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Und Anderem


Lehrer Zori

Es war heiß. Fliegenschwärme brummten in der glühheißen Luft. Die Fußgänger hielten sich mit Bedacht im Schatten der grauen Häuser des Marktplatzes von Cavada, einer Stadt der Provinz Santander. Der Marktplatz unterschied sich in nichts von dem anderer spanischer und auch baskischer Städte. Als die Einwohner noch in bunten Kostümen gingen, war das Bild freilich malerischer. Doch noch genau so strahlte die brennende Sonne über zerklüftete Felsgrade und düstere Menschen. Das Brummen der Fliegen übertönte ein starkes rhythmisches und eintöniges Murmeln aus den Fenstern eines Hauses. Es war die Schule. Sie sah innen aus wie alle Schulen in der ganzen Welt: kahle, strenge Wände, kleine nebeneinanderstehende Pulte, hinter denen die Schüler saßen. In der Mitte der Lehrer, der in dieser Umgebung wie ein Riese wirkte.

Wie alle seine Kollegen mußte er Wunder an Erfindung und Geduld aufbringen, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu erreichen und ihnen ein gewisses Maß von dem ungeheuren Umfang menschlichen Wissens beizubringen.

Der Lehrer war von Cavada, hieß Baldemero Zori. Er war ein ruhiger, einfacher und gutherziger Mensch, dessen Wissen allgemein gerühmt wurde. In dem engen Kreis des Städtchens war seine Pünktlichkeit sprichwörtlich. Wäre er jemals zu spät gekommen, hätten alle an einen Irrtum der Zeit geglaubt. Mit seinen Ideen freilich waren nicht alle restlos einverstanden, insbesondere die nicht, die jeden Fortschrittsgedanken bekämpfen. Die nannten ihn einen »Roten«.

Doch auch sie mußten innerlich mit ihrem armseligen Sklavenhirn zugeben, daß jemand ein »Roter« und doch ein ehrenhafter Mensch sein könne. Sie konnten nicht anders, als für Zori Hochachtung zu empfinden. Aber die beiden gewichtigsten Persönlichkeiten von Cavada, die beiden Schwarzröcke, der Pfarrer und sein Vikar, dachten anders. Der Lehrer war ihnen um so mehr zuwider, als sie außer seinen gottlosen Ansichten über Freiheit und das allgemeine Wohl nichts gegen ihn einwenden konnten. Der Pfarrer und der Vikar überwachten engherzig die Schule als die Stätte, in der die kommende Generation geformt wird; wer nicht will, daß die Zukunft ihm aus der Hand gleitet, muß die Schule unter seinem Einfluß zu halten suchen.

Vor einiger Zeit wollte ein Mann namens Franzisco Ferrer die Schulen Spaniens der Gewalt des Klerus entreißen. Er wurde ermordet. Die Kugeln löschten ein Leben aus, das ganz der Schule geweiht gewesen war.

Seit diesem Sieg mischte sich der spanische Klerus noch mehr in Schulangelegenheiten, worin er durch die Dynastie unterstützt wurde, deren Mitglieder die ekelhaftesten und stärksten Degenerationserscheinungen aufweisen, die je in einer Familie vorkamen. Schließlich wird der Klerus auch durch die Diktatur gestützt; denn es liegt im Interesse der Offiziersclique, die Priester herrschen zu lassen. Immer mehr kehrt das Land zu den Zuständen der Inquisitionszeit zurück.

Der Pfarrer von Cavada und sein getreuer Schatten, der Vikar, hatten also diesem Lehrer, der ihnen zu aufrichtig, zu selbständig und, da er die Sympathien der meisten Einwohner genoß, zu gefährlich war, Haß auf Leben und Tod gelobt. Als sie aber weder in seiner amtlichen Tätigkeit noch in seinem Privatleben etwas fanden, das wirklich umstürzlerisch gewesen wäre, machten sie sich daran, ihn anders zu fassen.

Im heutigen Spanien haben die Priester das Recht, in die Schule zu kommen, wann es ihnen beliebt, um den Unterricht zu überwachen. An dem erwähnten Tag also öffnete sich mitten in der Unterrichtsstunde die Tür und aus dem Türrahmen, durch den von draußen die Sonne fiel, traten die zwei schwarzgekleideten Gestalten. Sie blieben in dem Schulzimmer und hörten zu.

Zori ließ sich durch ihre Anwesenheit nicht stören und setzte seinen Unterricht fort. Er fragte den kleinen Juanito, der ängstlich – vielleicht, weil er nicht recht zugehört hatte – die Antwort gab:

»Die Gerechtigkeit … die Gleichheit …«

Mit zwei langen Schritten stand der Pfarrer vor dem Jungen.

»Was sagst du da?« fragte er ihn wütend.

Juanito, den die Unterbrechung noch unsicherer gemacht hatte, sagte gar nichts mehr. Doch Ruiz, ein vierzehnjähriger Junge, der beste Schüler der Klasse, wollte zeigen, daß er zugehört und das Gehörte behalten hatte; er erhob sich und sagte: »Herr Pfarrer, alle Menschen sind gleich.«

»Das ist nicht wahr!« schrie der Pfarrer und seine Stimme überschlug sich im Zorn. Er sprang auf den Schüler zu und setzte ihm die Faust unter die Nase.

»Das ist nicht wahr! Das ist gegen die Lehre der Kirche! Gott hat niemals gesagt, daß die Menschen gleich sind. Der heilige Paulus hat in seinem Namen gesagt, daß sie ungleich sind!«

Er schrie so, daß ihm die Stirnadern schwollen und Schaumbläschen sich am Rande seiner Lippen bildeten.

Der Vikar beschränkte sich darauf, mit einer frommen Geste die Arme gen Himmel zu strecken.

Der Lehrer stand ruhig und gefaßt auf.

»Erlauben Sie, Herr Pfarrer!«

»Was soll ich erlauben? Was?« kreischte der. »Daß Sie lügen und daß Sie den Kindern diese Lügen lehren? Daß Sie behaupten, alle Menschen seien gleich? Wie können Sie eine solche Lüge sagen, die Gott ausdrücklich verboten hat? Haben Sie mich verstanden?! – Liebe Kinder, hört auf mich; euer Lehrer belügt euch.«

Der Lehrer wurde bleich, seine Glieder zitterten; doch mit fester Stimme sagte er: »Hören Sie auf!«

Der Pfarrer aber wurde immer wilder:

»Sie lügen! Sie lügen im Unterricht! Sie verspotten unsere heilige Kirche! Was heißt Gerechtigkeit? Sie bedeutet nichts für einen Christen. Denn Gerechtigkeit ist Gottes Sache! Ein Christ soll nur von Glauben und Liebe hören!«

Dieses Wort christlicher Demut und Liebe schmetterte er mit einem solchen Ausdruck von Haß gegen den Lehrer, daß dieser unwillkürlich zurückwich und noch bleicher wurde. Die Kinder standen gänzlich verwirrt von ihren Plätzen auf.

»Sie Lump!«

Kaum hatte der Lehrer das Wort ausgesprochen, als sich der Vikar auf ihn stürzte und ihm die Arme festzuhalten suchte, während der Pfarrer zum Schlage ausholte. Der Lehrer riß sich los, zwei Schüsse knallten. Der Pfarrer warf die Arme in die Luft und fiel rücklings nieder. Der Vikar taumelte, sank auch um und blieb neben dem Pfarrer liegen.

Der Lehrer, durch die Schüsse zur Besinnung gebracht, richtete die Pistole auf sich selbst. Ein dritter Knall und er lag an ihrer Seite.

So starb 1926 in einem großen »Kulturstaat« ein Lehrer, weil er es gewagt hatte, seinen Schülern von Gerechtigkeit zu sprechen.

Einige kleine Blätter haben wohl über diese unselige Angelegenheit berichtet, doch die große Presse blieb weiter stumm; denn sie ist ja dazu da, unbequeme Ereignisse totzuschweigen.


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