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Die Walze der Zivilisation

Dieses Mal, Freunde, müssen wir die Länder verlassen, in denen ihr lebt, um eine wahre Geschichte zu hören, wie ich sie euch schon erzählte.

Auf der Erdkarte wirkt das westliche Afrika wie ein Plan von Parzellen, die einen großen Teil unserer Erde einnehmen. Die einzelnen geometrischen Abschnitte scheinen noch ein wenig leer. Diese Parzellen wurden nie gekauft: es wäre auch zu kostspielig gewesen, sie mit Geld zu bezahlen. Die schönen Vierecke auf der Erdkarte zeigen die Teile Afrikas, die den verschiedenen Großmächten zufielen, als sie als Eigentümer von dem Land Besitz ergriffen.

Geht man in das Innere des Kontinents, gelangt man bald in den Busch, einen unendlich großen, niedrigen Wald. Die Bäume sind in der Sonnenglut vertrocknet und kahl geworden und gleichen darin neun Monate im Jahre unseren Bäumen während des Winters. Sie grünen nur in der Regenzeit.

In diesem großen Busch stößt man dann und wann auf Städte mit Regierungspalästen und Banken. Doch hat jede Stadt auch ihr Eingeborenenviertel; die öden, traurigen Stätten, wo die Neger aufeinanderhocken, gleichen Konzentrationslagern oder auch Hühnerhöfen.

Andere Neger wohnen in den Buschdörfern. Ein solches liegt ein paar Kilometer von der Stadt Bamako entfernt, die ganz neu angelegt ist und auf jeder Kolonialausstellung Bewunderung erwecken würde. Das Dorf liegt in einer Lichtung des Busches und besteht aus etwa zwanzig spitzen Strohhütten, Glocken gleichend, deren Rand eingegraben wurde.

Das Dorf heißt Dialaku. Vor Zeiten lebten dort die Bambaras, die Uoloffs und andere schwarze Stämme. Sie führten ein gesundes, beschauliches Leben. Sie arbeiteten und waren glücklich. Es ging beinahe zu, wie es wahrscheinlich in den Urzeiten auf der ganzen Erde zugegangen ist.

Auch die Familie des alten Ahmadu und der alten Dsete lebte glücklich dahin. Ihre beiden älteren Söhne, Tike und Kokobe, hüteten die Hammel, die Ziegen und die Rinder, die ebenfalls zur Familie gehörten. Ab und zu stiegen sie auf eine Palme – an fast allen Palmbäumen hingen zu diesem Zweck Leitern – und tranken Palmensaft im Wipfel des Baumes, nachdem sie den Stamm mit einem Messer angebohrt hatten. Oder sie tranken aus Flaschenkürbissen frische Milch, gingen auf die Jagd oder durchstreiften die Gegend, um das Land kennenzulernen; denn die dortigen Neger sind ebenso neugierig wie lustig. Die Söhne Ahmadus nahmen zusammen mit ihrer Schwester an den Tam-Tams teil, bei denen gesungen und unter Händeklatschen um ein Freudenfeuer getanzt wurde. Am Abend verrichteten sie alle als gute Muselmanen ihre Waschungen und Gebete.

In dem Hause wohnten auch zwei kleine Neger, die noch sehr jung waren aber bald Schäfer zu werden hofften. Das ist eine große Ehre; sie freuten sich über die Feuer und den Lärm der Tam-Tams und ärgerten mit ihren Spielen auf der Buschlichtung die Herden der Paviane; das sind halb Affen und halb Hunde, also fast Menschen. Die Familie erfreute sich bei allen geraden, anständigen Mitbürgern eines großen Ansehens. Nie fand das Oberhaupt des Dorfes, das manchmal mit dem Zeichen seiner Würde, einer Lanze, inspizieren kam, etwas bei ihr zu tadeln.

Eines Tages begann Frankreich dieses Dorf zu kolonisieren. Schon lange hatte sich Frankreich mit Hilfe seiner Soldaten und Beamten das Recht erzwungen, sich auf dem Sudan einzunisten. Nun verlegte es seine Tätigkeit direkt auf dieses Dorf.

Zweifellos werdet ihr einwenden – und darin bin ich ganz eurer Meinung –, daß ein Volk, das klüger und kultivierter als ein anderes ist, sein Wissen und seine Kultur dem anderen mitteilen soll, mit dem Ziel, dessen Zustände zu bessern, den Geist zu erweitern, zu bereichern und den Wohlstand zu heben. Aber Kolonisation ist etwas ganz anderes, als die Tischreden und die markigen Sätze auf Wahlplakaten behaupten. Und nicht früher wird eine solche solidarische Durchdringung möglich sein, ehe nicht das ausgebeutete Proletariat in der Lage sein wird, selbst die Kolonisation durchzuführen. Bis dahin ist jede Kolonisierung den Interessen der Eingeborenen entgegengesetzt und besteht gerade darin, sie systematisch auszurotten. Den Beweis liefern die Länder, von denen ich sprechen will: die schwarze Bevölkerung nimmt unheimlich ab und dürfte bald der Geschichte angehören. Sie werden durch die »Rationalisierung« ihres Landes wie durch eine Krankheit dahingerafft; von den »Kolonisatoren« werden sie nur als Lasttiere angesehen.

Einen Fußsteig entlang schritten Schwarze, die große Pakete und in Sänften Weiße trugen.

Diese Weißen ließen sich große Häuser bauen. Kokobe, der zweite Sohn Ahmadus, nahm bei einem eine Stellung als Diener an. Es ging ihm nicht gut. Er wurde schlecht behandelt und überlastet. Er wollte den Dienst aufgeben. Sein Herr und das Dorfoberhaupt erlaubten es nicht. Da floh er. Er wurde im Busch verfolgt, und eine Kugel zerschmetterte seinen Arm. (Nichtsdestoweniger wurde aus Achtung vor der Freiheit des Volkes behauptet, es sei ein Zufall gewesen.) Die Verwundung stellte sich als sehr schwer heraus. Ein Arzt war nicht zur Stelle: alle Reisenden werden bestätigen, daß der Sanitätsdienst im Sudan schlecht organisiert ist. Wohl oder übel mußte Kokobe ins nächste Hospital transportiert werden, das sieben Tagemärsche entfernt lag. Die erste Zeit kamen einige Nachrichten, dann hörten sie im Dorfe nichts mehr von ihm.

Auch von der jungen Bala kamen keine Nachrichten. Ihre schöne, feine Gestalt, wie aus biegsamer Bronze, hatte die Aufmerksamkeit eines Kolonialunteroffiziers erregt, der über Dialaku wie ein Fürst herrschte. Die kleine Bambara verschwand wie ein Schatten; sie wurde verschleppt, wohin, erfuhr niemand.

Durch die Erdarbeiten wurden Moskitos (mit einem langen wissenschaftlichen Namen) aufgescheucht, die eine Krankheit verbreiteten. Die Weißen, die davon befallen wurden, schaffte man weg. Die meisten der schwarzen Kranken aber starben, weil es keinen Arzt gab. Eine Sanitätskolonne sollte eintreffen, aber sie kam nicht; es eilte ja nicht. Unter den Opfern befand sich eines der Kinder Ahmadus.

Eine neue gewichtige Persönlichkeit erschien in dem Dorf: der Rekrutierungsagent. Es war ein Neger aus der Stadt, der viel und laut sprach und schön geputzt umherlief: er trug seidene Sandalen, eine rote Samtmütze und einen Sonnenschirm. Es war schwierig, seiner Beredsamkeit zu widerstehen. Denn der Beamte benahm sich hier draußen ganz als Neger. Er überredete Tike, den ältesten Sohn Ahmadus, sich für den Krieg auf den französischen Schlachtfeldern anwerben zu lassen. Frankreich war so gut, ihn als Soldat in seine Armee aufzunehmen. Es stattete ihn mit einer prächtigen Uniform und einem Gewehr aus. Frankreich erwartete, daß sich Tike auch ihm gegenüber erkenntlich zeigen und, wenn sich eine Gelegenheit böte, für seinen Ruhm sterben würde.

Der alte Ahmadu und die alte Dsete blieben allein mit ihrem letzten Kind zurück. Sie sahen einander an und waren traurig.

Da die anderen Familien des Dorfes dasselbe Schicksal teilten, machte sich eine gewisse Erbitterung gegen die weißen Herren bemerkbar. Aber was konnten die paar Neger, die noch dazu von Natur aus sehr sanft sind, gegen die vordringende Welle der europäischen Zivilisation machen?

Jahre vergingen. Dialaku war im Begriff, ein Mittelpunkt der Ausbeutung zu werden. Eine große Fabrik und eine Handelsniederlassung entstanden, um welche die Dorfbewohner – es waren weniger geworden – mit leerem Magen und abgezehrtem Gesicht wie Verbrecher schlichen. Nicht immer waren Ärzte da; die Weißen hatten ja Autos. Aber eine Radiostation war vorhanden, welche die Neger trotz ihres Unglücks fesselte. Welch schöne Musik und wie viele Reden aus dem Trichter heraussprangen!

Eines Tages wurde das letzte Kind Ahmadus und Dsetes schwer krank. Es bekam dieselbe Krankheit, an der sein Bruder gestorben war. Die beiden Alten weinten verzweifelt: sicher mußte er ins Spital geschafft werden. Dazu brauchten sie Geld. Aber in dieser Hütte, aus der ein Kind nach dem anderen wegflog, war kein Geld zu finden. Denn: je mehr Schäfer, um so mehr Tiere. Wenn das letzte Kind sterben würde, konnten sie überhaupt keine Tiere mehr halten. Es war das einzige Band, das sie noch an Glück und Leben fesselte.

Eines Abends dachten sie wieder an ihr Schicksal und saßen stumm beisammen. Plötzlich stand ein großer, fremder Neger in der Tür ihrer Hütte.

Es war ihr Sohn Tike. Aber sie erkannten ihn nicht.

Der Tirailleur Tike hatte sich in den fünf Jahren sehr verändert.

Er war nicht getötet worden, wie die meisten seiner Kameraden: wie Bassuru, Diara, Kalidu, Diallo und die vielen anderen. (Nie werden ihre Namen irgendwo aufgezeichnet werden!) Er war nicht getötet worden, denn er war da.

Aber er war entstellt. Ein Feuerstrahl aus einer Haubitze hatte sein Gesicht verbrannt und Kinn- und Backenknochen bloßgelegt. Wegen dieser Verstümmelung wurde er nirgends wiedererkannt.

Auch sonst hatte er sich verändert. Er, der verwitterte Bambaraschäfer, hatte sich fünf Jahre lang mit Franzosen aus Frankreich geschlagen, und wenn er in der Zeit einige Illusionen verloren hatte, seine geistige Regsamkeit hatte zugenommen.

Darum kam ihm der Gedanke, seinen Eltern nicht gleich zu sagen: »Ich bin Tike,« sondern sich die freudige Überraschung noch aufzusparen. Freudige Überraschung? War er nicht verunstaltet? Nun ja, aber dieses Übel wurde durch etwas anderes reichlich aufgewogen: er war reich geworden. Er brachte ein Vermögen mit: dreihundert Franken, in Scheinen der französischen Bank. Er hatte für einige wertvolle Gegenstände, die er in französischen Dörfern gefunden hatte, einen guten Preis erzielt (darin war er ganz Europäer geworden).

Das Herz hatte ihm wild geklopft, als er von den Schlachtfeldern bei Artois und der Champagne zurückkehrte und am Dorfeingang zum erstenmal wieder die heulenden Laute der Paviane hörte, als er die Palmen wieder rauschen und ihre Blätter mit metallischem Klang aneinanderschlagen hörte. Als er die Hütten mit ihrem grünen Dache wiedersah. Aber von seinem geistreichen Einfall, sich nicht gleich zu erkennen zu geben, ließ er nicht ab und spielte seine Rolle mit einem schalkhaften Blinzeln in seinem einzigen Auge.

Der alte Amadu und sein Weib empfingen den Gast, wie es Brauch ist, aber müde und schweigend erfüllten sie mechanisch die Riten der Gastfreundschaft.

Vergebens versuchte er sie zum Sprechen zu bringen. Um ihr Interesse zu wecken und, weil er dem Wunsche nicht widerstehen konnte, sich als Millionär zu erweisen, ließ er seine Banknoten einen Augenblick lang sehen, die im Brotbeutel mit einem Taschentuch umwickelt lagen.

Da erwachten die beiden Alten aus ihrer Erstarrung. Beide dachten gleichzeitig: wenn wir doch nur etwas von dem vielen Geld hätten, könnte unser Kleiner geheilt werden, der uns nebenan stirbt. Da Tike die ganze letzte Nacht und den Tag marschiert war, schlief er bald auf seinem Lager ein. Den Brotbeutel hatte er neben sich.

Fast gleichzeitig dachten die beiden Alten: wir könnten ihm das Geld fortnehmen, wenn er schläft.

Ganz leise und behutsam nahm es die Mutter weg, während der Alte ihr zusah.

Plötzlich sagte die Frau draußen:

»Wenn er jetzt wach wird, wird er sein Geld wiederhaben wollen. Dann stirbt unser Kind.«

In den beiden lebte nur der eine Gedanke, und sie schauderten, als sie daran dachten, daß die Möglichkeit, ihr Kind zu heilen, ihnen wieder genommen werden könnte. Der Alte häufte trockene Zweige vor die Tür der Hütte, in der ihr Gast schlief, und die aus trockenen Ästen bestand. Er steckte ein Feuer an und floh mit seinem Weibe.

Als der Morgen sacht dämmerte, kehrten sie zurück.

Sie fanden einen verkohlten Holzhaufen, der noch ein wenig schwelte, und in seinem Innern einen verbrannten schwarzen Körper.

Etwas an diesem Körper erregte ihre Aufmerksamkeit. Dort … auf der Brust des Mannes hing an einem Kettchen Tikes Amulett!

Ihr Sohn Tike! Die beiden Alten fielen zur Erde, stöhnten auf in ihrer Seelennot.

Mit einem Male erinnerten sie sich wieder gleichzeitig, daß der Fremde wirklich Tikes Stimme gehabt hatte. Sie blieben auf der Erde liegen.

Da hörten sie in den Lüften eine gewaltige Stimme, die wie Donner klang. Es war der Radioapparat. Die Stimme, die in Sekunden die Erde durcheilt, sagte den beiden beklagenswerten Menschen, die vor ihrem verbrannten Hause die Leiche ihres Sohnes beweinten:

»... Überall bringt Frankreich den Völkern nicht nur die Segnungen der Zivilisation, sondern auch seine Liebe und brüderliche Hilfe!«

Es war ein Bruchstück aus einer Rede des französischen Kolonialministers.


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