Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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12

Ich bedurfte einiger Monate, um mich von dieser verunglückten Brautschau zu erholen, denn ich war natürlich nun fest überzeugt, daß ich ein für allemal zum Narren der Liebe geboren sei und nichts Besseres tun könne, als zeit meines Lebens allen Weibern aus dem Wege zu gehen. Zu allem Unglücke schleppte sich der Winter auch noch in äußerster Langeweile hin. Nichts Großes ereignete sich, das die Seelen über die Grenzen des Irdischen hinaus- und emporgehoben hätte. Bei Hofe sprach man immer noch von nichts anderm, als von den Zwistigkeiten Monsieurs mit seinem königlichen Bruder, deren Gegenstand natürlich Chartres war. Dieser hatte mit Fräulein von Sery gebrochen und lag nun in den Armen einer Schauspielerin namens Florence, und die Herzogin, seine Gemahlin, mußte dankbar sein, daß wenigstens die Schmach sich nicht mehr unter ihren Augen breit machte. Nun war Chartres wieder oft und lange in Paris, und ich mit ihm. Unfähig, seine Lebensart zu teilen, suchte ich Helvetius wieder auf und jene Käufer, in denen der Geist Fénelons und der Frau Guyon noch lebendig war. Diese kleine Herde hielt immer noch treu zusammen, und da unter den stillen Träumern auch einige recht belesene Jansenisten sich befanden, so drang bald ein Geist der Kritik in die friedlichen Zusammenkünfte ein. Das einzige, was jene Quietisten mit den Jansenisten gemein zu haben schienen, war der Glaube an Wunder; und freilich ist dies ein Gegenstand, der auch von Ungelehrten und Unbelesenen diskutiert werden kann. Ich machte bald die Wahrnehmung, daß in unsern Versammlungen, die indes selten die Zwanzigzahl überschritten und durchaus den Charakter harmloser Geselligkeit wahrten, gleichsam zwei Lager sich bildeten, unabhängig von Sektenzugehörigkeit und nur durch eine Voraussetzung bestimmt: Rings um den Tisch, im hellen Scheine der Kerzen, pflegten, die Pfeife im Munde, die Männer der Wissenschaft, die Gelehrten und Philosophen zu diskutieren; Bücher lagen aufgeschlagen da, Sätze wurden verglichen, Latein rollte donnernd einher, Namen heiliger Kirchenväter fielen, von Faustschlägen auf den Tisch begleitet; abseits aber, im Dämmer eines Erkers, durch dessen Fenster etwa der Mond schien, saßen wir, die keine Bücher lasen und von theologischen Spitzfindigkeiten nichts verstanden; unsre Gruppe setzte sich zu zwei Dritteln aus Frauen zusammen, und gestritten wurde da nur mit dem süßen Gefühl, und als Belege galten eigne Glaubenserfahrungen, Offenbarungen und Wunder, wie jedes Herz sie erlebt. Es gab einige Männer darunter, die Zeugen solcher Heilungen gewesen sein wollten, wie sie in Port Royal geschehen war; von der Kraft des Gebetes wurde viel gesprochen, von unerhörten Seelengewalten begnadeter Menschen, von geheimnisvollen Beziehungen zwischen Gott und seiner Kreatur. Ich lauschte und sprach, und der Rausch jener tiefsten aller Leidenschaften erfaßte mich wieder. Wer ihn nicht kennt, wird mich nicht verstehen.

Nun ist es eine Erfahrung, die wohl jeder macht, der in freiem Kreise irgendeinen allgemeinen Satz diskutiert: jeder der Anwesenden will ein Beispiel für oder wider erbringen, einer überbietet den andern, und bald ist niemand mehr in der Gesellschaft, der nicht etwas zur Sache Gehöriges erlebt hätte. Träume und ihre Erfüllungen, Totenerscheinungen und mitternächtige Warnungen schienen alltäglich geworden zu sein. Es gehörte zu den Forderungen, die man an jeden gesitteten Menschen stellte, daß er mindestens einmal im Leben durch ein Wunder von sicherem Tode oder, was noch besser wirkte, vor irgendeiner großen Sünde bewahrt worden sei, und die Zeichen vom Himmel blühten wie in biblischen Tagen. Draußen aber brausten die Februarstürme durch die Straßen von Paris, daß die Reverberen an ihren Seilen schaukelten und flackerten, krachend zu Boden stürzten und verloschen; und wohlige Schauer zogen durch die Gemüter der Geborgenen im warmen Gemache.

Nun bemerkte ich aber seit einiger Zeit unter uns eine Frauensperson, die sich jeder derartigen Erzählung enthielt, schweigend dasaß und nur mit um so größerer Aufmerksamkeit zu lauschen schien; besonders, wenn von Gebetsheilungen oder Wundern an todgeweihten Kranken die Rede war, hing sie mit einem Ausdrucke an den Lippen des Berichterstatters, der mich zuerst erstaunte, dann irritierte, endlich mir ins Herze schnitt; denn man konnte ihren Mienen und einzelnen schüchtern und hastig hervorgestoßenen Fragen wohl entnehmen, daß sie auf ein derartiges Wunder in hoffender Sehnsucht und zitternder Angst warte. Es war eine Bürgersfrau von gutem Ansehen, in mittlerem Alter und von jener gewissen schlichten Würde, wie sie tiefbetrübten Menschen meistens eigen ist, und ihr Wesen allein brachte mich auf den Gedanken, daß ihre Sorge einem schwerkranken Gatten und Ernährer oder gar einem verlorenen Kinde gelten müsse. Auf nichts Geringeres konnte ich den Schmerz in ihrem sanften Gesichte einschätzen. Ich hatte auch ganz richtig geraten. Denn einmal, als das Wunder von Port Royal wieder besonders eingehend besprochen und beleuchtet wurde und die arme Frau darüber in Tränen zerstoß, trieb mich das Mitleid, sie nach dem Grunde ihres Jammers zu fragen. Da erfuhr ich denn, daß sie eine schwerkranke Tochter von sechzehn Jahren habe.

Ich war damals so sehr im Banne des Geistes, der uns alle erfüllte, daß ich der Frau keinen andern Rat geben konnte, als mit verdoppeltem Gebete und unerschütterlichem Glauben vor Gott zu beharren, bis er das ersehnte Wunder täte. Die Frau gab mir damals eine Antwort, die darauf schließen ließ, daß sie solche Frömmigkeit einem Krieger und Hofmanne hoch anrechne; sie muß nicht viele derart gekannt haben. Ich habe immer gefunden, daß die Wildesten, Leidenschaftlichsten und Sinnlichsten unter uns auch die eifrigsten Beter waren, die gläubigsten Verkünder süßer Offenbarungen, die Furchtsamsten vor Gott und der Kirche; und unser glorreicher König selbst war ja ein Beispiel zu besagter Regel. Ich war der Mäßigen einer auch hierin.

Darum geschah es denn bald, daß meine Zuversicht der Wirksamkeit des Gebetes gegenüber leise zu schwanken begann, wenn ich das traurige, immer gleich hoffnungslose Gesicht der Mutter erblickte, und daß der ruchlose Gedanke in mir aufstieg, es könne da am Ende doch ein tüchtiger Arzt nützlicher sein als der ferne Gott. Als ich der Frau diese meine Ansicht das erstemal mitteilte, erschrak sie beinahe, ließ sich aber doch gerne und verhältnismäßig bald überzeugen. Wir wollten ja hinterher Gott redlich Preis und Dank zollen und ihm allein die Ehre geben, wenn der Arzt geholfen hätte. Gerade in die Zeit dieser Erwägungen fiel es nun, daß der Herzog von Beauvilliers, wie ich bereits erwähnt habe, todkrank von Spanien zurückkehrte und von Helvetius zum Staunen aller Aerzte – böse Zungen behaupteten sogar, zum unverhohlenen Aerger Fagons! – in wenigen Wochen dem Leben wiedergegeben ward. Dies nahmen wir, da nun einmal etwas Uebernatürliches durchaus dabei sein mußte, als einen Wink von oben und beschlossen, uns an Helvetius zu wenden.

Ich übernahm es, den Mann aufzusuchen und nach dem Hause der Frau zu geleiten. Als er aber an das Lager des Mägdleins trat, da sah ich zum erstenmal sein gutmütig-mürrisches, rotwangiges Gesicht sich verändern. Er lächelte das Kind an, ganz eigentümlich zärtlich und traurig, liebkoste sein Händchen und redete von baldiger Genesung. Ein bestimmtes Gefühl sagte mir hierbei, daß auch dieser zuversichtliche Mann in diesem einen Falle einem Mächtigeren gewichen sei; auch Helvetius hatte keine Hoffnung mehr.

Ich war am Fußende des Bettes stehen geblieben und schaute das Mädchen an, während Mutter und Arzt sich neben ihm beschäftigten. Laie wie ich war, verstand ich den Fall; das war die tückische Krankheit, die ihre Opfer mit Rosen schmückt, die ein helleres Licht in ihren Augen entzündet, wärmere Lebensfreude in ihr Blut zaubert und sich nur still, heimlich und atemraubend auf ihre Brust legt, wie ein Vampir unter Liebkosungen eine Seele aussaugt. Wenn man den leisen Husten nicht hörte, der das Kind würgte, so mußte man es für gesund halten in seiner leuchtenden Fieberschönheit. Und es war offenbar, daß das junge Wesen selbst sich dafür hielt; denn während Arzt und Mutter sich flüsternd berieten, nickte es mir sorglos über die Länge des Bettes weg einen Gruß zu und blinzelte verschmitzt mit den Augen nach jenen beiden hin. Ich trat näher und beugte mich über sein Lager, weil mir war, als wolle es etwas sagen. Da flüsterte es rasch: »Es fehlt mir nichts! Mutter ist nur so ängstlich! Alte Frauen sind immer so wunderlich!« Und ich – was sollte ich tun? Ich ging halb unbewußt auf den schelmischen Ton des Kindes ein, spottete über das Unwesen von Aengstlichkeit, das alle Mütter mit ihren Kindern trieben, bat aber die Kleine doch, um jener zitternden Mutterliebe willen die Kluge und Nachgiebige zu spielen und sich den Anordnungen des Arztes gehorsam zu zeigen. Sie lächelte verständnisvoll und versprach es. »Natürlich tue ich ihr den Willen,« sagte sie mit ihrem tonlosen Stimmchen, »weil sie sonst stürbe vor Sorge. Auch wird es mir nicht schwer, im Bett zu liegen, denn wenn ich aufstehe, bin ich immer so müde. Ich bin eine große Faulenzerin. Aber krank bin ich nicht.«

Dessen versicherte ich sie nun auf das nachdrücklichste, und es schien sie zu freuen. Wir plauderten noch einige Minuten, dann brach Helvetius auf, und ich folgte ihm. Die glänzenden Augen der kleinen Susanne schauten mir nach mit einer warmen Bitte um Wiederkehr.

Diese Bitte wiederholte nach einigen Tagen die Mutter in sichtlicher Verlegenheit. Susannen habe es mein buntes Kleid angetan, erläuterte sie selbst tief errötend, sie frage immer nach Hofsitten und Hofgeschichten, und da die Mutter ihre Neugier nicht befriedigen könne, so rede sie zuviel und errege sich über Gebühr. Ich versprach schnell, zu jeder beliebigen Stunde kommen und alles auskramen zu wollen, was ich an Festen, Maskenbällen, Kleiderpracht und Schmuck der königlichen Gemächer je erlebt, um diese echte kleine Pariser Bürgerin zu befriedigen. Ja, ich überlegte mir auf dem ganzen Wege zu ihr noch ernstlich, was für Farben etwa diese oder jene große Dame getragen, wie die spielenden Bilder der Feuerkünste in den königlichen Gärten einander gefolgt seien und welche Gerichte auf die Tafel gesetzt zu werden pflegten, nur um recht eingehend schildern zu können. Ich ertappte mich dabei auf großer Unwissenheit, so wahr ist es, daß wir meist mit geschlossenen Augen dahinleben. Aber ich dachte, ein wenig Phantasie sollte mir wohl aushelfen.

So war es denn auch, und was habe ich dem sterbenden Kinde da nicht alles erzählt! Von allen Großen des Hofes, vom Könige selbst, von der lieben Herzogin von Burgund, von Monsieur, der immer von Bändern förmlich flatterte und von Diamanten funkelte; von den Prinzessinnen, die heimlich in ihren Zimmern Pfeife rauchten und dafür vom König gescholten wurden; von der furchtsamen Prinzessin Harcourt, die morgens in ihrem Bette mit Schnee beworfen oder in ihrer allerzierlichsten Reverenz durch das Explodieren einer Knallerbse unter ihrem Reifrocke gestört wurde; vom Dauphin, dem die Weiber der Halle ein Genesungsständchen gebracht und der ihre Sprecherin dafür auf den Mund küßte; von den Schokoladekisten des Jesuitengenerals, an deren Inhalt sich naschende Packträger die Zähne ausgebissen, weil die Tafeln inwendig aus massivem Golde bestanden; von der Gräfin Fiesco, die ein Landgut verkauft hatte, um für den Erlös einen tadellosen Spiegel zu erstehen; von Frau von Navailles, der letzten Frau in Frankreich, die noch eine Witwenbinde trug, und tausend ähnliche Dinge. Ich hatte vorsichtig zu wählen, denn da, als ich in Korridoren und Gardenstuben den Klatsch aufgelesen und gesammelt, hatte ich nicht bedacht, daß ich diesen am Lager eines unwissenden Mädchens verwenden würde; und ich hatte das Gewählte eingehend zu überdenken, denn meine Zuhörerin verhörte peinlich über alle Einzelheiten. Es geschah einmal, daß ich mich an den Kämmerer Siguin machte und mir die Garderobe des Königs zeigen ließ, da ich denn vergessen hatte, was für Knöpfe er an einem violetten Samtwams getragen, als er der Königin-Witwe von England in St. Germain einen Kondolenzbesuch gemacht.

Wenn ich erzählte, saß ich dicht neben Susannens Bett und stützte nicht selten meinen Arm auf das Kissen, auf dem ihr blonder Kopf lag. Ihre dunkelblauen Augen leuchteten zu mir empor, die Fieberrosen ihrer Wangen glühten und blühten, leise streifte ihr heißer, unruhiger Atem meine Wangen. Aber ihr hellroter Mund lächelte, und schwieg ich einmal still, so flüsterte sie: »Weiter, weiter!« Und ich erzählte unermüdlich.

Es begann indes schon nach kurzer Zeit an mir zu nagen, daß ich die Seele des sterbenden Kindes mit solchem Kram sättigte, und Helvetius' Kopfschütteln, als er mir einmal lauschte, ging mir zu Gewissen. Vorsichtig begann ich bald da bald dort andre Bilder einzuschieben und war erfreut, daß sie Susanne nicht verwarf. Mir schien es, ich könne diesen jungen Geist nicht so lebensfremd hinweggehen lassen aus dieser ernsten Welt hinüber in eine ernstere vielleicht. Sollte sie den Schauer nicht gekannt haben, den wir alle einmal empfinden, wenn wir zum erstenmal das Antlitz der Schicksalsgöttin sehen? Sollte sie sterben, ohne zu wissen, was der Tod sei? Vielleicht wäre es barmherziger gewesen. Ich aber dachte mir: »Wenn du drüben anlangst, Susanne, wirst du da weiterlernen müssen, wo du hier aufgehört hast. Du weißt aber nicht das Alphabet des Lebens. Einige Buchstaben will ich dich wenigstens noch lehren, damit du nicht gar so unwissend vor deinen Schöpfer trittst.«

Jetzt trat ein ernster Unterricht an die Stelle des frivolen Geplauders. Zwar hütete ich mich, Schreckensbilder zu beschwören, aber alles, was groß und streng und tüchtig war, rief ich auf, damit die kleine dunkle Seele da den Begriff Leben noch einmal in seiner furchtbaren Schönheit erfasse. Wenn ich von Kriegen sprach, zählte ich die Toten nicht auf, malte nicht die Brandröte zerstörter Städte; aber von langen Märschen in Winternächten oder in Sonnengluten sprach ich, von Nächten am Lagerfeuer, wo Mensch und Mensch sich verbrüdert, von zitternden Stunden im Hinterhalt, von Heldentaten auf erstürmten Mauern und von Akten der Treue an Mensch und Tier. Wenn der Krieg das Schlechteste in uns wachruft, so ruft er auch das Beste wach, und es kommt nur darauf an, es zu sehen. Auch von großen Arbeiten sprach ich gerne, ließ fliegende Brücken über Strömen erstehen, schilderte den Bau der königlichen Segler auf den Werften zu Dieppe und Kerkemünde, die Wälle aller Festungen, die ich je gesehen, die Kanäle der Eure. Und zum erstenmal im Leben bedauerte ich auch, kein Gelehrter zu sein, um wie Chartres über die Macht des Menschengeistes über die verborgenen Kräfte dämonbelebter Gesteine reden zu können. Jetzt lächelte Susanne nicht mehr so viel. Aber ein schönes tiefes Licht lag in den blauen Augen, und wenn ich schwieg, so rief sie nicht mehr »weiter!«, sondern blickte sinnend vor sich hin, das Gehörte verarbeitend. Manchmal sagte sie ernsthaft: »Danke!« und manchmal flüsterte sie Worte des Staunens und der Ergriffenheit. Dann geschah es einmal, daß ich unversehens den Arm quer über ihr Kopfkissen legte. Sie hob mit einer unschuldigen Bewegung das blonde Haupt und legte es, näherrückend, auf diesen Arm. Und so blieb das nun immer, solange ich mein Erzähleramt ausübte.

Wenn ich in diesen Wochen von St. Cloud gen Paris ritt, so pflegte ich im Walde abzusteigen, um einen Strauß Blumen für meine Kranke zu sammeln. Die blauen Frühlingsblüten waren nicht so blau wie ihre Augen, die weißen nicht so weiß wie ihre Stirn, die der große Engel geküßt hatte. Sie freute sich jedesmal sehr über diesen Gruß aus den grünen Wäldern, und manchmal rechnete sie mir leise die Zeit vor, die etwa noch verstreichen müsse, bis sie selbst hinausgehen und Kränze winden könnte, und was für Blumen dann wohl schon blühen würden. »Rosen vielleicht? Die kommen in vier oder fünf Wochen,« fragte sie mit einem neuen Klange von Sehnsucht in der Stimme. »Werde ich dann wohl genesen sein?«

»O – in fünf Wochen? Das ist eine ewige Zeit! Unbedingt wirst du dann längst genesen sein,« antwortete ich dann, und weiß Gott, ich meinte, was ich sagte. Genesen? Ja, gänzlich!

Mit dem Frühling schien die Ungeduld über Susanne gekommen zu sein, Sie wollte nicht mehr krank sein, sie wollte hinaus, wollte aufstehen, am Fenster sitzen, den Himmel sehen, die Vögel hören. Das Haus, in dem sie wohnte, stand in einer engen Gasse, ein bißchen Sonnengold spiegelte sich in den gegenüberliegenden Fenstern, und an einem derselben hing in einem Käfig eine gefangene Nachtigall. Da rückten wir das Bett der Kranken ans Fenster, daß die weiche, warme Luft des Pariser April mit ihren Haaren spielen konnte. In ihren Augen spiegelte sich das Streifchen Himmel über der Gasse.

Jetzt gab es lange, sonderbare Pausen in unsern Gesprächen. Mir hatte es plötzlich scheinen wollen, als ob der rastlose, laut schluchzende Vogel am Fenster drüben meine Stimme übertöne, daß Susanne ihm mehr lauschen müsse als mir. Dann dachte ich: ›beides zusammen ermüdet das Kind‹, und schwieg. Susanne lag nun halbe Stunden lang still mit halbgeschlossenen Augen, immer aber noch mit dem Kopfe auf meinem Arme, der manchmal ganz steif ward von der kleinen Last. Einmal wagte ich es, um mir die Sache zu erleichtern, ganz sachte näher zu rücken, daß ihr Kopf mehr gegen meine Brust und Schulter gelehnt blieb; Susanne lächelte ganz leise vor sich hin, ohne die Lider zu erheben, aber die Stellung änderte sie nicht.

Die Mutter und Helvetius sahen dies und schwiegen. Die Frau mochte jetzt auch begriffen haben, wie es mit dem Kinde stand, und wirklich bedurfte es jetzt schon keines Gelehrtenblickes mehr, um das zu verstehen. Da es ihr schwer werden mochte, ihre Tränen zu verbergen, ging sie oft aus der Stube und ließ mich mit Susanne allein.

Da bemerkte ich, daß jedesmal, wenn die Mutter die Türe hinter sich schloß, Susannens Köpfchen sich um ein weniges fester gegen meine Schulter drückte als vorher; zugleich hob sie auch immer die Lider, die schon ein bißchen schwer schienen vom Schlaf der Ewigkeit, und blickte mir etwa drei Sekunden lang mit tiefem, leuchtendem Ausdruck in die Augen. Dann senkte sie die Wimpern wieder, lächelte vor sich hin und schwieg. Ich verstand sie wohl, die arme Kleine!

Der Mönch von Marlaigne wird mir verzeihen, daß ich in diesen Stunden mein Gelübde vergaß. Es geschah nämlich einmal, daß nicht nur die Lider sich hoben, auch das kleine, fieberheiße Mündchen hob sich ganz unmerklich mir entgegen. Mir erzitterte das Herz vor Mitleid, und fest schloß ich meine Lippen auf diese brennenden und trockenen, die mich suchten. Als ich mich von ihnen löste, streifte ein kaum vernehmliches Geflüster wie ein Hauch an meiner Wange hin: »Ich bin sehr glücklich!«

Von da an brachte ich jede Stunde, die ich meinem Dienste rauben konnte, neben Susannens Lager zu. Sie nannte mich vertrauensvoll ihren Bräutigam, und jetzt rechnete sie die Zeit nicht mehr nach um der Blumen willen. Sie dachte an Hochzeit und Aussteuer. Es waren immer noch vier, fünf Wochen, die sie sich gönnen wollte, ehe sie mit der letzteren begann. Aber in ihrem Gesichtlein stand bangere Ungeduld. Einmal verfiel sie auf den Gedanken, im Bette zu nähen, für den notwendigen Hausschatz vorzuarbeiten, damit wir die Hochzeit beschleunigen könnten. Sie gab es schnell genug auf.

Die Mutter ließ alles geschehen ohne ein Wort des Einwandes, nachdem sie mit mir nur einen einzigen qualerfüllten Blick getauscht. Helvetius bekundete seine Freude an der Verlobung, gratulierte, neckte und brachte ein schönes Hochzeitsgeschenk: ein Stück zarter flämischer Spitze. Dieses nähte die Mutter später in der Nacht der Totenwache an Susannens Bahrtuch.

Wir waren noch vierzehn Tage glücklich, oder vielmehr Susanne war es und sprach es täglich aus, täglich mit matterer Stimme. Dann kamen stürmische, regnerische Tage, plötzliche Kälte, als hätte der Wettermacher droben seines Kalenders vergessen; im Februar war es nicht so kalt gewesen. Man weiß, wie solche Wechsel auf derartige Kranke wirken. Eine plötzliche Verschlimmerung trat ein, in wenig Tagen war das schwache kleine Leben fast ohne Kampf überwunden. Das letzte Wort, das Susanne gesprochen hat, war das Glücksgeständnis, das sie nach ihrem ersten Kusse mir ins Ohr gehaucht. Ich hoffe, dieses Wort wird für mich eintreten, wenn am Tage aller Tage der richtende Engel mich dem Mönche von Marlaigne gegenüberstellt.


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