Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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8

Der gute Gott erhört glücklicherweise solche Gebete nicht; aber er gibt dem törichten Kinde, das über ein zerbrochenes Spielzeug weint, lächelnd ein neues, und meist ein schöneres in die Hand. So ist es auch mir gegangen.

Bereits den folgenden Tag wurde meine trübe Stimmung durch die Einnahme der Stadt etwas zerstreut. Freilich nicht mehr als zerstreut. Siegestrunkenheit lag uns allen fern, zur Begeisterung hatten wir herzlich wenig Grund; denn die Belagerung der Stadt war ohne große Taten auf beiden Seiten fast naturgemäß verlaufen, und die Uebergabe bedeutete für uns keinen Erfolg. Die Besatzung hatte sich ins Schloß Namur zurückgezogen, und dieses zu brechen war bei weitem der härtere und langwierigere Teil der Aufgabe, der wir uns unterzogen hatten. Ueber die Schwierigkeiten, die wir diesem bisher nie eroberten Felsbau, seiner günstigen Lage und vortrefflichen Versorgung gegenüber hatten, war kein Mensch in der Armee im Zweifel. Wir gingen deshalb allesamt mit feierlichen Gesichtern einher, die mehr versprachen, als unberechtigter Jubel verheißen hätte; wo zwei sich begegneten, tauschten ihre Augen denselben Gedanken aus: es wird Ernst.

Wie groß und unerhört aber die Mühsal sein würde, die unser wartete, und wie erniedrigend, aufreibend und unwürdig dazu, davon hatte keiner von uns eine Ahnung. Die nächsten Tage vergingen noch anregend und vergnüglich genug unter neuer, für die Belagerung des Schlosses zweckmäßiger Aufstellung der Armee, wobei wir freilich zu meinem inneren Verdrusse in ziemliche Nähe des Klosters Marlaigne zu lagern kamen, dessen Einsiedlerglöcklein wir nun in der abendstillen Luft zittern und schwirren hören konnten, als wir das erstemal in den neuerstellten Zelten zur Ruhe gingen. Die leisen Töne weckten mir nicht gerade liebliche Träume. Am Morgen darauf erwachte ich an einem wohlbekannten rauschenden Schwingen der Zeltwände, das von darüber niederströmenden Regengüssen herrührte. Von schlimmer Ahnung gefaßt, blickte ich zu einem einfarbig bleigrauen Himmel empor. Ein vorübergehender Soldat rief mir das Wort: »Sankt Medardus!« zu, und ich antwortete in ehrlicher Bestürzung: »Das kann gut werden!«

Den ersten Tag ging die Sache noch an. Der Boden innerhalb der Zelte war wenigstens noch trocken, Lagerstatt und Kleidung noch leidlich brauchbar. Aber bald drang die regengeschwängerte Luft in alle Winkel und durch alle Kleider bis in die Knochen der Menschen und Tiere. Aus Mänteln und Decken rieselte die Feuchte, Bettlaken und Matratzen strömten eine schauerliche Kälte aus, und des Nachts dampften sie dem Schläfer unter dem Leibe. Die Matten und Teppiche innerhalb der Zelte versanken im Schlamm. Draußen aber hatten sich die vielbetretenen Zeltstraßen in stehende Pfützen verwandelt, deren bräunliche Lache fortwährend durch den stets niedersausenden Regen gepeitscht und in einer lieblichen Kräuselung erhalten wurde. Wir suchten Bretter zu legen, die aber Tag um Tag wieder in der Flut versanken. Vor den Zelten des Königs und der Hofherren führten wir ordentliche kleine Dämme auf, überbrückten die bösesten Rinnen und hielten so wenigstens das Quartier der geheiligten Majestät einigermaßen trocken. Wo aber hätten wir Holz oder Steine, wo Hände zum Schaffen hernehmen sollen, hätten wir auch das übrige Lager so wohnlich erhalten wollen? Unsre armen Leute, die abends aus nassen Kleidern in ein nasses Bett, morgens aus einem nassen Bett in nasse Kleider schlüpfen mußten, hatten wahrlich der Arbeit genug. Da begreiflicherweise von einem Gebrauch der vorhandenen Karren nicht die Rede sein konnte; da auch sämtliche Pferde des Train und der Equipage bei weitem nicht zu allen Diensten genügten, welche diese ungünstige Wendung der Dinge erforderlich machte, so wurden doppelte und dreifache Anforderungen an die geduldige Menschheit gestellt, deren Leistungsfähigkeit allein in aller Unbill nicht versagen durfte. Täglich schleppten wir Säcke mit Munition oder Getreide von einem Ende des Lagers bis zum andern auf unsern Schultern, während wir knietief im aufgeweichten Lehm versanken und jeder Schritt uns die unsäglichste Mühe verursachte; und daß sich dieser Arbeit auch die verwöhnten Söhne vornehmer Häuser, ja selbst die Offiziere der Haustruppen zu unterziehen hatten, dafür habe ich die Gewähr eines Leidensgenossen, der eine bessere Feder führt als ich. Was es aber bedurfte, um die Schanzgräben vom Wasser frei zu halten oder gar eine im Schlamm versinkende Kanone auszuheben und an einen andern Ort zu bringen, davon redeten alle, die an der Sache beteiligt gewesen waren, noch nach zehn Jahren in den kräftigsten Bildern.

Das Unerträglichste aber, und weit schlimmer als die fortgesetzte Arbeit in Nässe und Regen, war der Ausfall ordentlicher Nahrung für Menschen sowohl wie für die Tiere. Korntransporte blieben stecken; Heu und Stroh ging in Fäulnis über; die armen Pferde streckten verhungernd ihre Hälse nach dem Buchenlaube des Waldes von Marlaigne; das Brot der Soldaten aber stellte in den meisten Fällen einen halbrohen, unverdaulichen Teigklumpen dar, denn auch die Feuer versagten allenthalben, weil keine brennbaren Stoffe mehr aufzutreiben waren. Die ganze Welt war eine trostlose und unübersehbare Schlammflut geworden, und es schien gar nicht unmöglich, daß sie sich wieder in den ursprünglichen Zustand zurückbegeben wollte, der da geherrscht haben soll, ehe das Wort des Herrn Wasser und Land geschieden. Nur das Schloß von Namur auf seinem Felssockel blickte unversehrt und in reinlicher Kompaktheit durch den ewigen Regenschleier zu uns herüber und hatte von der ganzen Sintflut, die uns zu ersticken drohte, nur gerade so viel behalten, als es brauchte, um unsre Geschosse unschädlich zu machen und unsern Aerger zu verschärfen.

Es wurde freilich die Stimmung im Heere während der ersten zehn oder zwölf Tage in einer zwar künstlichen, aber höchst glücklichen Steigerung erhalten durch die Betrachtung des heldenmütigen Beispiels, das den leidenden Soldaten ihr erlauchtester Leidensgefährte gab. Der König hatte, wohl wissend, was seine Anwesenheit in solchen Zeiten vermochte, bessere Quartiere verschmäht und blieb trotz seiner Gicht, die ihm die qualvollsten Stunden bereitete, im feuchten Zelte wohnen, oft bettlägerig, aber niemals untätig, vielmehr unter Schmerzen selbst mit der ganzen Kraft seines unermüdlichen Geistes an dem großen Werke beteiligt. Sein Eifer und seine Zuversicht, die ein Mann dem andern, bis zum letzten Trainsoldaten herab, übermittelte, besiegten eine geraume Zeit die Verdrossenheit der erschöpften Massen. Man hatte für den greisen Erzbischof von Bouillon sowie für den Pater Lachaise Unterkunft im Kloster Marlaigne erbeten und erhalten: ich habe Soldaten weinen sehen vor Freude darüber, daß der König für seine Person eine ähnliche, ihm gebotene Zuflucht ablehnte unter der tröstlichen Begründung, »es lohne ihm für wenige Tage der Umzug nicht«. Ob er diese Worte wirklich gesprochen, weiß ich nicht; Tatsache ist, daß sie im Heere umliefen und Wunder des Glaubens verrichteten.

Aber das Schloß widerstand, und die Belagerung zog sich hin. Wir waren am fünfzehnten Tage dieser trostlosen Periode angelangt, und eine Veränderung der Dinge war nach keiner Seite hin wahrzunehmen. Es goß noch immer in Strömen vom Himmel, auch wagte niemand mehr auf einen Wechsel des Wetters zu hoffen, denn jedermann kannte Sankt Medardus als einen besonders zuverlässigen Heiligen, der für vierzig Tage voraus das Wetter bestimmte und seit Menschengedenken dieses sein Amt mit der unerbittlichsten Konsequenz durchführte. Zu der fröhlichen Aussicht auf fünfundzwanzig weitere Regentage kam ein äußerer, wirklich beängstigender Zustand von Mensch und Tier, der alle Trostgründe entwaffnete. Pferde starben zu Dutzenden; Menschen gab es überhaupt nur noch mit geschwollenen und verbundenen Gesichtern, gichtgekrümmten Gliedern und heiseren Stimmen; sogar die Hunde des Lagers niesten zum Erbarmen. Begeisterung, die allen andern Mühsalen standgehalten hatte, vor dem Schnupfen ergriff sie die Flucht; und ein Grimm, furchtbar, glühend, zum Ausbruch drängend, nicht anders als der qualvolle Fieberkitzel der entzündeten Organe, bohrte und arbeitete in allen Gemütern.

Das Unglück wollte, daß ein umherschweifender Soldat in einer Kapelle eine Holzstatuette des heiligen Medardus fand. Was er sich gedacht haben mag, als er mit wütender Faust das Bild vom Altare riß, ist leicht zu erraten. Er eilte nach dem Lager zurück, trat in die erste Kantine ein, in welcher er ein Feuer lodern sah, und warf das ziemlich große Gebilde ohne weiteres in die Flammen, wo es dank seiner Trockenheit, die es im Schutz der Kapelle behalten, und einer dicken Schicht bunter Oelfarbe alsobald lichterloh brannte, so schön und warm, wie seit langem kein Heizmaterial mehr gebrannt hatte. Die Soldaten, welche in der Kantine beschäftigt waren, standen einige Sekunden schreckgelähmt und versteinert vor der unerhörten Tat, und man vernahm deutlich im weiten Raum die mit höhnischer Ueberlegenheit gesprochenen Worte des Frevlers, es sei nur billig, daß der Heilige, der an all diesem Elend schuld sei, nun auch einmal ein bißchen Wärme spende. Dabei hielt er ohne Scheu seine kälteblauen Finger über das brennende Märtyrerbild. Noch einige Augenblicke herrschte bange Stille, die nur das feine Knistern des flammenden Holzmännleins unterbrach. Dann aber hatte der böse Gedanke in allen Köpfen zugleich wie ein Blitzschlag gezündet, und ein Wutgeschrei erhob sich, daß man es bis weit über die letzten Verschanzungen hinaus hören konnte. Nicht gegen den Bilderschänder! Dem Heiligen selbst galt die Raserei! Die lästerlichsten Schmähworte richteten sich gegen das arme stumme Bild, das mit einem sonderbaren leeren und dabei doch ergreifenden Ausdruck über seinen Flammenmantel weg die rohen Hunde anstarrte, während von seinen Wangen die schmelzende Bemalung gleich dicken Tränen langsam herablief. Einige besonders Tolle bewarfen den Heiligen sogar noch mit Unrat; und endlich, da die Verbrennung zu langsam vonstatten ging, stießen sie noch mit Piken und Bratspießen in das Holz, bis der ganze Leib in ein Häuflein lodernder Klötzchen zusammenfiel.

Der Lärm hatte Zuschauer herbeigezogen, die Tat war unglaublich schnell im ganzen Lager bekannt. Und so heillos und sieggewaltig ist die Ansteckung des Wahnsinns, daß man an den folgenden Tagen im Lager fast nichts sah und hörte als solche Verbrennungen von Bildern oder Statuen des heiligen Medardus. Wo dieselben mit einem Male in solcher Menge herkamen, ist mir rätselhaft; die Soldaten müssen meilenweit gelaufen sein, um Wohnhäuser und Kapellen nach ihnen zu durchstöbern, und man berichtete von einzelnen wie von ganzen Rotten, daß sie mit der flämischen Bauernschaft Kämpfe geführt hätten um solch ein Heiligenbild, das sie ihrem Zorn nicht entgehen lassen wollten. Aber auch die unschuldigen Amulette, die gläubige Knaben auf ihren Herzen trugen, waren, sofern sie den unglücklichen Sankt Medardus darstellten, dem Verderben verfallen, und es erhob sich darob Uneinigkeit im Heere selbst zwischen jenen, die das Andenken einer segnenden Mutter, eines verehrten Beichtvaters nicht preisgeben wollten, und den verheerungssüchtigen Schandbuben. Und an diesem Punkte angelangt, wirkte der allgemeine Zustand wieder mit einer neuen Wendung auf mein eignes kleines Schicksal ein, als hätten all die unerhörten, schlimmen und verderblichen Dinge nur geschehen müssen, um mir das Tor zu einer neuen Lebensperiode zu öffnen. Ich war durch die Stauung einer Soldatenschar zwischen den Zeltreihen verurteilt, Zeuge eines brutalen Auftritts der zuletzt beschriebenen Art zu sein. Ein blondgelockter Junge, fast noch ein Kind, wehrte sich schreiend um ein winziges Amulett aus Rosenholz, und man hörte weithin über dem dumpfen Gröhlen der trunkenen Räuber seine kindliche Stimme gellen, die weinend immer nur die Worte wiederholte: »Von meiner Schwester! Von meiner Schwester!« Vergebens suchte ich mir Platz zu verschaffen, um dem gequälten Knaben zu Hilfe zu kommen. Wie ich mich gewaltsam strebend zwischen die Menge schob, vernahm ich plötzlich neben mir ein ruchlos höhnisches Wort, das dem Bedrängten galt oder vielmehr der angerufenen Schwester – ein Wort, das ich lieber nicht wiederholen möchte, in einer gleichmäßigen, kühlen Stimme gesprochen. Der Ton dieser Stimme durchzuckte mich nicht heißer als die Empörung über das schmachvolle Wort. Ich wandte rasch den Kopf und blickte in Philipp von Chartres' dunkle und unvergeßliche Augen.

Diese Augen nahmen alsobald einen sanfteren und beinahe traurigen Ausdruck an, als sie die Entrüstung in meinen lasen. Philipp erfaßte meinen Arm, und indem er mich aus dem Tumult hinwegführte, sagte er ernst: »Um deinetwillen ist mir leid, was ich eben gesprochen, und daß du es gehört hast. Denn du wirst nun schlimmer von mir denken, als ich es in der Tat verdiene!« Ich erinnerte mich der leichten losen Rede, die er schon als Kind besessen, und sagte kalt: »Ich sehe, daß Eure Hoheit noch unverändert Dieselbe ist und daß man Sie immer noch nicht nach Ihren Worten beurteilen darf.« Da zog er eine kleine Grimasse, die mir weh tat, und sagte: »Es ist gut, daß es wenigstens einen Menschen gibt, der das weiß.« Er nahm mich hierauf mit nach seinem Zelt, ließ ein Feuerbecken bringen, um uns zu wärmen, und kredenzte mir Wein. Wir saßen eine geraume Weile schweigend einander gegenüber und schienen beide gleich aufmerksam auf das feine Knistern des verglühenden Holzes im Becken und auf das leise Rieseln des Regens an der Zeltleinwand zu lauschen. Ich fühlte, daß Philipp mich fortgesetzt forschend anblickte, fühlte auch, was er von mir erwartete; doch war es mir in diesem Augenblick unmöglich, den Mund aufzutun.

Es schien mir nämlich, ich hätte mit meiner vorher erwähnten Antwort, man dürfe den Mann nicht nach seiner Rede beurteilen, der Eigenliebe des Fürstenkindes bereits über Gebühr geschmeichelt. Um nichts in der Welt hätte ich, wie es ein Speichellecker getan haben würde, seiner Ruchlosigkeit applaudieren oder auch nur mit einem Lächeln sie entschuldigen mögen, trotzdem ich sah, daß der Verwöhnte auf eine derartige niedrige Dienstfertigkeit mit einiger Unruhe wartete. Ich glaube, daß in dieser Minute die Skepsis, die Germaine mir unbewußt eingeimpft, vielleicht auch die bittere Bestärkung, die diese meine Menschenverachtung durch meine letzten Erfahrungen erhalten hatte, ihre Früchte trug. Ich sah, was mir vielleicht ohne diese Vorbereitung entgangen wäre, und sah es mit tiefem und echtem Schmerz: daß dieser feine und schöne Jüngling, der Neffe des Königs und Stolz des Hofes, dieser glänzende, reichbegabte und kultivierte Geist einer Roheit fähig gewesen war, die ihn, für einen Augenblick wenigstens, auf eine Stufe stellte mit den verworfensten und übelsten Elementen des Lagers. Und ich grübelte, der Anwesenheit meines Gebieters und des Ortes, wo ich mich befand, vergessend, über die heute noch von mir ungelöste Frage nach: welchen äußeren Anzeichen eigentlich bei der Beurteilung eines Menschenwesens mit Sicherheit zu trauen sei?

Wie immer in solchen Fällen, so löste auch hier die Schweigsamkeit des einen Teiles die Beredsamkeit des andern aus. Philipp mag durch meine Unbestechlichkeit gereizt worden sein, er mag ein natürliches Unbehagen, einen Rest von Scham empfunden haben über den Vorfall – kurz, er begann plötzlich sich selbst zu entschuldigen, und zwar nach Art unfertiger Menschen, indem er die Schuld nach Möglichkeit auf andre warf und eine tragische Nuance in seine Schlechtigkeit zu bringen suchte. Er redete viel von der hohlen Heuchelsucht des Hofes, besonders der führenden Personen, und stellte seine eigne offenkundige Freude an frevlerischen Handlungen nur als eine natürliche Folge des Ekels dar, den jene Frömmelei ihm einflößte, und als eine männliche Demonstration gegen dieselbe. Er fühlte sich, so sagte er, durch all das seichte Komödienspiel um ihn herum fortwährend zu Dingen gereizt, die ihm sonst ferne genug lägen, und die er nur in der Absicht vollbringe, sich von jenen Heuchlern zu unterscheiden und sie zu erbittern. So nähme er zum Beispiel in die Messe, die er leider besuchen müsse, lasterhafte, aber geistvolle Bücher mit, in denen er auch statt eines Gebetbuches lese und zwar so, daß die Umstehenden es sehen müßten. Wenn man ihn darob zur Rede stellte, so habe er die Antwort bereit, dies sei immer noch besser als der Austausch von Blicken und Briefchen zwischen Rittern und Damen, den gerade die Frömmsten sich gestatteten, ohne zu finden, daß die Kapelle ein ungeeigneter Ort dafür sei. Er prahlte zum Schlusse noch mit seiner allgemeinen Unbeliebtheit bei Hofe, die er mit seiner Mutter, die auch keine Kriecherin sei, teilte, und besonders mit dem Zorne des Königs, den er bei hundert Gelegenheiten zu tragen hätte. Ich war damals noch jung genug, um mich durch diese Worte blenden und fangen zu lassen, um so mehr, als etwas Dunkles in meiner eignen verwirrten Seele ihnen zustimmte. Ich kannte damals Beauvilliers noch nicht, wußte also auch noch nicht, daß schlichte Tugend und echte Frömmigkeit einer solchen Demonstration gegen das Laster nicht bedürften, sondern still und unbeirrt inmitten eines Pfuhles von Heuchelei blühen und ihr segensreiches Wirken entfalten können; wußte damals noch nicht, daß wirklich gute Menschen das Böse nicht durch Haß, sondern durch Liebe bekämpfen. Deshalb erschien mir Philipp von Chartres wie ein Held und Streiter für die Wahrheit, und es gelang ihm, mich unverweilt und ganz wieder zu gewinnen, meine Liebe für ihn bis zur blindesten Ergebenheit zu entflammen und den Eindruck zu verwischen, den die Szene im Lager in mir hinterlassen hatte. Leider sollte sie mir später noch oft wieder lebendig werden. Von nun an war, trotz des weiter herrschenden Elendes, das Leben im Lager ein andres für mich geworden. Mein Herz hatte wieder etwas gefunden, woran es sich berauschen konnte, und zwar muß ich sagen, daß es trotz der Verkehrtheit meiner Ideen eigentlich ein edler Rausch war, worein mein ehemaliger Gespiele und seine wunderliche Philosophie mich versetzt hatte. Es erschien mir gar keine unwürdige Aufgabe, meinem Philipp in seinem Kampfe gegen die Heuchelei zu sekundieren. Ich faßte die allerschönsten Vorsätze zu diesem Zwecke und bedauerte einzig, nicht gleich auf der Stelle damit anfangen zu können, denn im Lager, wo jeder einzelne Mann sich von seiner tüchtigsten und natürlichsten Seite zeigte, war in der Tat wenig Gelegenheit, solch ein Richteramt auszuüben. Wohl oder übel mußten wir unsre moralischen Heldentaten bis zu unsrer Rückkehr nach Paris verschieben. Unterdessen vertrieben wir uns die Wartezeit damit, daß wir möglichst oft zusammenkamen, um im Dämmer des Zeltes, im Rauchschleier, der dem Feuerbecken und Philipps Pfeife entstieg, beim Rauschen des Regens von der Schlechtigkeit der Welt zu reden und uns unsrer eignen Vollkommenheit zu freuen. Manchmal spielten die Geschütze auf den Schanzen einen tiefen Baß zu unsrer Melodie, so daß wir unsre Stimmen erheben mußten; manchmal zitterte durch die feuchte Luft das Vesperläuten der Einsiedlerglöcklein von Marlaigne, dann sank meine Stimme zu einem verlegenen Flüstern herab und manchmal verstummte sie ganz vor diesem warnenden Ton, der leise mahnte: »Auch du kannst fallen!« Aber im allgemeinen ging sie frisch und scharf zu Felde und hätte sich, traun! am liebsten rund um den Erdball herum hören lassen. So schwelgten wir in jenem verderblichen Gefühle der Selbstgerechtigkeit, das die Jugend gern befällt und das allemal einer moralischen Schlappe vorangeht, jener sprichwörtlichen Blindheit, welche die Götter in bekanntem Falle senden.

Natürlich tauschten wir nebenher auch unsre Erlebnisse aus, von jenem Tage beginnend, wo wir uns das letztemal gesehen: und das war der denkwürdige unsrer Eskapade nach den Porcherons. Philipp fragte bei erster Gelegenheit nach Regnard und Germaine, und ich erzählte ihm mehr als einen Abend hindurch, was ich von beider Leben und Wesen wußte und was mich anzog oder befremdete. Er schien eine gewisse Neugier nach dem wundersamen Paare immer noch in irgendeinem Winkel seines Herzens verborgen gehalten zu haben, denn er wurde des Zuhörens und Fragens so wenig müde wie ich des Erzählens. Er lachte, als ich ihn kindischerweise versichern zu müssen glaubte, Germaine sei wirklich keine Zauberin im landläufigen Sinne, obschon eine gewaltige in einem andern; von solchen Märchen, sagte er, sei er längst weit entfernt, wenn er auch zugeben müsse, daß er an eine direkte und unheilvolle Beziehung gewisser Menschen zu irgendeiner dämonischen Urgewalt, etwa den Teufel, fest und unverbrüchlich glauben müsse. Diesen Beziehungen auf die Spur zu kommen sei sein heißester Wunsch. Ich fragte ihn, wodurch denn ein solcher Glaube in ihm genährt worden sei, worauf er schweigend eine Handvoll Schießpulver auf den Tisch schüttete und mich fragte, ob ich im Ernste meinen könne, es wohne diesem elenden Staube die Kraft inne, Mauern zu zerstören und Menschen in Stücke zu reißen, wie wir es sattsam gesehen hatten. »Gib zu, daß das verwirrend ist,« sagte er. »Sieh, wie winzig sind diese Körnchen, und was leisten sie! Und diese unerklärliche Gewalt, die niemand versteht und die in keinem Verhältnis steht zu dem Dinge, dem sie innewohnt, ist der beste Beweis für das Vorhandensein eines Wesens, das größere Wunder vollbringt als Gott selbst, diesem zum Trotz und gleichsam vor der Nase weg. Denn du wirst mir doch nicht sagen wollen, daß Gott diese schwarze Materie erschaffen hat, wennschon ein Mönch sie produziert hat. Oder vielmehr wäre dies letztere eigentlich der beste Gegenbeweis.«

»Du meinst also, der Teufel, oder wie du das Wesen nennen willst, von dem du sprichst, habe sich dem Mönche persönlich offenbart?«

»Sicherlich! Und da offenbar Mineralien, als urirdische Stoffe und aus dem Innern der Erde stammend, noch einen leisen Zusammenhang mit jenem Wesen behalten haben, so habe ich begonnen, Chemie zu studieren, und zwar jenen Teil der Chemie, der sich mit Salzen und Säuren befaßt, die ja schon in ihrer Wirkung den Ursprung von dem Vater alles Feuers verraten!«

Ich wäre bei dieser Offenbarung fast rücklings vom Stuhle gefallen, denn ich besaß noch jenen gesunden Respekt vor der Wissenschaft, der einem Kinde der heiligen Kirche zu jener Zeit innezuwohnen pflegte. Chemie war mir gleichbedeutend mit Giftmischerei, und ich saß und schaute entgeistert dem Tun meines Freundes zu, der nun einer Kiste in einem Winkel des Zeltes eine Reihe von Büchern entnahm, die er vor mir auf dem Tische aufgeschlagen ausbreitete. Es lagen Lesezeichen zwischen vielen Blättern, und Philipp brauchte nur eine leichte Bewegung seines Fingers zu machen, so wendeten sich, wie es mir schien, die Seiten von selbst, um eine Menge wunderlicher und krauser Zeichnungen darzulegen, die ich im flackernden Scheine der Oellampe zu unsern Häupten wie lebendig durcheinander laufen zu sehen glaubte. Dazu las Philipp mit flüsternder Stimme Worte, von denen ich nicht das hundertste verstand und die so viel Latein enthielten, daß sie einer Beschwörung zum Verwechseln ähnelten. Seit jener Nacht auf dem Pont d'Arcans hatte ich eine unheimlichere Situation nicht erlebt, und ich erröte nicht, zu gestehen, daß ich vor Angst bis an die Zähne fror. Hätte diese Lampe, die ihre magischen Kreise über die Bücher mit den Wunderzeichen warf, nicht zugleich auch Philipps angenehmes und reizvolles Gesicht beschienen, sein weiches Lächeln, das in so seltsam fesselnder Art dem flammenden Blick seiner Augen widersprach; wäre es nicht seine warme, schöne, fröhliche Stimme gewesen, die all das ruchlose Zeug las, ich hätte ganz gewiß Fersengeld gegeben und das Zelt, das mir wie eine Hexenküche vorkam, gemieden. Zum Glück studierte Philipp seine Wissenschaft nur aus Büchern, so daß es wenigstens keine Zaubergeräte im Zelte gab. Aber auch so machte sie mir schon genug Herzklopfen, während jener je länger je mehr sich in Eifer las und mich bald von nichts anderm mehr unterhielt als von neuen inhaltschweren Sätzen, die er in diesem oder jenem Werke gefunden. Nach einer Reihe von Tagen hatte ich mich daran gewöhnt, ohne freilich mehr von der Sache zu verstehen als zuvor, und meine Liebe zu Philipp machte es mir sogar möglich, ihm mit scheinbarer Teilnahme zu folgen und mich über einzelne Dinge belehren zu lassen. So vergingen für mich die zweiten vierzehn Tage der Belagerung so ganz im Banne von Philipps Persönlichkeit, daß alle eignen Interessen dagegen in den Hintergrund traten. Als die Stadt endlich ihre Tore öffnete und wir, immer noch unter Regenschauern, in die eroberte Festung einzogen, da war ich ein andrer als jener, der in hellem Sonnenglanz, aber mit Schwermut im Herzen, von Mons abgeritten. Ein neuer Gedankenkreis hatte sich mir aufgetan.


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