Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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Es war indes zum Glücke für uns beide Benedikte, wie ich bereits erwähnte, nicht nur Regnards Kind, sondern in mehr als einer Hinsicht auch das der Germaine. Wie sie es angestellt, was für tollkühne Listen sie gewagt, weiß ich nicht – aber, gottlob! sie brachte es fertig, eines Tages der Mutter zu entwischen und sich wieder in der Kirche einzufinden, wo ich in einer dumpfen Erwartung Morgen um Morgen zur gewohnten Stunde gesessen hatte. Lachend und weinend fiel sie mir um den Hals – und, lieber Gott! ich will nicht sagen, was ich tat! Sie erzählte mir, daß ihre Mutter sie an jenem schrecklichen Abende mit dem Messer bedroht habe, wenn sie sich nicht mit den heiligsten Eiden bände, für alle Zeit von mir zu lassen. Den festen Druck der Messerspitze schon auf der Brust fühlend, habe Benedikte noch zornig gerufen, sie möge zustoßen, Rad und Hochgericht wären ihr dafür gewiß. »So sterbe ich,« habe Germaine voll ruhiger Hoheit erwidert, »andern Müttern ein Beispiel, wie sie ihre Töchter zu behüten haben. Denn besser ist uns beiden der Tod als diese Verbindung!« Damit habe sie das Messer so heftig angedrückt, daß Benedikte voll Entsetzen jeden Eid geleistet, den sie aber jetzt vor dem Heiligenbilde unsers Liebesheiligtums in heller Leidenschaft wieder abschwor. Sie erzählte mir dann auch noch, daß die Mutter ihr später mit kühlerem Blute den Grund ihres Hasses gegen mich erklärt habe. Ihr ganzes Leben habe sie, so sagte sie, darauf verwendet, Benediktens sündige Natur in bessere Wege zu leiten, das Erbteil ihres leichtsinnigen Vaters in ihr zu ersticken; würde das junge Geschöpf mir in die Hände gelegt, so sei es indes rettungslos dem Laster und der Weltlust verfallen und Germaines Lebenswerk vernichtet. Diese Erklärung hätte mich nun zum Lachen reizen können, wenn sie nicht meinen ganzen Zorn entfesselt hätte. »Glaubst du das?« schrie ich außer mir. »Benedikte, glaubst du das?« Und mit tränennassen Augen, aber klar und zuversichtlich schaute die Holde zu mir auf und erwiderte: »Ich glaube von meinem Vater das, was du mir gesagt hast. Und wenn ich ihm gleich werde, so ist's gut.«

Wir konnten uns nun eine geraume Zeit hindurch nicht mehr in ruhiger Sicherheit zu gewohnten Stunden treffen, sondern mußten uns mit selten erhaschten, knappen und unruhigen Begegnungen begnügen, deren jede eine Fährnis war, deren jede unsre allerletzte sein konnte. Benedikte bestand wahre Abenteuer, um ihre Klausur zu brechen, kletterte nächtlicherweile über Dächer und kam nicht selten mit blutig gerissenen Händen an. Natürlich hatte in all dieser Bedrängnis unsre Liebe ihr stillbehagliches Wesen abstreifen müssen und brannte als loderndes Fieber in unsern gepeinigten Seelen. Wenn wir uns nach langen Tagen der Trennung einmal wiedersahen, so redeten wir kaum ein Wort, umarmten und küßten uns aber so heftig und schmerzlich, als sollten wir all unser Leben lang nicht wieder zu Kuß und Umarmung gelangen. Dafür war nun die Kirche aber längst nicht mehr der rechte Ort, sondern alle dunkeln und verlassenen Winkel der Stadt mußten uns Schutz geben. Zum Glück ist solch altes Städtchen reich an derartigen Verstecken, Stadtmauer und Warttürme, verfallende oder im Bau begriffene Häuser halfen uns allenthalben, und uns zuliebe hatte der gute Herrgott solch schönes dichtes Strauchwerk emporschießen lassen überall, wo eine Mauerspalte es erlaubte und braver alter Schutt es ernährte. Mondschein und Nachtigallen hatten wir auch, denn es war Sommer und die Nächte ein Zauber ohnegleichen; aber uns war es lieber, wenn sie schwarz und voll Regen oder Sturm waren, denn dann gab es nicht so viele andre Liebespärchen unterwegs, und die Straßen, in denen es gottlob noch keine Laternen gab, boten an jeder Hausecke Sicherheit und Dunkel. Oft saßen wir knapp unter Dach unter einer Kellertür oder am Eingang eines Warenschuppens, auf einem Zimmerplatze zwischen aufgetürmten Balken oder vor der Böttcherwerkstatt in einem großen umgestürzten Fasse, und wenn der Himmel ungnädig war, so schlug ich meinen Reitermantel um uns beide, daß er uns die Nässe vom Leibe hielt, Unter dem Mantel lag Benedikte sicher und warm an meinem Herzen wie ein Kind im Mutterarm.

Es hätte nun dieser Zustand ins Unendliche fortdauern können, denn ich war mit meinem Witze zu Ende und machte keine Pläne gütlicher Vereinbarung mit Germaine mehr; aber da kam uns die schreckliche Frau selbst zu Hilfe mit dem letzten Streiche, den sie gegen unsre Liebe zu führen glaubte. Sie mußte wohl doch etwas gemerkt haben von Benediktens nächtlichen Eskapaden, denn sie ging hin und beredete den Festungskommandanten, daß er mich zur Flucht veranlasse. Sie war als wohlhabende Frau und um ihres ehrenhaften Wandels willen geachtet, besaß auch die nötige Beredsamkeit, und wer weiß, ob sie nicht den Offizier, der noch leidlich jung und unbeweibt war, durch eine verheißungsvolle Andeutung gewann, daß er die schöne Erbin Regnards etwa lieber für sich selbst erobern, als einem feindlichen Marodeur zur Beute fallen lassen solle; jedenfalls hatte sie ihn gründlich überzeugt, daß meine Anwesenheit in Mons drohende Gefahr für Benedikten bedeute. Da nun mittlerweile die Schlacht bei Malplaquet geschlagen und Friedensunterhandlungen im Gange waren, an deren erlösendem Ausgange jene siegessicheren Holländer durchaus nicht zweifelten, so glaubte der Kommandant nichts Schlimmeres zu begehen als ein Vorgreifen um wenige Wochen, wenn er mich entwischen ließ. Er fing die Sache mit großer Vorsicht durch die Vermittlung eines Unterbeamten an, der den Verführer spielen sollte. Natürlich war ich anfangs gar nicht geneigt, mich verführen zu lassen, und spielte mich gewaltig ehrenfest auf, bis Benedikte, deren Schlauheit alles durchdrang, mir den Zusammenhang erklärte. Wir haben in dieser Nacht unter unserm Mantel gar lustig gelacht, und von da an neigte ich mein Ohr allen verlockenden Einflüsterungen und ließ mich langsam verleiten. Der Herr Kommandant soll einen Stoßseufzer der Erleichterung getan haben, als man ihm endlich meldete, die unbestechliche Tugend seines Gefangenen sei ins Wanken geraten. Ich bekam nun sogar noch eine tüchtige Ausrüstung und etwas Geld zur Reise, und in der nächsten mondlosen Nacht sollte ein Pferd vor dem Stadttore angebunden mich erwarten. Das ging alles ganz glatt. Als ich aber im Sattel saß und losritt, da huschte aus dem dichten Haselgebüsch am Fuße der Stadtmauer ein großer schwarzer Vogel heraus und auf mich zu. Ich streckte ihm die Hand entgegen; ein leichter Tritt auf meinen Bügel, ein Ruck, ein Heben – und vor mir im Sattel saß Benedikte, ohne daß das Pferd seinen Gang auch nur verlangsamt hätte. Und da es regnete, schlug ich wieder den Mantel um uns beide.

Die einzelnen Abenteuer und Fährlichkeiten unsrer Flucht sind mit Erinnerungen zu heiliger Art verbunden, als daß ich sie wiedererzählen könnte. Genug, daß wir sicher und unverfolgt über die Grenze gelangten und nach neunzehn Tagen der Angst und der Entbehrung, aber auch der allerreichsten Seligkeit in Paris ankamen. Zu Fuß kamen wir an, denn wir hatten zuletzt unser Pferd verkaufen müssen, um leben zu können. Und wieder wie vor vielen Jahren kam ich über die Heide am Fuße des Montmartre her auf das gewaltige Städtebild zu, das in königlicher Schönheit mit hundert Türmen am Horizonte aufstieg. Als wir über den Menilmontant gingen, setzte sich Benedikte, die ermüdet war, auf das Brückengeländer, genau an der Stelle, wo vor langer Zeit einmal Philipp von Chartres gesessen und den Teufel beschworen hatte. Wie er breitete Benedikte, vom Heimatgefühl überwältigt, die Arme gen Himmel, aber was sie rief, waren gute Geister, und diese sind der Beschwörung auch gerne gefolgt.

Wir suchten Helvetius auf, der uns freudig in sein Haus aufnahm, unsre Ehe richtig machen half und uns ein kleines Hochzeitsmahl bestellte, an dessen Ende er uns in einer verdeckten Schüssel den Savoyarden, ganz in Blumen gebettet, auftischte. Mit zitternden Künden nahm Benedikte das Spielzeug aus seinem Versteck und stellte es vor sich hin, während ihr langsam die Tränen über die schmal gewordenen Wangen liefen. Wir schauten es lange schweigend an, während Bild auf Bild die Vergangenheit an uns vorüberzog, die Vergangenheit, die nun unser gemeinsamer Besitz war. Aber da stand in aller Drolligkeit das köstliche Männchen mit seiner kühnen Geste, der putzige kleine Affe blinzelte so verschmitzt in seine Schnapsflasche, die Papageien schwebten so froh und mit solch zierlichem Flügelschlag um ihn, der ganze Humor des kleinen Gebildes strahlte so siegreich aus jeder Linie, daß mählich unsre Ergriffenheit sich in Heiterkeit auflöste und mein Benediktlein unter ihren Tränen hervor plötzlich so herzlich zu lachen begann, wie es als Kind immer gelacht hatte, wenn es mit dem Kunstwerk spielen durfte. »Vaters Frohsinn,« rief sie aus, »so wie du ihn mir beschrieben hast, steckt in dem Ding und lacht uns an. Du hattest recht, daß er unwiderstehlich und ansteckend wirkt, und so wollen wir diesen kleinen Kerl behalten als Wehr und Schirm gegen traurige Stunden.« Und dieses gelobten wir uns.

Ich brauche nicht zu sagen, daß der Savoyarde fast den einzigen Besitz unsers jungen Hausstandes bildete, denn wir waren arm wie die Kirchenmäuse, und ohne Helvetius' Hilfe wäre es uns schlimm ergangen. Dieser treffliche Mann jedoch erklärte sich großmütig zu meinem Schuldner für Summen, die ich ihm einst zur Verteilung an Arme anvertraut hatte und die er nicht verausgabt haben wollte. Ich durchschaute freilich den frommen Betrug, aber um Benediktens willen ging ich darauf ein. Nicht lange indes brauchte ich von des Freundes Milde zu zehren, denn mein angebetetes Weib wußte plötzlich Mittel zu beschaffen, indem sie ihre in Holland erworbene Fertigkeit im Sticken und Klöppeln zu verwerten begann. Mir stand das Herz still, als ich Benedikten das erstemal am Rahmen hantieren sah, denn ihre Stoßseufzer über die Langeweile dieser Arbeit waren mir noch recht gegenwärtig, und entsetzt rief ich ihr zu: »Aber Benedikte, diese Arbeit ist dir doch so verhaßt!« Sie zog eine ihrer artigen kleinen Grimassen und antwortete: »Zum Pläsier tue ich es auch nicht, sondern diesem kleinen Herrn da zuliebe, damit du nicht etwa auf den Gedanken kommest, ihn zu verkaufen.« Und sie wies auf den Savoyarden im Glasschrein.

»Lieber verkaufe ich mich selbst,« rief ich verzweifelt und dachte gleich wieder an Kriegsdienst, der uns freilich Brot verschafft, mich aber auf lange Zeit von meiner Süßen getrennt hätte, und dessen schließliche Notwendigkeit mir bereits mehrmals wie ein Gespenst vor Augen getreten war. Aber Benedikte antwortete lachend, damit wäre ihr nun auch nicht gerade gedient, lieber wolle sie noch eine Weile für ihre beiden Mantelträger arbeiten, sie habe ja als reiches Fräulein in Holland dasselbe getan. Und so klöppelte und stickte sie, und dazwischen stickte sie meinen großen Reitermantel, bis er fast ebenso bunt aussah wie der des Savoyarden, und kräuselte kunstvoll die Federn auf meinem Hute, die lang nicht mehr so üppig wallten wie die seinen. Und es war ein Segen auf ihrem Schaffen, denn von allen den holländischen Stickerinnen in Paris, die Fraueneitelkeit und Sittenlosigkeit auch in den teuersten Zeiten in Tätigkeit und Brot hielt, war Benedikte die begehrteste, weil ihres Vaters schaffender Geist in ihren schlanken Fingern spielte. Und wenn vornehme Frauen oder putzsüchtige Dirnen die Kunstwerke meiner kleinen tapferen Liebsten gedankenlos auf ihren unheiligen Leibern trugen, so wurmte mich das wohl, versöhnte mich aber zugleich auch wieder ein bißchen mit der Welt und ihrer Lust, denn ohne die böse Lasterhaftigkeit so vieler Stände hätten Benedikte und ich Hungers sterben müssen. Auf diesen letzteren Schluß hatte mich nun freilich Benedikte selbst gebracht, als ich einmal nutzlos gegen die unwürdige Verwendung so liebevoll geschaffener Gebilde einer reinen Hand tobte. Und sie hatte dabei den Savoyarden angesehen, von dem sie behauptete, daß er mehr von der Welt wisse als ich. 23

Es wäre immerhin nicht auf die Dauer gegangen, von dem Verdienste meiner weltklugen Geliebten zu leben, um so mehr, als die Teuerung in Paris stetig zunahm, das Geld stetig im Werte sank und wir schließlich für ein ansehnliches Häufchen Münze, das vier oder fünf Tage emsiger Arbeit darstellte, kaum so viel Nahrung erstanden, daß wir uns recht satt essen konnten. Die entwürdigenden Friedensbedingungen, welche die Koalition an König Ludwig gestellt hatte, waren verworfen worden, der Krieg wieder aufgenommen, und stöhnend gab das Land sein letztes Blut. In mir kämpften Pflicht und Liebe. Ich wußte wohl, wo mein rechter Platz gewesen wäre, aber Benedikte, welche die Verheißung ihres schönen Namens jetzt auch in andrer, süßerer Weise zu erfüllen begann, bat mich flehentlich, sie nicht zu verlassen. Ich blieb also in Paris, verdiente geringe Beiträge durch allerhand gelegentliche Dienste, die ich hohen Herren erwies, machte Botenritte für den Erzbischof von Noailles, schulte dem Herzog von Longueville ein paar Pferde, unterwies da und dort einmal ein Gräflein im Fechten, aber immer mit kümmerlichem Gewinne und oft wochenlangen Unterbrechungen. Ohne Benediktens ewig sonniges und unerschöpflich hoffnungsvolles Wesen wäre ich oft in Trübsinn verfallen, denn Helvetius' Hilfe und meines Weibes Arbeit lasteten auf mir, und was hat ein Kriegsmann gelernt, um sich durchzuschlagen?

Eine Besserung meiner Verhältnisse trat ein, als der im Anfang des Jahres 1711 erfolgte Tod Monseigneurs den Herzog von Burgund zum Dauphin machte. Dieses Ereignis bedeutete vor allen Dingen einen Wechsel in der Stellung des Herzogs von Beauvilliers, der jetzt als Erzieher und Berater des neuen Thronerben die einflußreichste Person am Hofe geworden war. In unwandelbarer Milde und Bescheidenheit verwendete der einzige Mann diesen Einfluß nur zugunsten andrer und hatte kaum von meiner Notlage erfahren, als er mich aufsuchte und nach kurzen Verhandlungen in den persönlichen Dienst des jungen Dauphin einstellte. Nun war ich wieder im Glanz, und mein Mantel konnte den des Savoyarden auslachen. Freilich mußte ich nun den größten Teil meiner Zeit in Versailles zubringen, während mein Kleinod in Paris blieb. Aber ein Lächeln des gütigsten Gebieters beurlaubte mich, so oft die Sonne schräg durch die hohen Baumgänge von Versailles schien, und allabendlich flog ich auf triefendem Rosse gen Paris, meinem Glücke zu. So hätte es nun meinetwegen bleiben können. Benedikte stickte nicht mehr, sie wiegte unsern Sohn, und durch das winzige Stübchen in Helvetius' Hause, das sie immer noch bewohnte, schwebten voll und freudig die hellen Töne ihrer Kehle in weltlichen und geistlichen Liedern. Und mir schien es wahrhaftig, als ob das Kind in der Wiege schon ebenso verzückt zu lauschen wisse, wie seine Mutter einst dem Orgelspiel in St. Jacques de la Boucherie gelauscht hatte.

Seit ich nun wieder im Hofdienste war, hatte ich mit stiller Angst im Herzen dem Augenblick einer Begegnung mit Orleans entgegengesehen. Diese indes erfolgte lange nicht, schon deshalb, weil ich des Abends, wo der Hof zusammenkam, niemals in Versailles Dienst hatte. Ereignete es sich dennoch, daß meine Pflicht mich dem Gehaßten in den Weg führen mußte, so umging ich sie, der Milde des Dauphins vertrauend. Dieser wie der ganze Hof mußte ja wissen, welches Gespenst zwischen uns stand; und er wußte es auch und ließ mich gewähren.

Und dennoch ist es geschehen, daß auch dieser letzte Schatten von meinem Lebenswege gehoben wurde. Wie, das habe ich bereits leise andeutend verraten, und ich möchte auch jetzt nicht viele Worte darauf verwenden. Es waren Dinge haarsträubender Art, die wie Keulenschläge des Schicksals auf unser aller Häupter niederfielen; und was wären wir gewesen, wenn wir in einem Schmerze, der allgemein und unauslöschlich war, nicht unsrer eignen kleinen Gebrechen und Klagen vergessen hätten?

Man weiß, daß am 12. Februar 1712 die liebe Herzogin, jetzt Dauphine, der angebetete Liebling des greisen Königs, der Stolz und die Hoffnung des Landes, an einer rätselhaften, nur wenige Tage dauernden Krankheit starb. Sechs Tage später folgte ihr der Gatte ebenso unerwartet, unter gleich geheimnisvollen Zeichen, und nach weiteren zehn Tagen ihr älterer Sohn. Nichts blieb von dieser glücklichen Familie als ein Säugling, der noch nicht einmal getauft war. Auf diesen blickte der unglücklichste aller Monarchen als letzten Erben eines Thrones, von dem alle guten Genien geflohen zu sein schienen; über den Urenkel, der ihn noch nicht verstehen konnte, beugte sich der weinende Ahne, der Kinder und Enkel hatte überleben müssen. Wenn je eine tiefe Trauer diesen leichtsinnigen Hof erschüttert hatte, so war es jetzt, und ich darf wohl sagen, daß der feilste Höfling in diesem einen Falle vergaß, aus dem gebotenen Mitleid Gewinn zu schlagen, vielmehr sich schweigend mit so echten Tränen, daß sie nicht geschaut werden durften, abwandte, wenn der gebrochene, all seiner Freuden beraubte Mann an ihm vorüberging.

Aber so groß ist kein Unglück, daß nicht Aberglaube und böser Wahn es noch größer machen könnten, und diese Furien schlugen denn auch hier ihre Krallen in bereits gerichtete Leiber, wie Raben auf dem Schlachtfelde in das Fleisch Gefallener. Irgend jemand – verflucht sei sein Name! – erinnerte sich in diesen Tagen Orleans' gefährlicher Vorliebe für alchimistische Studien, seiner Teufelsbeschwörungen und Wahrsagerei, seines unbändigen, stets gekränkten Ehrgeizes, seiner Königsträume und seiner volksbeglückenden Ideen. Was der Jüngling gesündigt hatte, mußte der Mann, der längst mit allen Torheiten fertig war, büßen. Als ob der arme König, der ohnedies sein ganzes Leben lang für ebendies Leben gezittert hatte, an der schrecklichen Mahnung des Schicksals noch nicht schwer genug zu tragen gehabt hätte; als ob der Herr über Werden und Vergehen nicht finster genug zu ihm gesprochen hätte; als ob es noch mehr brauchte als diese sichtbarliche Verfolgung von oben her: so stellten jene grausamen Toren ihm auch noch eine Verfolgung im eignen Hause vor, ein Eingreifen böser Mächte, einen Giftmord oder eine Einwirkung gleich schädlicher Beschwörungen, die ihm täglich und unmittelbar drohten. Vor jedem Löffel Suppe mußte König Ludwig sich fürchten, nachts schien ihm die Luft seines Gemaches von tötenden Dämpfen schwül, und die Hostie selbst nahm er nicht ohne Schauder. Das war der Mann, der einst die Sonne vom Himmel hatte reißen wollen, um sie in sein Wappenschild zu setzen!

Helvetius und alle Aerzte des Hofes und der Stadt protestierten energisch gegen den erbärmlichen Verdacht, der auf Orleans gefallen war. Aber freilich: erklären konnten auch sie die Krankheit nicht, die drei junge und blühende Menschen dahingerafft hatte ohne sichtbaren Anlaß; und wo die Wissenschaft schweigen muß, redet der Aberglaube. Es gab nur wenige Menschen bei Hofe, die nicht an Orleans' Schuld und fernere böse Absichten glaubten, und der Mann, der von Jugend auf angefochten war, wurde nun gemieden wie ein Pestkranker. Trotzdem sah man ihn oft in Versailles. Ein eigner Reiz zwang den König, diesen Gehaßten, diesen Mörder, der ihn bedrohte, möglichst viel unter Augen zu haben, ihn zu beobachten, zu prüfen. Orleans soll sich tadellos unbefangen gezeigt und offenbare Unarten, denen er nun allerorts begegnen mußte, durch die edelste und natürlichste Freundlichkeit entwaffnet haben.

In diese Zeit fiel es, daß ich ihm einmal unversehens in der Galerie von Versailles begegnete. Ich schrak zurück, ich suchte ihm zu entweichen – aber bei Gott! ich dachte nicht an den Giftmord und all die tollen Anklagen, ich dachte nur an das entehrte und bejammernswerte Mädchen, das einmal meine Braut war! Da rief Orleans meinen Namen, ich mußte ihm stehen, und ich tat es errötend, denn nun war mir zum Bewußtsein gekommen, wie er mein Verhalten deuten könne. Als er nun gleich darauf mit mildem Lächeln mir vorhielt, daß er von mir gerade diese Teilnahme an der allgemeinen Verirrung nicht erwartet hätte, protestierte ich eifrig, und die Sache kam zwischen uns zum Austrage. Orleans suchte nicht sich reinzuwaschen; er warf die Schuld nicht auf die Frau, wie er wohl hätte tun können, aber er sprach als ein zur Erkenntnis Gekommener und Reuiger von seiner ganzen Vergangenheit wie von diesem einzelnen Falle. Und nach einer Stunde reichten wir uns die Hände zur Versöhnung.

Ich war durch den Tod des Dauphin wieder ohne Amt, und wenn ich auch in der allgemeinen Trauer kaum wagte, daran zu denken, so konnte es doch nicht fehlen, daß es mir manchmal wie ein leises Bangen ans Herz griff: »Was wird nun aus dir?« Ich hatte noch zu keinem über diesen Punkt gesprochen, denn fast zweihundert Menschen teilten mein Schicksal, und es brauchte wohl eine Weile, ehe an die Versorgung so vieler gedacht werden konnte. Aber schon wenige Tage nach jener Unterredung befahl Orleans mich zu sich und fragte in beinahe scheuem Tone, ob ich es noch einmal in seinem Dienste versuchen wolle. Nicht in St. Cloud und nicht in Versailles, fügte er hastig hinzu, sondern als Kontrolleur seiner Einkünfte in der Provinz. Ein einfaches Leben in einer kleinen Stadt mute er mir zu, und eine große Pflicht lege er mir auf, nämlich ein sorgfältiges Eingehen in die Verhältnisse und Mittel der Bevölkerung, die ihm steuerpflichtig sei; denn er wolle die Armen schonen. Und während er sprach, lag in seinen Augen wieder die alte Herrschaft, der alte Zauber noch in dem hager gewordenen, aber immer edeln Gesicht. In mir kämpften tausend Empfindungen einen heftigen Kampf. Aber was ich nimmermehr getan hätte, wenn der Herzog von Orleans in Königsgunst und Volkesliebe gestanden hätte, das mußte ich dem Verkannten und Geächteten tun; ich schlug ein und versprach ihm treulich zu dienen. Und wahrlich war es ja ein Amt, das mir in allen Stücken gefallen mußte, und daß es mich und Benedikten fern von Paris und fern vom Hofe hielt, war nicht die schlechteste Seite daran.

So kam denn der Tag, an welchem das Brausen der herrlichen Stadt zum letzten Male um uns her war, an dem zum letzten Male die tausendstimmigen Schreie ihres wilden Lebens an unser Ohr schlugen. Zum letzten Male grüßten uns die feinen Dachprofile der Cité über dem hellen Wasser der Seine, die breite Wölbung des Pont Neuf, Heinrichs IV. schnaubendes Italienerpferd, die breite Fassade von Notre Dame. Die Tanzweisen in den Elysäischen Feldern verklangen hinter uns, über uns verwehte die unerschöpfliche Flut des Glockengeläutes der hundert Kirchen und Klöster von Paris. Noch einmal waren wir bekannte und erinnerungsreiche Straßen gewandert, hatten Abschied genommen von der Rue Planche-Mibrai und den Gegenden, wo ich einst Benediktens Ritter gegen Straßenhunde gewesen war, von St. Jaques' und Nicolas Flamels hübschem Portale, von dem Eckhause an der Barillerie, vom Pont de la Tournelle, wo mir Germaine zum erstenmal begegnet, und vom Palais Cardinal, in dessen Garten noch die falten Kastanien rauschten. Dann waren wir hinausgezogen in unser neues Leben, das wie eine stille schöne Insel war, auf die ich von allen Schätzen und Lasten vergangener Tage nichts gerettet habe als mein blondes Weib, mein Kind und den kleinen Savoyarden.

Ich blieb auch auf meiner Insel, als drei Jahre später König Ludwig starb und Orleans, der den Verleumdungen und Gehässigkeiten des ganzen Hofes zum Trotz Regent geworden war, mich zu einem besseren Amte in die Nähe von Paris berief. Weder Benedikte noch ich sehnten uns dahin zurück; riefen wir auch oft in abendlichen Gesprächen die bunten Bilder der schönen Stadt und ihres reichen Lebens in uns auf, freuten wir uns auch redlich über jede Kunde, die uns von dort zukam. Die beste davon war für mich speziell die laute Anerkennung, die Männer von Verstand und Offenheit dem Regimente Philipp von Orleans' zollten, von dessen Weisheit übrigens auch eine kleine Fernwirkung in das beschränkte Leben der Provinz fiel. So hatten doch nicht alle guten Feen gelogen und die böse Dreizehnte hatte endlich ihre schwarzen Fledermausschwingen falten und hinwegschleichen müssen von diesem Opfer, an dessen Blute sie lange genug gesogen.

Niemals mehr ist uns die leiseste Kunde von Germaine zugekommen. Sie mag die verlorene Tochter keiner Nachforschung wert gehalten haben, und jedenfalls hielt sie die Botschaften und Bitten um Versöhnung, die Benedikte wiederholt durch zuverlässige Hände an sie sandte, keiner Antwort wert. Benedikte tröstete sich schließlich und ließ ab zu schreiben, bemühte sich auch nie um ihr rechtmäßiges Erbteil. All ihren Reichtum soll Germaine schließlich den Armen von Mons vermacht haben. –

Wenn der Schnee die Gefilde deckte, dann gab es lange Plauderabende auf unsrer stillen Insel. Am Kaminfeuer saßen wir, schürten die lodernde Glut und sprachen von alten Tagen. Die tanzenden Lichter der Flamme, die an den Wänden des Gemaches hinspielten, trafen und belebten die kleine Statue des Savoyarden im Glasschrein, daß es aussah, als flattere sein Mantel, als wehten seine Federn, als verzöge sich bald heiter, bald grimmig sein ausdrucksvolles Gesicht. Das Männlein war schuld, daß wir immer und immer wieder von längst begrabenen Dingen reden mußten. Unter diesen feierte denn auch eines schönen Abends mein erster Feldzug seine Auferstehung, die Heerschau von Mons, die Belagerung von Namur und der Mönch von Marlaigne mit seiner wunderlichen Buße. Ich erzählte Benedikten von meinem Gelübde und wie es mir mit der Erfüllung desselben gegangen war. Sie lachte ein wenig und bedauerte mich, wollte aber schließlich gerne wissen, wie denn das mit uns nun eigentlich bestellt sei und wer von uns beiden angefangen habe mit dem Küssen. Wir zerbrachen uns lange die Köpfe darüber, kamen aber schließlich zu der Erkenntnis, daß die Sache nicht mehr zu ermitteln sei, denn mein Gedächtnis ließ mich im Stich, und von Benedikten konnte ich auch nicht verlangen, daß sie sich bis in ihr drittes Lebensjahr zurückerinnere.


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