Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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16

Da mir das Wort einmal entfahren ist, welches den wahren Grund meiner spanischen Reise und das wahre Wesen meiner langgezogenen Brautschaft kennzeichnet, so will ich auch gleich die ganze schlimme Angelegenheit zu Ende erzählen, so wie sie mir nach meiner Rückkehr aus Spanien von Fräulein von Vardes, die nicht mehr meine Braut war, klargelegt wurde. Es hatte das unglückliche Mädchen, das so kühl aussah wie eine Lilie im Morgentau, schon kurz nach ihrer Entlassung aus St. Cyr eine heftige Leidenschaft zu dem Herzog von Orleans gefaßt, gegen die sie kaum angekämpft und die sich während ihres Dienstes im Gefolge der Adelaide mehrmals auffällig geäußert hatte. Philipp von Orleans war kein Mann, der derlei Dinge übersah, wie er denn in der Tat oft und öffentlich geäußert hatte, der größte Narr der Welt sei ein Mann, der gebotene Liebe nicht annehme. Er ließ auch Fräulein von Vardes durchaus nicht im Zweifel darüber, daß er sich selbst als den schlechtweg Hinnehmenden, sie aber als die Feile und Anbietende betrachte, und das verblendete Mädchen ging mit offenen Augen in die Sklaverei eines solchen Verhältnisses hinein. Es war schauerlich, dies Geständnis von ihren so stolz und keusch aussehenden Lippen fallen zu hören, schauerlicher noch, sich ausdenken zu müssen, welcher Erniedrigung dies feine, durchaus aristokratische Wesen sich hingegeben hatte. Den Herzog von Orleans traf kein Vorwurf, denn er hatte, ihrem eignen Zeugnis gemäß, nichts andres verbrochen, als daß er nicht widerstanden hatte. Geworben und verführt hatte sie, die Klösterliche, die Kußscheue, die ich nicht zu berühren gewagt hatte. Das Schicksal so vieler Frauen, die als verachtete Anhängsel den Thron Frankreichs belasteten, hatte sie nicht abgeschreckt, es hatte sie gelockt, und auf kein andres Ziel als dieses, den begehrten Mann einmal, und sei es auch nur für kurze Zeit, zu besitzen, hatte sie alle Hoffnungen ihres jungen Lebens gerichtet.

Dabei hatte es freilich Stunden gegeben, wo sie sich ihrer Verworfenheit bewußt wurde und vor Reue fast verging. In einer solchen Periode war ihr von seiten ihrer Gebieterin der Wink gekommen, der sie auf mein Werben hinwies, und sie hatte denselben als ein Zeichen vom Himmel und zu ihrer Rettung gesandt hingenommen. Als sie mir das Jawort gab, tat sie es in der redlichen Absicht, sich von ihrer Leidenschaft zu lösen und den Weg zur Tugend zurückzusuchen. Noch durfte sie es ohne Verrat an mir. Sie setzte alle guten und ehrlichen Hoffnungen in mich, weil sie mich von allen Leuten des Hofes als einen absonderlichen Schwärmer und Träumer schildern gehört hatte; ja, gerade der Spott, der um meiner religiösen und wohltätigen Bestrebungen willen auf mich gefallen war, hatte sie angezogen, weil er ihr die Zuversicht gab, sich an mir von ihren niedrigen Wünschen reinigen, sich durch mich in bessere Bahnen leiten lassen zu können. So waren all ihre Gespräche über Gott und Glauben, die ich so wenig ernst genommen hatte, in Wirklichkeit ein verzweifeltes Suchen und Tasten nach einem Halt gewesen, an welchem sie sich zu mir emporziehen könnte. Diesen Halt bot ich Ahnungsloser ihr nun nicht. Denn erstens war ich überhaupt nicht der Mensch, für den sie mich gehalten, und zweitens hatte ich noch obendrein während meines Brautstandes alle andern Interessen in den Hintergrund geschoben und war nicht viel mehr als ein verliebter girrender Schäfer. Sie glitt also unvermerkt wieder an mir ab und fiel Orleans wieder zu, der bei allem Schimpf, den er ihr antat, ihr Besseres zu bieten hatte als ich, weil er klug, männlich und von so reichem Geiste war, daß jedes Wort, das er zu ihr sprach, ein Schatz und des Bewahrens wert erschien. Das arme Geschöpf versuchte indes, wie ein Schwimmer an glattem und steilem Ufer, immer wieder sich zu retten, kämpfte bis zur äußersten Ermattung und als ob wirklich der Tod hinter ihm stünde. Sie empfand etwas Sympathie und eine gewisse Achtung für mich, die sie sich jede Stunde durch tausend Vorstellungen und Selbstvorwürfe ins Gedächtnis rief, und aus denen sie redlich bemüht war, ein wärmeres Gefühl zu extrahieren. Leider läßt sich Natur in solchen Dingen selbst durch den besten Willen nicht gebieten. Fräulein von Vardes gestand, daß ihr meine Berührung Schauder verursacht habe, an welchem freilich die Rebellion ihres Gewissens gleichen Teil gehabt habe wie der physische Widerstand ihrer Sinne. Sie habe aber immer gehofft, diesen Widerstand noch zu überwinden, und einzig aus diesem Grunde habe sie die Hochzeit von Monat zu Monat hinausgezogen, anstatt, wie es redlicher gewesen wäre, das Verlöbnis zu brechen. Sie habe sich dabei eben immer noch nach Rettung und Reinigung gesehnt.

Unterdessen war ihre Schuld vollkommen geworden. Orleans war kein Mensch, der auf halbem Wege stehen blieb, und sei er auch ohne seinen Willen auf diesen Weg geraten. Nun geschah das Erbärmliche, daß Philipp selbst in seine Geliebte drang, die Hochzeit zu beschleunigen, die ihm eine Verpachtung abnehmen sollte. Da hatte sich aber doch der im Grunde nicht unedle Sinn des Weibes empört. Sie hatte verstanden, daß sie eine Verlorene war und bleiben müsse, daß eine Ehe unter solchen Umständen nur verschärfte Qual und Schmach für sie bedeuten könne, und hatte vorgezogen, die über sie verhängte Strafe auf sich zu nehmen und damit wenigstens ihr Gewissen zur Ruhe zu bringen. Mit diesem Entschlusse, der wahrlich auch für eine tapfere Frau kein leichter sein mußte, hatte sie nun wieder wochenlang gerungen, bis endlich der Ausbruch meiner Leidenschaft ihn zur Reife gebracht. Sie war unmittelbar nach meiner letzten Unterredung zu Orleans gefahren, hatte sich feierlich von ihm losgesagt, ihn aller Verpflichtungen entbunden und hatte als letzte Pflicht und Gunst von ihm nur meine sofortige Entfernung verlangt, damit mir wenigstens der Anblick des über sie hereinbrechenden Gerichtes erspart bleibe. Dann war sie stolz und fest ihren Marterweg gegangen, der in einem Kloster einige Meilen vor Paris endigte. In diesem Kloster habe ich einige Jahre später durch die Gitterstäbe des Sprechfensterleins diese traurige Beichte ihr abgenommen.

Es waren wunderliche Gedanken, die mir beim Anhören dieser Geschichte durch den Kopf gingen, wunderliche Gedanken über den Zusammenhang der Dinge in dieser fürchterlichen Welt. Es war wohl begreiflich, daß diese beinahe unfaßbare Tragödie mich in allen Nerven erschütterte und daß ich in ihr gleichsam den Gipfelpunkt und Schlußakt sah, nach welchem alle früheren Ereignisse meines Lebens hingezielt hatten. Und welcher Hohn, welche perfide, berechnende Grausamkeit schien in dieser Folge, in diesem Aufbau natürlicher Entwicklungen zu liegen! Dazu hatte also der Mönch von Marlaigne mich vor den kußbereiten Frauen gewarnt, damit ich an einer kußscheuen meine Ehre einbüßen mußte! Dazu hatte Philipp mich von Kind auf zum Vertrauten seines ruhelosen Ehrverlangens gemacht, daß er mich an diesem Vertrauen in Schimpf und Spott leiten konnte! Dazu hatte ich mich selbst des tugendhaftesten Wandels befleißigt, daß eine Fallende nach dieser meiner Tugend als nach einem Felsen in brandenden Gewässern greifen sollte! Jeder einzelne Vorfall meines Lebens schien in dieser Kette von Verhängnissen mitzuzählen, alles, selbst der kleine Savoyarde, der mich seinerzeit zu Philipp zurück und in den Hofdienst geführt hatte, schien ein Teilchen der Schuld an diesem meinem Unglück zu tragen. Selbst Ninon klagte ich an, die diesen Savoyarden in ihrem Testamente vergessen hatte, selbst Regnard und mein süßes Benediktlein, denen zuliebe ich hinter dem verhexten Spielzeug hergejagt hatte, selbst jenen Februarabend im fernen Dämmer meiner Kindheit, an welchem ich das erstemal das lachende Gesicht des goldenen Goldschmieds im Fensterrahmen erblickt hatte. Ich war ein gebrochener und unglücklicher Mensch geworden – wenigstens mußten Monde und Jahre vergehen, ehe ich nach dieser Schmach wieder Lebensmut fassen konnte – und siehe! jeder einzelne kleinste Schritt meines Lebens hatte mit berechneter Sicherheit diesem Ende zugeführt. Noch einmal: ich war ein Narr der Liebe gewesen von meinen ersten Tagen bewußten Empfindens an, ein Narr meiner eignen Gefühle, ein Narr meiner besten Absichten! Und ich schwor mir ein für allemal zu und band mich mit den fürchterlichsten Eiden, von dieser Höllenalchimie der Gefühle, bei welcher mir Retorte um Retorte unter den Händen platzte, hinfort die Finger zu lassen.

Es versteht sich von selbst, daß ich Orleans und den Hof verließ und wieder Kriegsdienste nahm, was mir unter den mittlerweile eingetretenen Umständen auch nicht schwer wurde. Zwischen mir und meinem ehemals so angebeteten Freunde war kein Verhältnis irgendwelcher Art mehr möglich, wenn ich ihm auch nicht alle Schuld beimessen konnte an dem Verrat, den er an mir geübt. Er hatte sich so oft vor mir und andern über Rechtschaffenheit, Gewissen und Vertrauen lustig gemacht, hatte mir diese Eigenschaften, die er für Kinder der Dummheit erklärte, in früheren Gesprächen so häufig wie ebensoviele Abarten des Vorurteils, der geistigen Abhängigkeit vorgeworfen, daß ich ihn nicht einmal falsch nennen konnte. Außerdem hatte das Geständnis Fräulein von Vardes' selbst ihn in vielen Punkten entlastet. Dennoch konnte ich kein Herz mehr zu ihm fassen. Erst viele Jahre später, als ich denselben grauenhaften Zusammenhang der Dinge, dieselbe planmäßige Ausgestaltung der Tragödie auch in seinem Leben wahrnehmen mußte, als sein Ehrgeiz ihn in den Verdacht des Hochverrates, seine chemischen Studien in den des dreifachen Giftmordes gebracht, als er an seiner Tochter die Strafe seiner frivolen Lebensauffassung erleben – kurz! als er allenthalben die hundertfache Frucht der Schmach ernten mußte, die er gesät hatte: da habe auch ich ihn bedauert und ihm von Herzen vergeben.

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Anmerkung des Herausgebers

Das letzte der vorliegenden Kapitel hat der Herausgeber eigenmächtig aus zwei längeren heraus- und zusammengezogen, die sehr weitschweifig die Abenteuer des Hauptmanns von Roquesant in Spanien schildern; denn, wie jedermann sich wohl denken kann, hat der Herzog von Orleans seinen betrogenen Freund mit Aufträgen solcher Art nach Spanien geschickt, daß er dort festgehalten und in unzähligen und unsäglichen Verdrießlichkeiten von einer Ecke des Landes in die andre gejagt wurde. Die Ausführlichkeit, mit welcher Roquesant diese Erbärmlichkeiten schildert, auf der andern Seite aber die Hast und Flüchtigkeit, mit der er die Episode jenes seltsamen Brautstandes gleichsam nur hinwirft und förmlich in politischen Betrachtungen aller Art ertränkt und erstickt, beweisen zur Genüge, wie schwer noch nach Jahren, als er diese Erinnerungen schrieb, der doppelte Verrat an ihm genagt, auf ihm gelastet hat. Der Herausgeber hält sich nun wieder für berechtigt, den politischen Inhalt der besagten zwei Kapitel sowie der vier oder fünf folgenden in gedrängtere Form zusammenzufassen und mit dieser Inhaltsangabe die Brücke zu dem letzten Teile dieser Memoiren zu bilden.

Wie es scheint, ist Roquesants Expedition nach Spanien gerade in jene Zeit gefallen, da unter der Herrschaft der Camarera-Major, Frau von Ursins, der fürchterliche Mißbrauch mit Staatsgeldern getrieben wurde, den der französische Kontrolleur Puységur endlich aufdeckte. Da jene despotische Hofdame, die das junge Königspaar weit eigennütziger und weit ruchloser nach ihren Interessen leitet, als je Frau von Maintenon den König von Frankreich zu leiten versucht hatte, eine gerechte Heimsuchung von seiten König Ludwigs fürchtet, so läßt sie Post- und Personenverkehr an allen Grenzen des Landes scharf überwachen, und Roquesant, der nun endlich seine Geschäfte beendigt glaubt, muß, um seine vermeintlich hochpolitischen Depeschen nicht der Gefahr einer Abfassung preiszugeben, auf die Rückkehr nach Frankreich fürs erste verzichten. Erst als die allmächtige Camarera-Major für einmal gestürzt ist und sich mit kleinem Gefolge nach Alcala zurückziehen muß, gelingt es Roquesant, über die Grenze zu kommen. Kaum auf französischem Boden angelangt, hört er die Nachricht von der Unehre und dem Unglücke Fräulein von Vardes', die mittlerweile schon Zuflucht im Kloster gefunden hat. Den Zusammenhang nur ahnend, aber wahnsinnig vor Schmerz, wendet er sofort den Schritt ostwärts, dem Kriegsschauplatz der Rheinarmee zu, indem er seine Briefe durch einen Postkurier höchst sorglos und offen an Orleans sendet und zugleich ihm den Dienst kündet. Es scheint demnach nicht, als ob die Schriften des Herzogs gefährlichen Inhalts gewesen wären, denn trotz des bereits ziemlich entwickelten Spionagedienstes an der französischen Post hat man nie gehört, daß ihm aus der offenen Rücksendung dieser Papiere irgendwelche Unannehmlichkeiten erwachsen wären; vielmehr hat die Tragödie seiner Verschwörung um den spanischen Königsthron, bei welcher jener Engländer Stanhope die Rolle des Vermittlers zwischen Orleans und dem österreichischen Feldmarschall Starhemberg gespielt haben soll, erst fünf Jahre später eingesetzt.

Roquesant hat seine Habseligkeiten in Paris und St. Cloud, unter welchen sich natürlich auch jener kleine kunstvolle Savoyarde befindet, in Helvetius' Obhut stellen lassen und treibt sich nun jahrelang im wildesten Kriegsdienste umher. Den Memoiren liegt ein Brief von Helvetius bei, in welchem er verspricht, das Erbstück der Benedikte besonders wert zu halten, indem er dabei auf eine dahingehende Bitte Roquesants Bezug nimmt; es scheint also, als ob der Hauptmann in all seiner Verbitterung dieser einen Pflicht doch eingedenk geblieben sei, als ob er an diesem einen Bande noch mit seiner Jugend zusammenhinge. Alles, was sonst noch folgt, sind Schilderungen der Zeitereignisse, in denen der Mann, der die Freude am eignen Leben verloren hat, nun ganz aufgeht.

Es war unterdessen für Frankreich die Zeit der fortgesetzten und entehrenden Niederlagen herangekommen, die in Versailles vertuscht, entschuldigt, überschwatzt werden, deren furchtbare, warnende Meinung jeder versteht und doch keiner beherzigt, und die gelegentlich durch einen kleinen zufälligen Sieg, der unsinnig aufgebauscht und gefeiert wird, um ihre belehrende Wirkung betrogen werden. Roquesant erleidet alle diese Niederlagen in tiefstem Herzen mit, um so mehr, als er auch über die Vorgänge in Paris trefflich unterrichtet scheint und aus ihnen traurige Folgen für Frankreich erwachsen sieht. Im August 1704 steht er bei der Rheinarmee unter dem kurzsichtigen und prahlerischen Villeroy, erlebt die Niederlage bei Höchstedt und entgeht mit knapper Not der Gefangennahme; der Schilderung der wahnsinnigen und unfaßbaren Irrungen auf französischer Seite, der vollständigen Terrainunkenntnis zum Beispiel, die diese Katastrophe herbeigeführt hat, folgt ein Bericht, der Roquesant aus Paris übermittelt zu sein scheint, worin die Raserei des französischen Volkes, das mit Millionen Stimmen gegen seine unfähige Regierung schreit, in ernsten Ausdrücken beschrieben ist; mit dem erheiternden Zusätze allerdings, es sei die erbitterte Menge doch schließlich durch ein pompöses Feuerwerk, welches der König der Stadt Paris bieten ließ, besänftigt worden.

Unter Villeroy scheint Roquesant sich nicht haben halten zu können, denn 1706 finden wir ihn als Oberst in der Armee Marsins. Die Niederlage bei Ramillies mitzuerleiden bleibt ihm durch Villeroys Voreiligkeit erspart, der, dem ausdrücklichen Befehle des Königs entgegen, in Hast und ohne genauen Plan losschlug, ehe die Armee Marsins angerückt kam, nur in der dunkeln Absicht, den Sieg, den er sicher glaubte, mit keinem teilen zu müssen. Er trug denn auch ungeteilt die Schmach eines unglaublich beschleunigten Rückzuges, bei welchem Gent, Mons, Namur – kurz, die ganzen spanischen Niederlande und ein Teil der französischen mit solcher Leichtigkeit und so schnell in die Hände der Verbündeten fielen, daß jene selbst sich darüber wunderten. Wie es um jene Zeit im französischen Heere aussah, beweist eine Bemerkung Roquesants über eine gewisse Art von Nebeneinkünften, welche sich die Offiziere aus einer schlechten Aufstellung der Batterien zu machen wußten und die auch St. Simon in seinen Memoiren bei Gelegenheit der Beschreibung der verunglückten Belagerung von Barcelona, die ungefähr in die gleiche Zeit fällt, und alle ähnlichen Unternehmungen charakterisiert, mit folgenden Worten erwähnt: »Die Offiziere verloren ihre Zeit durch unnützes Hin- und Herschieben ihrer Artillerie und stellten ihre Batterien falsch auf, um sich selbst in die Notwendigkeit eines häufigen Platzwechsels zu versetzen, weil aus dieser Bewegung der Kanonen ein pekuniärer Vorteil für sie erwuchs, den sie recht froh waren zu vermehren.« Roquesants Bemerkung ist weniger deutlich, aber kräftiger im Ausdruck.

Wieder folgt ein Bericht aus Versailles, wo die Schreckenskunde von Ramillies zugleich mit der Meldung eintraf, der Graf von Toulouse habe die Belagerung von Barcelona aufgeben und hundert Stück Artillerie, 150 000 Zentner Pulver und ungezählte Vorräte von Mehl, Hafer, Bomben und Kugeln in die Hände der Feinde fallen lassen müssen. In Spanien wird Erzherzog Karl zum König proklamiert, Philipp V. sitzt in Verzweiflung in Pamplona. Und der nächste Absatz der Memoiren Roquesants berichtet auch noch den Verlust von Mailand, Neapel, Piemont und Mantua.

An dieser Stelle taucht nun zum ersten Male wieder der Name des Herzogs von Orleans in diesen Memoiren auf. Eine eigentümliche Empfindung diesem Manne gegenüber scheint Roquesant zu beherrschen. Gleich nach seiner Rückkehr aus Spanien hat das Gerücht ihm den Jugendfreund als den Urheber von Fräulein von Vardes Unglück bezeichnet, und Roquesant verriet durch seine sofortige Demission zur Genüge, daß er diesem Gerüchte ohne weiteres Glauben schenkte. Vielleicht hatte er auch Anzeichen, Bestätigungen, deren er in den Memoiren nicht erwähnt; die ganze Sache ist, wie gesagt, in höchster Flüchtigkeit gezeichnet, und der Name Orleans kommt in den nächsten Kapiteln einfach nicht mehr vor. Jetzt aber, wo der junge Herzog zum ersten Male in die Geschicke Frankreichs einzugreifen beginnt, wo sein Herzenswunsch sich zu erfüllen scheint, wo er keinen Geringeren als Vendôme, der zum Versuch einer letzten Rettung nach Flandern eilen muß, in der Belagerung von Turin ablösen und ersetzen soll, da richtet sich doch wieder die Aufmerksamkeit des Memoirenschreibers auf ihn.

Roquesant ist auch wirklich edel genug, um das Unglück Orleans' auf dem italienischen Kriegsschauplatze nicht mit hämischer Schadenfreude, sondern mit so tiefgehender Teilnahme zu beschreiben, daß man deutlich empfindet, der Patriot ist in diesem gutmütigen und lauteren Manne stärker als der Rivale. Daß Vendôme vor seinem Abgange noch in höchst sträflicher Gleichgültigkeit gegen eine Sache, »die ihn nichts mehr angeht«, den Prinzen Eugen über den Po gehen und alle französischen Schiffe nehmen ließ; daß Orleans diese ungünstige Lage der Dinge zusammen mit den unmöglichsten Aufstellungen der Armee vorfand; daß niemand auf seine Ratschläge hören will, daß seine Vorschläge in stummer Abwehr einfach ignoriert, seine Befehle nicht ausgeführt werden; daß er schließlich in rasender Wut die Armee verlassen will und nur durch die flehentlichen Bitten der Soldaten, die unter ihm endlich wieder zu Sold und Nahrung gekommen sind, zum Bleiben bewegt wird, das alles schildert Roquesant fast in Uebereinstimmung mit St. Simon. Abweichend von ihm aber stellt er einen Zusammenhang zwischen diesen Vorgängen und den letzten Akten der Unvorsichtigkeit, die Orleans in Paris begangen, her. Nicht genug nämlich, daß der Verblendete seine Beziehungen zu Fräulein von Sery, die der erste greifbare Anlaß zu seinem Zerwürfnisse mit dem Könige gewesen, wieder hergestellt hat; er hat sie auch öffentlich zur Mätresse erhoben, ihr den Titel einer Gräfin von Argenton gegeben, ihren Sohn anerkannt, ein ungeheures Besitztum ihr eingeräumt – und das alles vor seiner Abreise nach Turin, eben nachdem der König ihn durch die Ernennung zum Heerführer zu verpflichten glaubte. Und um die Sache komplett zu machen, war es um jene Zeit auch ruchbar geworden, daß Orleans im Hause dieser Frau seine Schwarzkunst in großem Umfange betrieb, daß er auch der Wahrsagerei beflissen und darin von ihr unterstützt wurde und daß Zeichen und Wunder unter seinen Händen ein Sterben in Versailles angekündigt hätten! Mehr bedurfte es nicht, um des Königs Erbitterung durch Furcht und Aberglauben zu verschärfen. Ein Wort des Hasses fiel gegen seinen Neffen und Schwiegersohn, und solche Worte haben in Versailles Flügel. Die Generäle Frankreichs waren vollendete Höflinge, die schnell ihre Beliebtheit bei König Ludwig zu befestigen glaubten, wenn sie Orleans in offenem Ungehorsam entgegenarbeiteten. Das Interesse der Armee und des Landes kam hierbei für sie nicht in Frage, da sie allesamt nichts davon verstanden. So mußte der unglückliche Herzog seine guten Absichten, sein besseres Wissen, seine Tüchtigkeit, seinen Mut an der niedrigsten Intrige zersplittern sehen, und Roquesant, der diesen Zusammenhang aufdeckt, fügt bedeutungsvoll eine Erinnerung an das Wort Beauvilliers' bei: »Die dreizehnte Fee!« Die dreizehnte Fee, meint er aber, sei nicht allein die Hofkabale, sondern mehr noch und in tieferem Sinne Philipps lasterhafter Wandel selbst. Und darin hat er wahrlich recht!

Es folgt die Beschreibung des Angriffs auf Turin durch den Prinzen Eugen, den Orleans' Ratschläge, wenn befolgt, hätten verhindern können; Unordnung, Ratlosigkeit, Flucht der französischen Generäle, die nur an ihre eigne und ihrer Habe Rettung denken. Orleans, obgleich verwundet, ist der einzige, der einen geordneten Rückzug organisiert, mit rührender Sorge seine eignen Mittel für die Truppen opfert, die La Feuillades Verrat ohne Lebensmittel gelassen hat, und sich keine Ruhe gönnt, bis das Wundfieber ihn niederwirft. Und wieder ruft Roquesant aus: »Welch ein Mann ist dies! Und welch ein König wäre dies! Aber – – die dreizehnte Fee!«

In Frankreich herrscht das bitterste Elend. Burgund verkauft die Edelsteine seiner Mutter und verteilt den Erlös an das hungernde Volk. Der König muß die Neujahrsgelder und Pensionen seiner Kinder herabsetzen. Trotzdem werden acht neue Kriegsschiffe gebaut und bemannt, der Krieg gegen das »formidable Triumvirat«, Marlborough, Prinz Eugen und den großen Politiker Heinsius, wieder aufgenommen. Orleans geht mit Berwick nach Spanien, wo unterdessen Frau von Ursins wieder zu Gnaden gekommen, Erzherzog Karl abgedankt und das junge Königspaar nach Madrid zurückgekehrt ist – Roquesant zählt die Ereignisse hier offenbar in Anbetracht der Bedeutung der handelnden Personen in dieser Reihenfolge auf! – und schlägt sich von Morgen bis Abend mit Unterschleif und Betrug herum. Roquesant steht in Vendômes Armee in Flandern, wo auch der Herzog von Burgund steht; er nennt Vendôme einen schmutzigen, frechen Epikuräer und schildert Burgunds Hilflosigkeit, der in seiner Reinheit unter dem zügellosen Pack der Offiziere wie ein Kind unter Bestien erscheint.

Roquesant, der die Leiden des sanften und guten Menschen ganz versteht, stellt hier Betrachtungen an, ob es für Volk und Heer ein Glück zu nennen sei, wenn ein zukünftiger Herrscher in solcher Arglosigkeit erzogen wird wie Burgund, der noch ganz die überirdische Seelenreinheit seines Lehrers, des Schwanes von Cambrai, besitzt. Er muß sich gestehen, daß der gewitzigte Orleans besser am Platze wäre als dies große Kind, das alle verspotten, das Vendôme anschreit wie einen Schüler, das mit Entsetzen die Verrohung, Trägheit und Schwelgerei um sich wachsen sieht, dessen Vorstellungen mit Gelächter aufgenommen werden und das seine Klagen bei Hofe nur mit der Zurechtweisung beantwortet sieht, er habe zu gehorchen, nicht zu kritisieren. Denn auch König Ludwig und selbst der eigne Vater Burgunds, der Dauphin, sind dem weltfremden Wesen Burgunds gegenüber ohne Verständnis, und Roquesant konstatiert traurig, daß Tugend im Uebermaße ebenso machtlos, ja überflüssig ist, ebenso verletzend wirkt, ebenso verhaßt ist wie das Laster. Orleans wurde vor Turin nicht gehorcht, weil der König ihn um seiner Laster willen haßte; Burgund wird in Flandern nicht gehorcht, weil der König ihn um seiner Tugend willen haßte; Roquesant zieht Vergleiche und Schlüsse aus diesen verwirrenden Umständen und gesteht, daß ihm zum erstenmal im Leben verständlich wird, warum das Gotteswort neben der Taubensanftmut auch die Schlangenklugheit gebietet. »Ich habe dieses eine Bibelwort nie leiden können,« schrieb er; »aber nun sehe ich: es ist wertvoller als alle andern.«

Es scheint zuerst, als ob das Glück sich Frankreich wieder zuwenden, als ob es selbst gegen den frommen Burgund zeugen wolle: im Juni 1708 zwingt Vendôme Gent zur Kapitulation, in feierlichem Einzuge nehmen die Söhne Frankreichs von der Stadt Besitz. In Fontainebleau, wo der Hof sich aufhält, herrscht ob dieser Nachricht wilde Freude; Fest auf Fest erhebt die Wiedereroberung der Niederlande; aber noch sind die letzten nicht verklungen, als andre Kunde zerreißend dareinfährt.

Der Herzog von Burgund und die meisten Offiziere des Heeres schlagen vor, die Schelde zu überschreiten, Oudenarde zu verbrennen und so dem anrückenden Feinde den Weg zu sperren; höchste Eile in der Ausführung tut not, denn Marlborough, der gerade dieses Manöver verhindern will, naht in Eilmärschen. Aber Vendôme hat in Gent Wein und Frauen gefunden, die nach seinem Geschmacke sind. Träge und sorglos verschiebt er den Ausmarsch von Tag zu Tag; die Offiziere, von seiner leichtfertigen Genußsucht gerne hingerissen, folgen seinem Beispiel: wozu sonst hätte man wohl die Stadt erobert? In dieser Gesinnung faßt keine Vorstellung Besserunterrichteter Boden. Als endlich Vendôme nach vielen Tagen, noch trunken von Schwelgerei, sich in Bewegung setzt, stößt er kurz vor Gent auf die ganze Armee Marlboroughs. Es erfolgt ein Zusammenprall, furchtbar, ungeordnet, verheerend für die überraschten Franzosen. Nichts bleibt als schleuniger Rückzug nach Gent, währenddessen der arme Burgund noch mit Vorwürfen von seiten Vendômes überschüttet wird, die er in heldenhaftem Schweigen hinnimmt. In Gent legt Vendôme sich zu Bett, da er »schlafbedürftig sei nach all dem Aerger«. Die Armee zieht ohne ihn weiter gen Lille.

Kurz darauf sitzt Vendôme wieder ebenso fest und faul in seinem Feldlager in Brügge, und die zweimalige Order des Königs, dem Feinde den Weg über die Schelde abzuschneiden, ersäuft im Wein. Ganz Paris und Versailles, jäh aus der Jubelstimmung eines vereinzelten Sieges gerissen, zittert und bebt, als ob der gefürchtete Brite auf die Tore der Stadt selbst zumarschiert komme. In den Kirchen wird öffentlich gebetet, wie vor großer Gefahr. Ein dritter, sehr ausdrücklicher Befehl des Königs veranlaßt einen Vormarsch der Armee bis Tournay. Chamillart selbst begibt sich nach Flandern und kommt mit hoffnungslosen Berichten nach Versailles zurück. Marlborough stehe bereits vor Lille, und zwar in uneinnehmbaren Stellungen. Freche Briefe Vendômes werfen alle Schuld der Verzögerung auf Burgund, für den keine Stimme sich erhebt als die schwache seiner kleinen Frau, die das erstemal in Tränen geht. Niemand aber ist im Zweifel über den Ausgang der Sache; bei jedem Hufschlage von draußen stürzt alles erbleichend und mit dem Ausrufe: »Lille ist gefallen!« an die Fenster, und der frivole St. Simon setzt eine Wette auf die Uebergabe dieser Stadt, ehe Vendôme zum Entsatz nur auf die Hälfte des Weges herangekommen sein würde.

In Lille macht der eingeschlossene Boufflers die heldenmütigsten Ausfälle. Aber die großen Aktionen schwächen die Garnison, es fehlt an Pulver, bald auch an Lebensmitteln. Am 23. Oktober muß Boufflers Lille übergeben. Marlborough geht dann ruhig weiter über die Schelde und bewerkstelligt diesen Uebergang ungehindert genau an dem Tage, an welchem ein prahlerischer Brief Vendômes in Versailles anlangt, in welchem er verkündet, durch welch ausgesuchte Tapferkeit und List er dieser äußersten Schmach vorgebaut habe. Gleich darauf muß General La Mothe, der mit Besatzung in Gent zurückgeblieben war, auch dieses wieder herausgeben.

So weit gehen hier Roquesants Aufzeichnungen über den letzten schmachvollen Versuch der Rückeroberung Flanderns. Auf dem dunkeln Hintergrunde dieser traurigen Zeitschilderungen erhebt sich indes leuchtend, wie mit Goldfäden eingewoben, die Geschichte seiner Liebe, von deren Vorstellung ich ihm auch kein Wort rauben will.


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