stehe. Er schrie und rang die Hände:

»Mach mir doch auf, mein Täubchen! Ich bin's.«

Dann ließ er sich auf einen Stein nieder. Die Leute kamen und gingen wieder weg. Sie wußten buchstäblich nicht, was tun. Sie hielten ihn, damit er nicht hinfalle und sich beschmutze. Die bei ihm blieben – andere mußten zur Arbeit – vermochten stundenlang nicht, ihn aus seiner Betäubung zu reißen.

Schließlich kam der Augenblick, wo der Beamte, der ihm in einem Abstand gefolgt war, erklärte, daß er zur Bahn müsse, wenn er den Zug erreichen wolle.

José mußte auf einem Wagen zur Station gefahren werden, von wo ihn der Zug bis fast in das Gefängnis brachte, das er nur noch »mit den Füßen nach vorn« verlassen sollte.

Er lehnte in einer Ecke und schlief. Im Schlafe hellte sich sein Blick auf. Sicher erlebte er im Traum, was ihm das Leben nicht vergönnt hatte. Nur so konnte José Réal, das Opfer der traurigen Ungeschicklichkeit seiner Brüder im Elend, das Opfer seiner eigenen Schwäche, von nun an noch glücklich sein.


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