Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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14

Ein kurzes Aufatmen war uns vergönnt, als in den ersten Frühlingstagen 1702 der Tod den gewaltigsten Feind Frankreichs, den Oranier, hinwegnahm. Nun saß eine kleine, alberne und launenhafte Prinzessin auf dem englischen Throne, und schon glaubten unsre Generäle, im Garten dieser Frau billige Lorbeeren pflücken zu können, als Schlag auf Schlag die Kriegserklärung Englands, der Niederlande, die Belagerung von Kaiserswerth durch den Kurfürsten von Brandenburg und der Verlust mehrerer flandrischer Festungen uns weckte. Es half nichts, daß in Versailles die Taktik der Generäle kritisiert, daß zwischen dem Könige und Chamillart Kriegspläne ausgearbeitet wurden, es half auch nichts mehr, daß der Bastard Maine zurückgerufen wurde, den der verblendete Vater auch diesmal wieder dem Marschall Boufflers als Bleigewicht an die Glieder gehängt hatte: Posten auf Posten ging dahin. Bei jeder neuen Trauernachricht zuckte Orleans die Achseln und lächelte einen Moment wie über die Erfüllung einer langgehegten Erwartung; im übrigen sah man wohl, daß die Sache auch ihm naheging. Ich wagte es, einen Augenblick weicher Stimmung wahrnehmend, ihn über seine Ansichten in betreff der Kriegführung zu fragen, und ob er eine Möglichkeit sähe, den verfahrenen Karren aus dem Schmutze zu heben. Er antwortete: »Ja, wenn du ihm neue Räder bautest! An den Generälen liegt's nicht, daß nichts geleistet wird, es liegt an der Armee, an Chamillart und seinen Kreaturen, die unsre Soldaten hungern und frieren lassen, um sich selbst zu bereichern.« Und er erzählte mir die Kunde, die der Herzog von Burgund aus Flandern mitgebracht und die in Versailles nur flüsternd und nur an ganz bestimmte Personen weitergegeben werden durfte. »Hätten wir Louvois noch,« fügte er seufzend hinzu, »so fänden sich wohl auch die Luxembourgs und Turennes. Einer schlecht unterhaltenen und schlecht bewaffneten Armee könnte selbst ein Feldherr wie Alexander kein Feuer einblasen.« Und als ich blindlings die Frage tat, ob denn dem König über derartige Zustände nicht die Augen zu öffnen wären, bedeutete er mich mit einer Geste des Mitleids: »Denkst du, daß er die Misere nicht sieht? Besser als irgendein Mensch, wenn er es auch nicht besprochen haben will. Aber das ist ja eben der Fluch des Alters in Naturen wie die seine: er wüßte wohl, was zu tun wäre, aber er zittert vor der Ausführung, Trägheit bindet ihm Arme und Verstand, er kann wünschen, aber nicht mehr wollen. Alles an diesem Manne war von jeher Impuls. Die Vernunft in ihm, die einstens nicht stark genug war, seine allzu heftigen Triebe zu mäßigen, ist heute auch nicht stark genug, die erschlafften Triebe zu spornen. So hinfällig ist eine Größe, die nur der glückliche Instinkt hervorgebracht hat.«

Diese Philosophie machte mich nachdenklich, und ich fragte, was denn nach Philipps Ansicht ein Mensch tun müsse, um einem solchen Verfalle zu entgehen. »Seinen Geist bereichern und so stählen,« sagte er rasch, »daß er spielt wie eine federnde Klinge, vor keiner Arbeit erschrickt, nie um Mittel verlegen ist, alles aus sich selbst schöpft und von andern wohl beraten, aber nie beeinflußt werden kann. Ein solcher Geist war Wilhelm von Oranien, und wenn ich König wäre, so wollte ich wohl auch beweisen, daß ich ein solcher bin. Halte dies nicht für Prahlerei! Ich will wohl noch Gelegenheit finden, zu beweisen, was Geistesarbeit leisten kann.«

»Wie und wo, um Himmels willen, sollte Eure Hoheit das je beweisen?« rief ich ihm höchst erschrocken ins Gesicht, denn ich merkte wohl, daß er in bestimmter Absicht sprach, und faßte alsobald den fürchterlichsten Verdacht. Er aber lachte harmlos und sagte: »Hast du nie einen kleinen Jungen gesehen, der in seinen schwachen Händchen drei große Aepfel hält, deren er keinen anbeißen kann? Siehst du, unser König ist dieser törichte Knabe, und die drei Aepfel sind die Kronen von Frankreich, Spanien und die von England, die er entgegen jedem Rate für das Kind Jakobs II. verteidigen will. Glaubst du nicht, daß ihm früher oder später einer der drei Aepfel unter den Armen durchgleiten und zu Boden fallen wird? Jeder, der das goldene Vlies trägt, ist dann berechtigt, ihn aufzuheben.« Und er legte die Hand auf das erhabene Zeichen an seiner Brust.

»Wenn Eure Hoheit warten will, bis der Apfel am Boden liegt, so bin ich beruhigt,« sagte ich erleichtert. Dann wendete sich das Gespräch auf andre Dinge. Ich aber habe dieses hier aufgeschrieben, weil ich mich seiner in späteren Tagen noch gar oft entsinnen mußte.

Es schien übrigens bald, als ob Orleans seine schöne Lehre von der Vernunft, die den Instinkt bändigt, nicht auf sich selbst anzuwenden gewillt sei, denn kaum war das Trauerjahr zu Ende, als er auch schon sein altes Leben wieder aufnahm. Immerhin hatte ich wirklich bei ihm das Gefühl, daß er seinen Leidenschaften nur so weit die Zügel ließ, wie etwa ein guter Reiter sie einem Pferde läßt, das er sicher in der Hand hält. Daneben trieb er wieder emsig seine Alchimie, aber auch Geschichte, Kriegswissenschaft und alle jene holden Künste, mit denen die Natur ihn so verschwenderisch begabt hatte. Er schrieb eine Oper, die nicht schlimmer war als die meisten derer, die wir bei Hofe zu hören bekamen; auch sammelte er Bilder und wertvolle Handschriften und zeigte für alles die gleiche sprühende Begeisterung. Ich gewann in der Tat die Einsicht, daß aus einer solchen Vielseitigkeit und Beweglichkeit des Geistes einem Menschen ewige Jugend erwachsen müsse, gleichsam eine innere Geschmeidigkeit, gegen die das Alter mit seiner schlimmsten Gefahr, der Trägheit, nicht aufkommen konnte. Aber Heinrich IV. und Wilhelm von Oranien, die beiden Männer, auf welche Orleans gerne hinwies als Beispiele eiserner Unermüdlichkeit – sie waren beide nicht alt geworden.

Mir unterdessen floß in stillen Bahnen ein einförmiges Leben dahin, ein müheloser Dienst beschäftigte mich ungenügend und nur äußerlich, Bücher, Künste und Leidenschaften waren mir gleicherweise versagt, und öde gähnte mir jeden Morgen das Gewohnte und Hergebrachte entgegen. Unbedeutenden Naturen ist es nicht gegeben, sich aus den Ereignissen der Zeit einen Herzensinhalt zu bilden, sonst hätte das laufende Jahr mich wahrlich mit Sorgen und Aufregungen genügend beschäftigen können; Leute meines Schlages brauchen einen Menschen, der ihnen Welt und Zeit vermittelt, und dieser Mensch war seit jener eigenartigen Unterredung Philipp von Orleans für mich geworden. Es war mir klar, daß er sich mit großen Plänen trug; eine eigentümliche Ruhe und Heiterkeit in seinem Gesichte ließ mich auch vermuten, daß er bestimmte Hoffnungen hege, und jenes kleine flüchtige Lächeln, mit dem er, wie schon erwähnt, jeden Bericht einer Niederlage Frankreichs empfing, zeigte mir deutlich, daß er die Ereignisse nur als notwendige Vorbereitungen zu seiner eignen Erhöhung betrachtete. Natürlich glaubte ich felsenfest an ihn, an sein glückliches Geschick, an die Reinheit seiner Absichten. Er sprach oft in kleinen Kreisen sowie auch zu mir allein seine Ansichten über das Verhältnis zwischen Fürsten und Volk aus und zeigte sich dabei durchaus als ein Mann, der praktischen Verstand mit hohen Idealen zu verbinden wußte. Während in solchen Gesprächen der junge Herzog von Burgund, in dem Fénelons Träumereien noch nachwirkten, sich gern in fromme Unmöglichkeiten verlor und geradezu die Forderung aussprach, daß Fürsten vor Gott eigentlich die Diener des Volkes sein müßten und als solche alle Interessen in den Dienst des Staates zu stellen hätten, berief sich der klügere Orleans einfach auf die in England eingeführte Staatsform, bei der Volk und Fürst wunderschön zu gleichen Rechten gelangten. Daß ein Parlament einem Könige den Prozeß machen konnte, gefiel ihm ungemein; freilich mußte er aber dabei in Betracht ziehen, daß die Engländer ein Volk wären, das unter allen Umständen seine eigne Würde zu wahren wußte und sich auch in den günstigsten Augenblicken nicht leicht zu einem Mißbrauche seiner Macht hinreißen ließ. Ob Frankreich unter gegebenen Umständen eine Revolution, wie die gegen Karl I. war, mit so viel Anstand durchführen würde, stellte Orleans in Zweifel; und wir, die wir mit stiller Erbitterung diese Verherrlichung unsers Erbfeindes mit anhörten, gaben ihm dennoch recht, denn wir hatten keine Argumente gegen ihn. Die Unerschrockenheit indes, mit der ein französischer Pair hier englische Sympathien aussprach, machte mich innerlich zittern, und wirklich sollte einmal der Tag kommen, wo Philipp seine Offenheit bereuen sollte. Doch davon später.

Seit Philipp Herzog von Orleans geworden war und als solcher so sichtbare Beweise des Wohlwollens von seiten des Königs empfangen hatte, war seine Stellung bei Hofe die glänzendste. Immerhin liebte ihn niemand, und das einzig und allein um der Ueberlegenheit seines Geistes willen; wobei ich nur den Herzog von Burgund und Beauvilliers ausnehme, die ihm an Intelligenz und Wissenschaft nicht nachstanden, aber weniger scharf und unbarmherzig damit hervortraten. Die ganze übrige Höflingsschar fühlte sich vor Philipp von Orleans höchst unbehaglich, am unbehaglichsten aber der König selbst, der wirklich geradezu eine Antipathie gegen hervorragend kluge Menschen besaß. Philipp bemerkte ganz richtig, daß es in des Königs eigenstem Interesse sei, sich mit Menschen zu umgeben, die ein gut Teil unwissender seien als er selbst – freilich durchaus nicht im Interesse seines Landes! – und das war ein Punkt, wo die vielbesprochenen Theorien praktisch erhärtet werden konnten. Was gilt höher: das Prestige des Königs oder das Wohl des Landes? Natürlich das letztere! Soll aber wiederum ein König zu seinem Minister sprechen: »Mein Freund, ich bin in dieser Angelegenheit unwissender als du, bitte, belehre mich!« – wozu brauchte es dann einen König? Nach Philipps Ansicht gab es nur eine Lösung dieser Frage, und die lief auf seine sonstigen Neigungen hinaus: Bildung des Geistes wäre die erste Forderung, die an einen König gestellt werden müsse, allgemeines, umfassendes Wissen. Und da niemand sich verhehlen konnte, daß diese Forderung einen direkten Vorwurf gegen König Ludwig enthielt, und da niemand diesen Vorwurf grimmiger empfand als der König selbst, so erwuchs aus derartigen Umständen eine neue Mißstimmung gegen Philipp von Orleans, die jahrelang wie eine Gewitterwolke über ihm hing und die von den Bastarden, seinen Schwägern, zu manchem perfiden Schachzug ausgenutzt wurde.

Es befand sich um diese Zeit ein Engländer namens Stanhope in Paris, von dem Philipp ohne Zweifel ein gut Teil seiner revolutionären Ideen bezog oder der ihn zum mindesten darin bestärkte. Es war einer jener schmalköpfigen, weibisch aussehenden Menschen, wie jene Insel sie öfters hervorbringt, dabei eisern an Kraft und Willen, in allen ritterlichen Uebungen gewandt und durchaus nicht unwissend. An diesen Briten hing Philipp bald sein Herz und sein Vertrauen, und da jener mir an Dialektik überlegen war und obendrein solche Ideen vertrat, wie Philipp sie liebte und wie sie in Frankreich noch neu waren, so mußte ich mich bald von ihm verdrängt und in den Hintergrund geschoben sehen. Nebenbei war Stanhope gerade kein Puritaner, sondern besaß eine recht freie Lebensauffassung, die Philipp sehr gefiel. Es kam also bald zu meinem sonstigen unglücklichen Lieben noch eine unglücklichere zu meinem Gebieter und Jugendgespielen, der meine Eifersucht wohl bemerkte, mich auch gelegentlich durch erneute Herzlichkeit zu entschädigen wußte, sich aber dennoch dem Naturgesetz nicht entziehen konnte, das Gleichgesinnte aneinander fesselt; und er und Stanhope waren unstreitig von einerlei Art. Da Philipp mich also entbehren konnte, so beschloß ich, für mein vereinsamtes Herz andre Unterkunft zu suchen, und begab mich im darauffolgenden Winter noch einmal mit den ernstesten Absichten auf die Freite.


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