Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Butoire

Butoire schlief auf dem Grund des schmalen Vorpostengrabens – zehn Schritte war er lang und nur einen Schritt breit. Der Soldat lag zusammengerollt wie ein Murmeltier in seiner Höhle auf dem nassen Boden. Hier mochte früher ein Brunnen gewesen sein oder ein Wasserbehälter. Von Zeit zu Zeit stand Butoire auf, schüttelte mit einigen hastigen Bewegungen die nasse Erde von sich, die von den Seitenwänden abgebröckelt und auf ihn gefallen war. Dann verkroch er sich wieder ins Dunkle, und sein Gesicht rötete sich im Halbschlummer. Die andern Soldaten neben ihm unterhielten sich. Über ihren Köpfen kreuzten sich deutsche und französische Granaten; die einen kamen aus der Gegend südlich der Kathedrale von Soissons, die andern aus den Steinbrüchen von Pasly. Zwei Orkane waren es, die im Räume unaufhörlich und ohne Ende gegeneinander tobten. Der Tod hielt reiche Ernte.

Unterdessen schilderte Postaire seine Streitigkeiten mit einem geizigen Wirt:

»Er gießt mir einen kleinen Schnaps in den Kaffee. Na, ich denke, da hab' ich auch das Recht, die Flasche zu sehen? …«

Panneau begann wieder seine lange Geschichte zu erzählen: »Dann, alter Freund, wurde gegessen: jeder hatte neben seinem Teller Messer und Gabel liegen, und, denk' dir, zwei Flaschen Wein kamen auf jeden Mann. Essen konntest du …« Während er noch erzählte, fing auch Amochet an: »Ich saß gerade bei einem Glas Wein. Er zog mir die Kehle zusammen. Aber, niemand gibt mir etwas, nur ich. Ich muß allein für mich sorgen.« Plumety zeigte seinen Kameraden Kartenkunststücke: »Cœur-König! Und Pik-Sieben!« Einige staunten. Dann wandte sich die Unterhaltung wieder ernsteren Dingen zu:

»Was wir an dem Tag alles gefressen haben!« berichtete Panneau und setzte hinzu: »Ihr wißt ja, was dazu gehört, mir das Maul zu stopfen! Na, dort genügte es mir!« Postaire war stolz, auch etwas sagen zu können, und wiederholte triumphierend: »Und ich sage ihm, ist das alles, was du mir vorsetzt? Ich hab' doch das Recht, auch die Flasche zu sehen?« Butoire hörte erst nur mit halbem Ohr hin. Doch das Gespräch interessierte ihn, und er wandte den Sprechern sein Gesicht zu, aus dem die Sonnenglut, der Dreck und die Ungewaschenheit eine Karrikatur gemacht hatten. Er mischte sich in die Unterhaltung. Er war ein guter Soldat und ein guter Mensch, aber hatte eine Schwäche für Essen und besonders für Trinken. Alle Stunden, bei Tag und bei Nacht, trank er aus seiner Feldflasche, manchmal sogar noch öfter. Natürlich sagte er sich, daß er unklug handele; aber er sagte es sich erst, wenn seine Feldflasche und infolgedessen, nach den Gesetzen der Logik, auch seine Börse leer war. Wenn er getrunken hatte, tat es ihm immer leid. Er schüttelte den Kopf, runzelte die Augenbrauen und murmelte: »Das war nicht recht!« Seine Zerknirschung war echt. Selbst, wenn er einen »Affen« hatte, schlief er niemals ein, ohne reumütig an Adele, seine Frau, und an sein fernes Gärtchen zu denken, in dem rings um einen Tisch chinesische Astern blühten.

Unterdessen krochen erst Füße und dann der wachthabende Sergeant Metreure aus dem kleinen niedrigen Unterstand; der Eingang dazu war so eng, daß ein Taschentuch genügt hätte, ihn zu verhängen.

Der Wachthabende schlich zu den Soldaten und fragte:

»Nun, was gibt's, Kinder?« und dann: »Wer kommt heut nacht mit auf Patrouille?«

»Zu Befehl, Herr Sergeant!« meldete sich Butoire.

Auch andere meldeten sich: »Zu Befehl, ich gehe mit.«

Als der Abend sich herabsenkte, saß Butoire in seinem Grabenloch und begann, sich gemütlich vorzubereiten. Er untersuchte sein Gewehr und seine Schuhriemen. Der Himmel war leicht getrübt, und die Sterne leuchteten nur verschwommen. Sie wurden von dem glühenden Gewirr der Granaten überstrahlt.

Jetzt schlichen ein paar Schatten auf den kleinen Posten zu. Sie hielten sich platt an der verwüsteten Erde und schleppten eine Last mit sich. Bald verbreitete sich der Geruch von warmer Suppe.

Die schwache Vorpostenstellung war sechshundert Meter von unseren Linien bei Saint-Cristophe und nach der anderen Seite hundert Meter von der Aisne entfernt, deren gegenüberliegendes Ufer damals in deutscher Hand war. Kein Laufgraben, kein unterirdischer Gang führte zu der Stellung. Ringsum lag ebenes Gelände, in das sie wie eine Insel ins Meer eingebettet war. Man konnte unseren Graben nur im Schutze des Abends oder der Nacht erreichen. Über die ganze Gegend herrschte der Tod, der Tag für Tag auf die Erde einschlug und sie zerfetzte. Wie Schemen krochen ein paar lebendige Menschen umher.

Die Abteilung brachte Linsensuppe und auch Wein. Butoire kaufte sich Wein, weil er die Linsensuppe nicht mochte, füllte seine Feldflasche und legte sie neben sich. Sie war verkorkt und schien mit ihm zu liebäugeln. Butoire gab nach. Zuerst trank er nur ganz wenig, eigentlich gar nichts; er berührte sie nur mit dem Mund.

Es war eine schöne Feldflasche. Sie faßte zwei Liter; in jener Zeit waren so große Feldflaschen an der Front selten. Sie hatte früher einem Marokkaner gehört. Ein geschickter Kolbenschlag hatte ihr Fassungsvermögen auf zweieinhalb Liter erhöht. Die Kameraden wußten es, nicht aber die Kaufleute, so daß Butoire, wenn es in der Etappe Wein vom Faß gab, immer noch etwas betrunkener war als die anderen.

Sergeant Metreure sah sich im Halbdunkel die vier Leute an, mit denen er auf Patrouille gehen wollte. Butoire lehnte am Rand, hielt sich krampfhaft aufrecht und bemühte sich um gute Haltung. Der kleine Trupp kletterte aus dem Loch und zog geduckt und mit gebeugten Knien los. Butoire war der letzte. Er fühlte sich unsicher und patschte im Dunkeln durch den Schmutz, als ob es Wasser wäre. Mit zähem Willen hielt er sich aufrecht. Er durfte die Verbindung mit der Patrouille nicht verlieren.

Er gab sich Mühe, leise über die nassen Stollen zu gehen. In der rechten Hand trug er das Gewehr – er hielt den gefährlichen Gegenstand vom Körper weg – und die linke lag am Seitengewehr, damit es nicht klirrte. Er bemühte sich krampfhaft, den Rücken seines Vordermannes im Auge zu behalten. Er sah den vor ihm Schleichenden nur undeutlich und verwischt. Die Figur schien ihm sonderbar und manchmal sogar doppelt oder dreifach vor ihm herzugehen.

Die Trunkenheit, gefördert durch die frische Nachtluft, umnebelte seine Sinne. Er kam sich vor wie auf hoher See. Die Füße wurden ihm schwer und zogen ihn zur Erde. Er war noch keine zehn Minuten gegangen, als er an das Flußufer kam, das er kannte. Da merkte er, daß er die anderen verloren hatte, und fühlte voller Angst, wie er im Gehen einschlief.

Pflichtgefühl und Furcht vor einer verdienten Strafe trieben ihn vorwärts. Er riß sich zusammen und machte noch ein paar Schritte, ohne vorwärtszukommen. In seiner Angst wollte er die Kameraden rufen, aber – wahrhaftig! – der Ruf blieb ihm in der Kehle stecken: wie konnte er hier laut sprechen oder rufen, wo nur Dunkelheit und Stille vor dem Tode retteten!

Er schwieg und blieb stehen. Er konnte sich nicht länger wachhalten. Er sank auf dem Kamm der Uferböschung nieder und wartete. Er sprach sanft mit seinem Gewehr und dachte an Adele, seine Frau, wie immer, wenn es ihm schlecht ging. Er sah die Straße seines Heimatdorfes zur Sommerszeit: die Sonne schien auf warme Obstbäume. Und dann sah er sie zur Winterszeit: den kahlen Gutshof, den vereisten Teich; die Männer und Frauen, die aus dem Wald mit Reisigbündeln kamen, schienen in Zeitungspapier gekleidet.

Schließlich trübten sich seine Gedanken, durch seinen Kopf liefen noch schwache Spuren des Willens; aber bald fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein. Als er aus einem wüsten Traum wieder erwachte, brannte sein Gesicht, in seinem Schädel hämmerte wilder Schmerz, und brennender Durst peinigte ihn; er wußte nicht mehr, wo er war, und kaum noch, wer er war.

Da ließ ihn ein Geräusch aufhorchen, das durch die schreckliche Nacht an sein Ohr drang. Sein Instinkt, in mancher Nachtwache geschärft, arbeitete trotz des wirren Durcheinanders seiner Gedanken. Er war vielleicht – so sehr war er gewöhnt, stets zu horchen – durch das Geräusch aufgeweckt worden. Er fühlte, daß etwas Gefährliches geschah.

Angeekelt und ächzend kroch er mit eckigen, unsicheren Bewegungen vorwärts. Er glaubte, die Augen müßten ihm aus dem Kopf treten. Als er die Höhe erreicht hatte, welche die Aisne beherrschte, drang ein fremder Gesang über den Fluß.

Der Abhang fiel an dieser Stelle steil ab und war in der Dunkelheit nicht bis unten zu überblicken. Nur unbestimmt war der Wasserspiegel zu unterscheiden; am anderen Ufer sah man das helle, gekrümmte Band eines Kreideweges.

Diesen Weg entlang bewegten sich Schatten durch die Nacht – es mußte eine deutsche Patrouille sein.

Die Patrouille schlich über die Wölbung eines großen schwarzen Gebildes, das die tintigen Wasser des Flusses überspannte. Es war die Brücke von Pasly. Butoire erkannte sie trotz der dunklen Nacht so deutlich, daß er ihren Namen nur schaudernd aussprach. Ein Frösteln überfiel ihn.

Aber plötzlich richtete sich seine gespannte Aufmerksamkeit auf das Geräusch, das er schon vorhin gehört hatte und das inzwischen herangekommen war. Seine Blicke tasteten durch die Dunkelheit … Da sah er, kaum zwanzig Schritte unter sich, einen Deutschen, der langsam auf den Knien den Abhang erkletterte.

Der feindliche Soldat hielt sich rechts im unruhigen Schatten der Uferböschung vor den starren Augen Butoires; Der hatte inzwischen das Gewehr angelegt, zielte nur flüchtig auf den näherkommenden Körper und schoß. Der Deutsche, der auf allen Vieren vorwärtsgekrochen war, sank zusammen und blieb liegen.

Der Knall schlug mit langem Echo durch die Nacht. Nun fühlte sich Butoire beruhigt und spürte auch, wie der Weinrausch aus seinem Körper wich. Eine Weile lauschte er mit angehaltenem Atem. Ein paar Kanonenschüsse donnerten – jeder Schuß schien einen zweiten auszulösen –, und aus den Rohren blitzte bei jedem Schuß ein roter Strahl. Sonst war alles ruhig.

Eine gute Viertelstunde mochte vergangen sein, bis Butoire nach der großen Erregung wieder Herr seiner fünf Sinne geworden war. Der Mond schien durch schwarze und graue Wolkenfetzen und warf ein unbestimmtes Licht über die Landschaft. Harte trockene Kälte umklammerte Butoire und machte ihn immer munterer. Er fühlte sich nur noch etwas erstarrt.

Er entsann sich seiner Pflicht, sich um die Beute zu kümmern und sie zu durchsuchen. Dann wollte er zur Stellung zurückkehren. Das war ein Kinderspiel. Butoire freute sich, daß man ihm nunmehr keinen Vorwurf machen würde, die Patrouille verlassen zu haben.

Mit aller erdenklichen Vorsicht schlich er auf Händen und Knien vorwärts, schob das Gewehr immer vor sich her, überkroch ganz flach an der Erde die Böschung und stieg auf der anderen Seite wieder hinunter. Er gelangte schließlich zu dem Deutschen. Der Mann war wohl tot. Seine Hirnschale sah aus wie ein rotes zerschlagenes Ei. Butoire untersuchte vorschriftsmäßig die Kleider und Waffen. Plötzlich sprang er auf und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Dann lief er wie närrisch im Kreise und schwenkte einen Helm in der Hand, Ohne der Gefahr zu achten, ohne sich um die Umgebung zu kümmern, brüllte er laut auf. Sein Opfer war ein französischer Soldat!

Butoire hielt im Laufen inne und sank in Schrecken und Angst neben der Leiche zu Boden.

Er stützte den Kopf in die Hände und schluchzte. Immer wiederholte er dieselben Worte: »Ich habe ihn getötet, weil ich besoffen war. Wär' ich nicht besoffen gewesen, hätte ich ihn nicht getötet!«

Beim Blute des Heilands, wer hatte ihm nur gesagt, daß es ein Deutscher sei? Keiner. Er hatte es, ohne nachzudenken, angenommen, weil der Kletterer von dem anderen Ufer der Aisne gekommen war. Butoire hatte angelegt, obwohl es kaum möglich gewesen war, in dem huschenden Schatten einen Menschen zu erkennen: er war eben besoffen gewesen.

Er blieb auf der Erde sitzen. Seine schlotternde Angst wuchs von Minute zu Minute. Er wehrte sich dagegen, flehte die Unendlichkeit an.

Es wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er kam auf den Gedanken, rasch zur Stellung zurückzukehren und sich anzuzeigen. Er stand auf und machte drei Schritte. Auf seinen Lippen formte sich schon der Satz, den er sprechen wollte:

»Herr Sergeant, ich bin ein Schuft!«

Aber unwiderstehlich kehrte er zu der Leiche zurück, brach neben ihr zusammen, betastete sie, hob sie auf und umarmte sie. Halb närrisch suchte er sie in seinen Armen zu erwärmen, suchte sie aufzurichten. Aber sie war schon starr wie ein Stück Holz.

Einmal seufzte Butoire sehr laut: er hatte an Adele gedacht, die er niemals wiedersehen würde. Er nahm ihr Bild aus der Tasche, zerriß es und warf es weit weg; er wollte einen dicken Strich zwischen der armen Frau und dem Monstrum ziehen, das er war. Und wild verfluchte er den Schuldigen: Gédéon, den Kantinenwirt, der ihm Wein verkauft hatte, und ohne den er sich nicht besoffen hätte. Allmählich wurde aus seinem Fluchen ein leises Weinen.

Dann blitzte ein Gedanke in ihm auf und er wurde von einem richtigen Wutanfall gepackt. Er riß seine Feldflasche vom Gürtel, zerschlug sie mit dem Kolben, trampelte darauf herum; aus der noch halb vollen Flasche blutete eine rote Pfütze.

Von neuem lief er auf und ab und in der Runde. Nie ließ ihn der schreckliche Gedanke los: er war verdammt, für ewig, und niemand konnte ihn retten. Der blauschwarze Himmel wurde allmählich hellblau und die Landschaft weißlich. Der blasse Himmel ließ die Erkennungsmarke auf seinem Ärmel schrecklich glänzen, die vor seinen Augen hin und her baumelte. Auf ihr war geschrieben: »Butoire, Adolphe, 1912.« Und mit Schaudern dachte er daran, daß es der Name eines Banditen geworden war. Noch einmal sah er sein verwaistes Haus vor sich.

Es wurde immer heller. Lange Baumstämme lagen um den verfluchten Ort. Als es vollends Tag geworden war, saß er aufrecht und unbeweglich auf der Höhe der Böschung.

Bald klatschte eine Kugel gegen seinen Mantel.

Er stöhnte erleichtert auf, fiel auf die Knie und sank zurück.

Als er erwachte, lag er, ganz in Weiß eingehüllt, in einem kleinen hellen Schulsaal, der zu einem Hospital umgewandelt worden war.

Ein Kranker, der schon besser auf dem Posten war als die anderen, schlurfte in alten Schuhen umher, hantierte im Saale und trug das Geschirr in die Küche. Als er sah, daß Butoire die Augen aufschlug, trat er zu ihm und sprach ihn an:

»Na, da guckst du ja wieder. Es geht dir wohl besser. Weißt du denn schon, daß sie dir die Militärmedaille unten an den Strohsack geheftet haben. Große Eile haben sie damit gehabt, gleich am selben Morgen. Sie hatten Angst, daß du draufgehst, gelt, Alter. Der Boche in französischer Uniform hatte Papiere von großer Wichtigkeit mit. Aber ich muß jetzt gehen, das Zeug in die Küche tragen. Weißt du, ich helfe hier ein bißchen. Ich könnte eigentlich mehr machen. Aber es ist halt so im Leben: je mehr du machst, um so weniger giltst du.«

»Ja,« murmelte Butoire.

Er schlief wieder ein; denn er war nicht imstande, alles zu verstehen. So viel auf einmal konnte er nicht kapieren und in seinem Gehirn verarbeiten.

Nach und nach begriff er alles. Die neue Tatsache veränderte ihm das Bild der Welt, und er drückte das Ereignis in dem einen Wort aus: »Ich war ein Schuft und bin jetzt ein Held!« Ein Held! Er strahlte. Mit Wonne erwachte er wieder zum Leben. Er fand an allem Freude und Geschmack. Seine ganze Umgebung schien in sonntäglichem Putz zu leuchten.

Er stellte fest, daß es überflüssig sei, seine Weingeschichte zu erzählen. Nicht einmal der Krankenschwester, die gut wie eine wirkliche Schwester zu ihm war. Denn schließlich war er gerade in seiner Trunkenheit ein Held geworden; man hat doch seinen bescheidenen Stolz.

Butoire war im Grunde seines Herzens ein guter, aufrichtiger Mensch, und zum Unglück hatte er in der Zeit seiner Genesung, die sich sehr in die Länge zog, reichlich Zeit, nachzudenken. Das wurde ihm verhängnisvoll. Eines Abends ging er langsam durch den Garten ins Hospital zurück. Als er an Adele dachte, fiel ihm der junge Bursche ein, dem er den Kopf zerschmettert hatte, und der dort an den Bäumen im Granatfeuer lag; der Tag und Nacht weiterfaulte, während er es sich in seinem Ruhme gut gehen ließ. Er sagte sich: ebensogut hätte es auch ein Franzose sein können.

Ehrliche Leute werden leicht die Beute eines Phantoms, das größer ist als sie selbst und das ihnen viel zu schaffen macht. Der arme Butoire hatte genug damit zu tun. Seine Gedanken kamen von den Begriffen »deutsch«, »französisch« und »Heldentum« nicht los. Immer wieder fragte er sich: Hatte diese Leiche nicht ein Herz wie er gehabt und ein Gehirn? Das hatte er mit eigenen Augen gesehen und in seinen Händen gefühlt.

Obwohl er körperlich wieder ganz gesund war, machte er die Bemerkung:

»Ich bin gar kein Held, ich bin ein gemeiner Schuft.«

Zwar erzählte er diese Tatsache niemandem, aber als Buße gab er sich das Versprechen, in Zukunft nicht mehr zu trinken. Denn die Trunkenheit hatte ihm zu seinem »Heldentum« verholfen.

Als er völlig ausgeheilt und mit frischer Gesichtsfarbe in seine südliche Heimat kam, luden ihn die Kameraden zum Wein ein. Er lehnte ab:

»Nein, danke, Jungens. Ich werde nie wieder Durst haben.«

Die Freunde wunderten sich über seine sonderbare Rede und forderten ihn noch einmal auf:

»Na, aber einen kleinen Schluck doch, nicht wahr?«

Butoire wurde zornig.

»Nein, niemals. Wofür haltet ihr mich denn?«

Und alles Zureden half nichts. Anfangs wurde er rot, bald aber trank er zu den Mahlzeiten ruhig Wasser. In der ersten Zeit kam es ihn schwer an. Wenn er sagte, er würde nie mehr Durst haben, log er mit einer schmerzlichen Freude, aber er log.

Als er wieder Zivil trug, trieb er die Dinge noch weiter.

Er steckte seine Militärmedaille in die Tasche, und als ihn jemand nach seiner Heldentat fragte, antwortete er mutig:

»Das war ein Mensch wie ich.«

»Ein Mensch? Du bist kein guter Franzose. Leute, habt ihr gehört, was er gesagt hat?«

Und Butoire hörte vor sich und den anderen auf, ein Held zu sein.


 << zurück weiter >>