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Die Rote Jungfrau

Es war einmal eine Dorfschullehrerin, die ein ganzes Rudel Kinder zu unterrichten hatte.

Sie war dünn wie ein Faden und hatte pechschwarze Haare und ebensolche Augen.

Ihren Augen hatten einst die Lichter des Paradieses und der Engel geleuchtet, vielleicht hatte sie sogar Stimmen gehört.

Von ihrer Schule aus konnte man den Kirchturm von Audeloncourt im Lothringischen sehen, der nicht sehr weit vom Kirchturm von Domremy entfernt ist. In seinem Schatten hatte eine Hirtin gelebt, die dieser Hirtin von Kindern ähnlich war. Aber Jeanne d'Arc hatte vor fünfhundert Jahren, zur Zeit Karls VII., gelebt, während unsere Louise unter Napoleon III. lebte.

Der anständigen Gesinnung der Leute, die sie erzogen hatten und auch ihrem Charakter verdankte sie es, daß sie sich vom Aberglauben frei machte. Sie verjagte die Gespenster, an die sie geglaubt hatte und glaubte nur noch an die schrecklichen, rätselhaften Dinge der Wirklichkeit. Ihre Gedanken, ihr Gefühl und ihre schönen klaren Augen suchten das menschliche Elend zu ergründen und kümmerten sich nicht mehr um die Märchen, mit denen die alte Religion die Menschenkinder blendet und entzückt. Ihre Religion änderte den Standpunkt und ihr heiliger Glaube klammerte sich an das Leben. Sie bekundete ihre Liebe zu den Unterdrückten im Haß gegen den Herrscher, dem Frankreich damals ausgeliefert war.

Jeden Morgen und jeden Abend ließ sie die Schulkinder die Marseillaise singen.

Die Inspektoren und Präfekten machten wütende Gesichter, ließen Louise kommen und drohten ihr. Aber sie hatte aus den Legenden ihrer Kindheit gelernt, die Teufel nicht zu fürchten, selbst wenn sie sich leibhaftig offenbaren.

Und sie fuhr fort, die künftigen Menschen ehrlich zu erziehen.

Sie hatte Lust, nach Paris zu gehen, um dasselbe im Großen fortzusetzen.

Sie ging nach Paris, da sie zu den Menschen gehörte, die ihre Träume zur Wahrheit werden lassen, wenn es möglich ist und sogar oft, wenn es eigentlich unmöglich scheint.

Sie kam in die »Stadt des Lichtes« zu der Zeit, als sich die Großindustrie und das Großkapital entwickelten und ein fieberhafter Kampf um das Geld einsetzte. Paris lebte in einem zügellosen Taumel von Ausschweifungen und Genuß. Verderbtheit und schlechter Geschmack herrschten allenthalben. Das Riesenherz der Stadt war die Börse, ihre Herrscher waren neben den Kapitalisten die Kurtisanen, die Höflinge und amüsante schmeichlerische Künstler.

Unter dieser großen Welt lebte eine andere, bessere. In ihr arbeiteten bedeutende Künstler und Gelehrte. Ganz unten lebten in Hoffnung und Verschwörung die Besten des Landes: die Republikaner. Im Herzen trugen sie den Haß gegen das Kaiserreich und den Kaiser. Ein vielfältiges Gemisch von Politikern, Idealisten und sogar Bürgern hatte sich da zusammengefunden und sie alle einte das Band des Hasses gegen das Ungeheuer, den Kaiser.

In diesem Kreis, der sich in der Hauptstadt des Landes zusammendrängte, entwickelte und nährte die Rationalistin mit dem weichen Herzen, festigte Louise ihren Instinkt für Kampf und Aufruhr. Die Gemeinschaft war nur klein, aber entschlossen; sie lebte im Verborgenen, vergleichbar einer frühchristlichen Gemeinde, die in den Katakomben zusammenkam, um der römischen Unterdrückung zu entgehen. Denn damals war auch das Christentum noch Sache des Volkes.

Später erzählte Louise über diesen Lebensabschnitt:

»Wir lebten für die Zukunft, fast ausschließlich für die Zukunft.«

Sie führte das harte, entbehrungsreiche Dasein einer armen Lehrerin, kaufte im Judenviertel oder in kleinen Trödlerläden alte Kleider und Schuhe. Sie machte Schulden, um sich Bücher kaufen zu können; und sie brauchte viel Geld, weil sie sich um alles Elend, alles Leid kümmerte. Sie hatte sich ganz der Revolution gewidmet und wußte den Menschen nichts anderes zu geben als das, was sie in ihren Händen, ihrem Kopf und ihrem Herzen trug. Niemand wußte, ob sie außer der Liebe zu ihrer Mutter überhaupt persönliche Gefühle hatte, ob sich nie das Weib in ihr regte; mancherlei Geschichten wurden darüber erzählt, aber sicher wollte sie es selbst nicht wissen.

Der Deutsch-Französische Krieg begann; es folgte die Niederlage und der Sturz des Kaiserreiches. Das unterdrückte Volk stand auf: es schuf die Kommune. Jetzt trat der Verrat der bürgerlichen Republikaner klar zutage, denen die Demokratie lediglich den Kampf gegen den ungeratenen Nachkommen Napoleons I. bedeutet hatte. Jetzt wurde klar, daß die »Einheitsfront« gegen den einen Herren nur Enttäuschung und Verrat bringen konnte. Man stand mit einemmal einer Bourgeoisie gegenüber, die von einem mit Angst gepaarten Haß gegen das Volk erfüllt war und sich von ihm zu lösen trachtete. Denn nun hatte sie – die Bourgeoisie – ja die Stelle des Kaisers eingenommen.

Die junge Lehrerin mit den schwarzen Augen, im schwarzen Kleid, widmete sich mit ganzer Seele der Kommune. Sie hielt Reden, sie organisierte. Sie nahm selbst ein Gewehr, zog Männerkleidung an und ging mitten im ärgsten Kugelregen auf die Wälle und zu den Vorposten. Seitdem sie die Verlogenheit der liberalen Bourgeoisie erkannt und die heuchlerische Geste Jules Favres, des großen Republikaners, durchschaut hatte – dieser Judas hatte sie und Ferré theatralisch vor dem Volk umarmt, damit er sie später um so besser erledigen könne –, lebte sie nur noch der Revolution. Sie war dabei, mehr als dabei, als das Volk geschlagen und niedergemetzelt wurde. Es war ein Wunder, daß sie den Soldaten der »Ordnung« entging, ihren Gewehren, Mitrailleusen, Bajonetten, und den Horden der »Rächer«, die betrunken auf Paris losgelassen wurden, auf allen Straßen krakeelten, prügelten, marterten und mordeten. Manchmal bedrohte sogar das Volk die besiegten Kommunarden; die »Ordnungsstifter« hatten es aufgewiegelt.

Sie hatte Mitleid mit diesen armen Ausgebeuteten, die nicht wissen, was sie tun. Auch für die Vollstrecker der Befehle dieser blutigen Regierung empfand sie nur Mitleid, echtes, starkes Mitleid, das aus dem Verstande geboren war. Als sie die bretonischen Garden mit blassem Gesicht auf die Kommunarden schießen sah, sagte sie: »Sie wissen nicht, warum. Man hat ihnen eingeredet, sie müßten auf das Volk schießen, und sie glauben es; sie sind leichtgläubig. Wenigstens kämpfen sie nicht für Geld. Sie werden sich eines Tages für uns gewinnen lassen, wenn wir Ihnen unsere gerechte Sache erklären. Denn wir brauchen Leute in unseren Reihen, die nicht käuflich sind.«

Sie hätte fliehen können, hatte sich aber den »Versaillern« gestellt, um die Freilassung ihrer Mutter zu erwirken. Und sie lernte, wie so viele ihrer Kameraden, die Hölle von Satory kennen, wo die Kommunarden hingerichtet wurden. Mit anderen zusammen brachte man sie dorthin. Die Zelle, in der sie ihre Hinrichtung erwartete, wimmelte derart von Läusen, daß man sie über den Fußboden krabbeln hörte. Sie litt furchtbar unter Fieber und Durst; zum Trinken hatte sie nur ein Becken blutigen Schmutzwassers, in dem sich ihre uniformierten Henker die Hände wuschen, Durch eine schmale Luke konnte sie in die Ferne sehen. Durch die Nacht und den fallenden Regen sah sie Gestalten, die von Blitzen zerfetzt wurden und zu den anderen hinsanken, die schon auf dem Boden lagen: zu den Leichen.

Vor dem Kriegsgericht von Versailles – es war ein Blutgericht – legte sie es darauf an, zum Tode verurteilt zu werden. Denn sie hatte sich überlegt: Freilich kann ich unserer Sache noch nützen, aber ich nütze ihr am meisten, wenn ich erschossen werde. Die Hinrichtung einer Frau wird die »Versailler« vor der Welt diskreditieren.

Sie hielt keine laute, geräuschvolle Rede. Ruhig und überlegt bekannte sie ihre Schuld und erklärte ihren Richtern: »Das ist alles; und wenn Sie keine Feiglinge sind, müssen Sie mich verurteilen!«

Das große Beispiel der Selbstaufopferung riß neben anderen Victor Hugo zu staunender Bewunderung hin. Diese Menschen, die auf der anderen Seite der Barrikade zu finden waren, verstanden jetzt mit einemmal die heroische, übermenschliche Einfachheit, erkannten in ihr das Mysterium der Revolution. Aber letzten Endes interessierte es sie nicht. Doch wagten die Offiziersrichter nicht, sie zum Tode zu verurteilen. Man verbannte Louise nach Neukaledonien.

Die langen Jahre ihrer Gefangenschaft auf den einsamen Inseln am anderen Ende der Welt bedeuteten einen ganz fremden Lebensabschnitt für sie. Sie lernte die verschiedenen Dialekte der primitiven Kanaken – sie waren noch Menschenfresser – und lehrte diese »Wilden« den Begriff der Sittlichkeit, der Menschenwürde und der Freiheit kennen. Um über die furchtbare Langeweile ihrer Verbannung hinwegzukommen, beschäftigte sie sich in der übrigen Zeit mit den Naturwissenschaften, die sie vor allen liebte; es gelangen ihr sogar bedeutende Entdeckungen.

Später durfte sie nach Frankreich zurückkehren. Es war die Zeit des Erwachens der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Berufsgewerkschaften. Sie reihte sich den Anarchisten ein, doch hielt sie immer an der Forderung einer wirklichen Revolution fest, von der sie sagte: »Ehe nicht die alte Gesellschaft vollkommen zerstört ist, werden wir immer wieder von vorn anfangen müssen.« Nach einer mächtigen erregten Versammlung, in der sie den Arbeitern zugerufen hatte: »Wenn ihr einen Platz an der Sonne haben wollt, dürft ihr ihn nicht erbetteln, sondern müßt ihn erkämpfen!« – wurde sie wieder verhaftet, von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, wurde gemartert und gequält. Aber sie lehnte es ab, um Gnade zu betteln. Erst als ihre Mutter auf dem Sterbebette lag, konnte sie sich dazu entschließen.

Darauf zog sie nach London. Als sie einmal zu den Ausgebeuteten und Unterdrückten sprach, schoß ein Fanatiker auf sie, verwundete sie aber nur leicht. Sie selbst ergriff für ihren ungeschickten Mörder Partei und forderte vor Gericht seinen Freispruch. Sie erklärte, das Gericht dürfe ihn nicht dafür verantwortlich machen, daß er durch üble Propaganda und ein nichtswürdiges Regime eine schlechte Gesinnung angenommen hätte.

Wieder einmal erweckte ihre Handlungsweise Bewunderung und Verblüffung. Sie offenbarte die moralische Kraft, die in den Revolutionären steckt. Aber die meisten Leute fanden es bequemer und klüger, sich nicht darum zu kümmern. Übrigens wurde selten ein Mensch so verkannt wie diese Frau. Sie war zu groß, um in ihrem wahren Sein verstanden zu werden. Alle, die ihr näherstanden, verehrten, vergötterten und begriffen sie; aber diese einfachen Leute verschwanden und nur in der Legende bewahrte sich das Andenken an ihr wahres, großes Leben.

Erst heute beginnt ihr blasser Schatten wieder Gestalt zu werden und läßt erkennen, wie stark in ihr über alle Ereignisse und Niederlagen des Tages hinweg der Glauben an die proletarische Revolution und der eiserne Wille zur Gleichheit lebte. Sie warnte das Volk vor der Demagogie der Bürger und vor den falschen Demokraten und war klug und gütig genug, um stets zu erklären, daß die Ketten durch kein anderes Mittel als das der Gewalt zu zerreißen seien.

Einst wird man ihr Apostelgesicht mit dem Zuge entschlossener Klugheit in weißen Marmor hauen, wird ihr dunkles Kleid, das sie immer trug, aus schwarzem Stein meißeln. Sie war die hoffende Verzweiflung. Nie schmähte sie die Zukunft, glaubte immer an sie; sie sah in der Revolution vom Jahre 1905 – ihrem Todesjahr – die künftige Befreiung des russischen Volkes.

Aber neben der Liebe, die im Herzen der Massen für sie lebendig ist, spricht sie noch eine andere Huldigung heilig. Ich meine den wilden, wütenden Haß, mit dem die ordnungsliebenden Bürger seit Generationen von der Megäre, der Mordbrennerin, dem Ungeheuer mit dem Menschenantlitz, von Louise Michel sprechen.


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