Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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1

Kaum jemals im Leben ist mir ein Weg so sauer geworden wie jener Ritt nach St. Cloud, den ich im frühherbstlichen Blätterfall des Jahres 1699 an der Seite meines neuen Gönners, des Herzogs von Beauvilliers, unternahm. Denn abgesehen davon, daß ich mich keines besonders warmen Empfanges von seiten meines ehemaligen Freundes versehen durfte, brannte jetzt, da die Sache wirklich wurde, die Nichtigkeit und Lächerlichkeit meines Vorhabens mir auf der Seele. Ich suchte einen Mann auf, den ich bitter beleidigt hatte, ich setzte mich einer schroffen Abweisung, ja vielleicht einer unedeln Rache aus, und zu welchem Zwecke und Ziele? Um ein Spielzeug von ihm zu fordern, das nicht mehr in seinen Händen war und auf welches ich selbst mein Eigentumsrecht nur durch eine Erzählung geltend machen konnte, die vieles preisgab, was ich gern geheim gehalten hätte. Ich schämte mich, ich war einer Niederlage, einer hohnvollen und grausamen Antwort gewiß. Dennoch trieb mich ein dunkles Wollen in meiner Brust vorwärts, wie es mich bis hierher getrieben hatte.

Dem Herzog von Beauvilliers hatte ich nicht verraten, was für ein Anliegen ich an den Neffen des Königs hatte; er hatte auch nicht danach gefragt; wozu wendet sich ein junger und mittelloser Offizier, der keine Heldentaten aufzuweisen hat, an einen hohen Herrn? Da brauchte es weiter keiner Erklärungen. Doch hatte ich ihm bekannt, daß ich im Groll von Philipp von Chartres geschieden sei und daß ich mich vor dem Wiedersehen fürchtete. Da beruhigte er mich schnell: Rachsucht wäre die letzte Eigenschaft des Mannes, zu dem wir ritten; mehr als einmal habe man bereits erlebt, daß er offene Feinde durch eine unerwartete Wohltat geschlagen und gewonnen habe, mehr freilich aus königlicher Lust an dieser edeln Art der Beschämung als aus christlicher Nächstenliebe. Und so, wie wir gemächlichen Schrittes dahinritten durch die grüne Wildnis des Bois de Boulogne und der Hufschlag unsrer Pferde im samtigen Moosboden erstickte – denn die Waldwege waren Abgründe voll schlammiger Fluten, und wir mußten uns nebenher durch die Stämme winden –, erzählte mir der Herzog von Beauvilliers manches über meinen Jugendgespielen, manches, das mir das Herz weit machte – weit und auch schwer.

Es ist eine Erfahrung, die ich später im Leben noch öfter machen mußte, die mir aber in dieser Stunde das erstemal widerfuhr. Alle hatten sie den Stab gebrochen über Philipp von Chartres' Lebenswandel, alle, die nicht um eines Haares Breite besser waren als er, die heimlich oder öffentlich dasselbe taten; Paris ergötzte sich an den Anekdoten seiner Debauchen im stillen, während es sich laut über ihn entrüstete. Hier nun war ein Mann von so lauterer Tugend, daß der bitterste Feind auch nicht einen Makel in seinem Lebenswandel aufzudecken vermocht hätte: und siehe, der Reine sprach für den Lasterhaften, verstand, entschuldigte ihn! Nicht das leiseste Wort der Mißbilligung fiel von den Lippen des Herzogs von Beauvilliers, als er von Philipps Wesen und Leben berichtete. Ich schaute, während er redete, fest in seine wunderbar strahlenden graublauen Äugen und dachte: ›Spricht da der Höfling zugunsten des fürstlichen Gönners?‹ Aber mein Gefühl überzeugte mich schnell: da sprach der gute Mensch zugunsten des gefallenen Bruders.

Von Philipps galanten Abenteuern bekam ich nicht viel zu hören; die tat der weise Mann mit einer einfachen Erklärung ab: Wenn ein junger Mensch von so regem Geiste, von so viel Kraft und Tatendrang durch eine Laune des Königs vom Kriegsdienste abgehalten und zur schmählichsten Untätigkeit in den Galerien von Versailles verurteilt sei, so wären Verirrungen seiner Abenteuerlust unvermeidlich. Auch die allbekannte Tatsache, daß Philipp von Chartres immer noch Teufelsbeschwörungen trieb und zu diesem Zwecke ganze Nächte in den Steinbrüchen von Vaugirard zubrachte, streifte Beauvilliers nur mit lächelnder Ueberlegenheit. Dafür sprach er um so eingehender von Philipps köstlichen Geistesgaben, seinen Talenten für Musik und Malerei, seiner Belesenheit, seiner sicheren und klaren Redeweise, seiner schlichten und natürlichen Würde, welche nicht sowohl die Würde des trefflich erzogenen Hofmannes, sondern die des hochentwickelten, frei und kühn denkenden Mannes sei. Um dieser angeborenen Würde willen vermöchte auch die allgemeine Medisance nichts an seinem Einflüsse zu schmälern, und selbst der König könne sich dem Zauber seines Wesens nicht ganz entziehen, so unzufrieden er auch immer mit ihm sei. Es sei die unbesiegliche Macht der Intelligenz, die von Philipp von Chartres ausgehe, der Intelligenz des Geistes und des Herzens. Und dieser, meinte Beauvilliers, könne auch ein Mangel an Kontrolle über etwelche Leidenschaften wohl verziehen werden.

Ich konnte mich nicht enthalten, zu bemerken, wie schade es wäre, daß Philipp mit all seinen herrlichen Gaben nicht als eines einfachen Mannes Sohn geboren worden sei; er hätte als Maler gewiß, als Musiker und Gelehrter vielleicht eine Zierde Frankreichs werden müssen. Da lächelte Beauvilliers traurig und zitierte ein Wort, welches Madame, die brave Deutsche, von ihrem Sohn gesagt haben soll und das wahrlich zutrifft. Es haben, so meinte sie, zwölf gute Feen die Wiege ihres Kindes als Paten umstanden und alles gespendet, was an guten und göttlichen Gaben dem Menschen nur geschenkt werden könne; die dreizehnte Fee aber habe gemacht, daß ihm alles zum Unheil ausschlagen müsse oder mindestens ohne Nutzen bleibe. Madame war zu klug, um den Namen der dreizehnten Fee zu verraten; Beauvilliers sprach ihn unbekümmert aus: es war der Heuchel- und Schmeichelgeist am Hofe Ludwigs des Vierzehnten.

Ich senkte den Kopf, als der Herzog diese Worte sprach und dachte vergangener Tage. Wir ritten nun eben gegen die Seine herab, sahen schon das graugrüne Wasser durch die Baumstämme aufblitzen, und die nächste Lichtung mußte uns die Holzbrücke zeigen, die nach St. Cloud hinüberführte. Jetzt erblickte man auch schon den Rauch, der den Häusern des Dorfes entstieg. Wie bald darauf die Hufe unsrer Pferde auf den Holzbohlen der Brücke donnerten, kam von Süden her aus den Wäldern von Meudon ein ferner Hörnerklang herabgeweht: dort war Monsieur auf der Wolfsjagd. Das eigentümliche Jagdsignal blieb mir im Gedächtnis und spielte lange eine ähnliche Rolle wie das Klosterglöcklein von Marlaigne: so oft ein Mensch von seinesgleichen verklagt und verdammt wurde, glaubte ich es zu hören; und mein Urteil blieb dann jedesmal in meiner Brust begraben.

Eine halbe Stunde später empfing uns Philipp in einem einfachen holzgetäfelten Gemache, dessen Fenster offen standen und die herbstliche Feuchte des Parkes hereinließen. Der erste, etwas frostige Eindruck des Raumes schien mir indes sofort gebannt, als Philipp, der an seinem Arbeitstische gesessen hatte, sich umwandte, erhob und uns entgegenging. Das war noch immer das Antlitz und der Blick, die jede weiche und sympathische Empfindung wecken konnten, wenn der kapriziöse Eigner es nur wollte; und in dieser Stunde wollte er.

Er begrüßte mich mit einer Natürlichkeit, als hätten wir uns noch vor Tagen gesehen und gesprochen; im herzlichsten Tone von der Welt drückte er seine Freude aus über den Anlaß, der mich zu ihm geführt; und wäre, so sagte er, dieser Anlaß irgendein Anliegen, das ich an ihn stellen wollte, so danke er mir, daß ich ihm den Vorzug gegeben habe vor andern, vielleicht mächtigeren Gönnern. Das war nun freilich Phrase und viel zu sehr überkommene Form der Höflichkeit, als daß es mich hätte besonders rühren können; doch wußte Philipp diese gangbare Redensart in so echtem Herzenstone vorzubringen, daß mir fast schien, ich höre sie zum erstenmal in meinem Leben. Immerhin hielt ich mich zurück und antwortete gemessen, ich hätte freilich ein Anliegen, aber so seltsamer Art, daß ich einer Ablehnung im vorhinein gewiß sei und eine solche ohne Bitterkeit hinnehmen würde; dennoch treibe mich ein gewisses Pflichtgefühl, die hoffnungslose Bitte vorzubringen. Beauvilliers, der neben Philipp stand, schaute mich erstaunt an; dann verließ er, einem Blicke Chartces' gehorchend, das Gemach; in derselben Sekunde schon hatte Philipp seinen Arm um meine Schulter geschlagen, und seine Lippen berührten leicht meine Wange. Ein leidenschaftliches Gefühl wallte in mir auf, ich machte eine Bewegung, die brüderliche Begrüßung zu erwidern, aber eine qualvolle Beklemmung hielt mich in Bann und lähmte mir gleichsam die Arme; ehe ich dieser Herr werden konnte, hatte Philipp sich bereits von mir gelöst und saß nun in der ihm eigentümlichen graziösen Stellung in dem hochlehnigen Stuhl vor seinem Arbeitstische.

»Wenn es etwas ganz Seltsames und Unerhörtes ist, das dich hergeführt hat,« sagte er heiter, »so will ich es mit um so dankbarerer Gewißheit als ein Wunder des Himmels nehmen und als einen direkten Fingerzeig des Schicksals, daß wir nicht länger Feinde sein sollen, mein Jugendgespiele. Rücke also nur schnell mit deinem Anliegen heraus, und sei gewiß, daß ich alles tun werde, um dein Mißtrauen in meine Dienstwilligkeit zu enttäuschen.«

Ich war durch diese Worte bewegt, und jede Spur von Scheu wich von mir. Und da ich, um ihm meine Bitte verständlich zu machen, zurückgreifen mußte nach den Tagen unsrer Kindheit, die Erinnerung an den goldenen Goldschmied heraufbeschwören und sein Leben erzählen, so war es bald zwischen uns, als hätten wir den neuen Freundschaftsfaden nur eben an der Wurzel unsers Lebensgespinstes wieder angeknüpft, da wo die glatten Maschen unschuldiger Freuden lagen, und all das kraus geknotete Irrsal, das eine böse Hand dazwischengewebt hatte, einfach herausgetrennt. Philipp hörte mit der wärmsten Teilnahme die Leidensgeschichte des Mannes, der das Märchen unsrer Kindheit gewesen war, und mein Wunsch, Benedikten das Andenken ihres Vaters zu erhalten, ging sofort in sein Verständnis über.

Immerhin verhehlte er mir nicht, daß mein erstes Gefühl recht behalten müsse und daß es in der Tat unmöglich sei, mir den Savoyarden in diesem Augenblicke zu verschaffen; er habe die Figur erst vor kurzer Zeit einem von ihm angebeteten Mädchen geschenkt, das dieselbe als erstes Zeichen seiner Liebe jetzt noch hochhalte, wenn sie auch den Kunstwert des Gegenstandes kaum zu schätzen imstande sei. Deshalb möchte ich aber doch die Sache nicht als eine hoffnungslose betrachten. Es werde wohl diese Liebe, wie jede andre, dem Schicksale alles Irdischen nicht entgehen. Ein Tag werde kommen, wo das Fräulein keinen Wert mehr auf den Besitz eines von ihrem Liebhaber stammenden Gegenstandes legen werde; und da die Figur keine Edelsteine an sich habe, die man herausbrechen und zu Schmuck verwenden könne, so werde es dann ein leichtes sein, darüber zu wachen, daß sie intakt bleibe und in keine andern Hände übergehe als zurück in die des Gebers. Wie fern oder wie nahe dieser Zeitpunkt läge, sei jetzt noch nicht zu bestimmen; doch sei die Figur, da wo sie jetzt stehe, in sicherer Hut, und Philipps Wort möge mir genügen, daß er sie fortan als ein Pfand betrachten und den richtigen Augenblick der Einlösung nicht versäumen wolle.

Es hatte sich, während Philipp so sprach, auf seinem Gesichte wieder jener hämische und fast gemeine Ausdruck gezeigt, den er stets zur Schau trug, wenn er von Frauen sprach, und der mir heute wie jedesmal ins Herz schnitt. Daß ein jugendlicher und warmblütiger Mensch mit solcher Hellseherei von der Vergänglichkeit seiner Gefühle sprechen konnte, war ein trauriges Zeichen, und fast wäre mir ein Wort des Mitleids entschlüpft, das unsre eben geflickte Freundschaft wieder mitten durchgerissen hätte. Aber zum Glück fiel mir zu rechter Zeit Beauvilliers und sein Märchen von den dreizehn Feen ein, und zugleich war mir's wieder, als dränge durch das offene Fenster herein ein Ton wie ein fernes Hornsignal. Ich schwieg und dachte bei mir: ›Gott gebe, daß du sie noch kennen lernst, die Liebe, die kein Ende hat.‹ Dann erhob ich mich und wollte mich entfernen.

Aber Philipp wollte nun auch ein näheres über mein Leben hören, hielt mich zurück und wandte geschickt das Gespräch hin und her, bis er auch meine sonstigen Nöte kannte, denen er ein rasches Ende zu bereiten versprach. Daß ich mit meinen erschöpften Mitteln meine Kompagnie nur dann halten könnte, wenn nach der damals vollständig unanfechtbaren Auffassung »der Krieg sie ernährte«, leuchtete ihm sofort ein. Er versprach, mich in kürzester Zeit an einen Ort zu stellen, wo mir Fortuna selbst die Sorge für mein Häuflein abnehmen sollte, oder, wenn ihm dies mißlänge, mir einen Posten unter den Garden seines Vaters zu verschaffen, wo ich bouche à cour und weiters solche Einnahmen hätte, daß ich mehr als geruhig leben könnte. Bei der allgemeinen Auflösung und Neubildung der Regimenter, die in diesem Augenblicke unter dem Namen einer Reform in Frankreich vor sich ging, war diese Sache leichter zu erledigen als zu irgendeiner andern Zeit. Die zweite Alternative mißfiel mir zwar, ich hoffte auf aktiven Kriegsdienst und sprach dies auch aus. Da ging eine neue Wandlung in Philipps Gesicht vor sich, und diesmal eine so erschreckende, daß ich mit einem lauten Rufe der Angst auf ihn zueilte. Er wandte sich ab, er suchte sich mir zu entziehen. Aber bereits verriet das heftige Arbeiten seiner Brust, daß er mit Schluchzen kämpfe. Ich war ratlos, wagte kein Wort zu sagen, wagte nicht, ihn zu berühren, bis nach einigen Minuten seine Selbstbeherrschung zurückkehrte und er sich mit geglätteten Mienen wieder mir zuwenden konnte. Da faßte ich Mut, ihn zu fragen, ob meine Offenheit ihn verletzt habe. Er verneinte lächelnd, fügte aber mit alsbald sich verfinsternden Blicken hinzu, daß es einen Mann wohl kränken könne, wenn er andre sich nach Lorbeeren drängen sehe, die ihm selbst versagt seien. Da erinnerte ich mich an Beauvilliers' Worte, daß Philipp sich nach dem Felde sehne und wie sehr sein Ehrgeiz an der gezwungenen Untätigkeit des Hoflebens kranke. Und jetzt vernahm ich es ganz deutlich, das leise, fernhin hallende Klingen der Jagdhörner in den Wäldern von Meudon drüben.


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