Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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11

Am Nachmittage desselben Tages gelang es mir, der jüngeren Schwester habhaft zu werden und sie zu einem längeren Gespräche zu stellen, worin uns natürlich der berechnende Vater nicht störte noch stören ließ. Es lag mir daran, etwas Näheres über Olympia zu hören, und ich hatte mir vorgenommen, die jüngere Schwester, die voll Einfalt war, darüber auszuholen. Das gelang denn auch vortrefflich, denn die Gute stimmte ein Loblied über meine Erwählte an, daß es mich hätte abschrecken müssen, wenn ich nicht zum Glück den lieben Gegenstand der überschwenglichen Begeisterung bereits gekannt hätte. Und da ich einstimmte und sie dadurch zutraulich machte, so öffnete sie mir mählich ihr verschüchtertes Herz wie einem Bruder, als welchen sie mich bereits betrachtete. Und ich hatte vor Abend das kleine, einförmige und doch tragische Lebensbild dieses Schwesternpaares in allen Details klargelegt.

Als ich so weit war, glaubte ich auch Olympias rätselhaftes Verhalten völlig zu verstehen. Sie, die Stärkere und Keckere, war offenbar einzig darauf bedacht, die schwerer leidende, weil hilflose Schwester der Tyrannei des Vaters zu entziehen und in braven Händen versorgt zu sehen; deshalb hatte sie mir so eindringlich zugeredet, jene zu nehmen. Sie selbst, die Olympia, war so eine Natur, die auf allen Wegen Beschäftigung findet, der Hunger, welcher gestillt, Krankheit, die geheilt, Kinder, die gelehrt, oder Sünder, die bekehrt werden wollen, auf Schritt und Tritt entgegenlaufen und die sich deshalb auch in fünfzig Jahren der Unvermähltheit nicht gesehnt noch gelangweilt hätte. Sie hielt das Gut in Ordnung, die Dienerschaft in Zucht. Mit dem Alten stand sie schlimm, doch fürchtete sie ihn nicht, und wenn sie sich mißhandeln ließ, so geschah es nur, weil sie selbst die Hand nicht gegen das väterliche Haupt erheben wollte; im übrigen tat sie, was sie wollte, und lachte der Striemen, die er ihr angeprügelt. Wie sie sich Freiern gegenüber verhielt, hatte ich bereits gesehen; und kurz, ich verstand, daß sie der Schwester das Glück gönnte, das ich zu bieten hatte, und das härtere Schicksal als etwas Naturgemäßes und ihren Kräften Angemessenes auf sich nehmen wollte.

Nicht minder selbstlos zeigte sich aber die Jüngere, die bei der Aussicht, ihre Schwester vermählt zu sehen, förmlich strahlte, so daß sie wirklich bedeutend erträglicher aussah. Diese meinte nun wiederum, die Olympia mit ihrem Geiste gehöre in die Welt, sie selbst, die Unbedeutende und Stille, ins Haus und in die Einsamkeit. Auch würde sie mit dem Vater wohl bald besser auskommen, wenn nur erst die Aeltere verheiratet und damit der Grund seiner Uebellaune und Reizbarkeit beseitigt sei. Beide Töchter könne er ja doch nicht hergeben, da er alt und vielleicht in kurzem pflegebedürftig sei, und gewiß würde er einmal noch dankbar sein, wenn ihm eine geblieben; seinem Ehrgeiz würde ein Schwiegersohn wohl genügen, überhaupt sei es nur väterliche Sorge und Angst um die Zukunft seiner Kinder, die ihn so ungebärdig mache. Heirate ich aber die Olympia, so würde ich ihr, der Schwester, ja wohl auch in schweren Tagen beistehen und der Vater könne beruhigt die Augen schließen, diese Gewißheit werde ihn jetzt schon fröhlicher und damit auch menschlicher machen.

Mir wurde warm ums Herz, als die arme Person so vertrauensvoll und hingebend mir ihr Wesen eröffnete, und ich sagte ihr gerne zu, daß auch sie an mir jede Stütze finden solle, deren sie nur bedürfe. Mich rührte es tief, zu sehen, wie jede dieser Schwestern nur für die andre zu denken schien und unter den gegenwärtigen Zuständen nur um der andern willen zu leiden. Ich pries mich glücklich, daß ich den tapferen und guten Geschöpfen endlich ein Los bereiten konnte, wie sie es verdienten, und schlief diesen Abend mit frommen und heiligen Vorsätzen ein, um früh morgens wieder von der seligsten Ungeduld geweckt zu werden.

Es war neuer Schnee gefallen, der erste in diesem Jahre, der zu bleiben versprach. Im Walde lag er spärlich, nur in vereinzelten Flecken etwa da, wo die Bäume lichter standen, und auf dem Sträßlein, das sich wie ein weißes Band vor mir herzog. Mein Tälchen aber lag da wie eine große silberne Himmelswolke mit seinen sanft gerundeten Hebungen und Senkungen, an denen Licht und Schatten in zart rosenroten und blaßblauen Färbungen erschienen. Ein sonnenklarer Himmel stand darüber, und der jenseitige Wald zeichnete sich so fein und scharf und in so herrlichen Stahltönen, daß ich dachte, so lieblich sei mir noch kein Landschaftsbild erschienen, und was sei der Frühling gegen solch einen Wintertag? Ich stand lange und schaute hinab und hinauf und wartete des Augenblicks, wo auf dem hellen Grunde die dunkle, hohe Gestalt erscheinen würde mit ihrem stolzen und festen Schreiten. Aber ich wartete umsonst. Aus dem Wald drüben trat ein Rudel Rehe und scharrte im Schnee; über dem beschneiten Dache des Meierhofes zitterte goldschimmernd der Rauch; sonst regte sich nichts im leuchtenden Bilde. Mir schnitt die Kälte in die Glieder, während doch die heiße Ungeduld mich fiebern machte. Da entschloß ich mich kurz und ritt an den Meierhof heran.

Ich meldete mich etwas lärmend an und hatte bald die ganze Bewohnerschaft des Gebäudes um mich versammelt; doch war die eine nicht darunter, der mein Kommen galt. Ich fragte, wo sie sei, nannte sie Fräulein Olympia und forderte laut, zu ihr geführt zu werden. Das Gesindel tauschte Blicke, zuckte die Achseln und blieb stumm. Auf mein weiteres Drängen antworteten einige, sie wüßten nichts von einem Fräulein Olympia, die müßte ich wohl im Edelhofe suchen, hier sei keine Person dieses Namens. Da fuhr ich unter sie wie das helle Ungewitter und schrie, dann heiße sie Marion oder sonstwie, sie wüßten genau, wen ich meine, und sollten mir nun endlich Auskunft geben, sonst würde ich sie beim Gutsherrn verklagen. Die Tiere stoben nach allen Seiten davon, nur eine Alte haschte ich, hielt sie fest und schüttelte sie, daß sie kreischte, und schwur, ich würde Feuer ans Haus legen, wenn die Gesuchte nicht freiwillig zum Vorschein käme. Ueber dem Geschrei tat sich eine Türe im Oberstock auf und am Treppenkopf erschien das Fräulein; ruhig und fest rief sie mir zu, die Alte loszulassen, stieg die Treppe herab und schritt kalten Gesichtes an mir vorüber, dem Tore zu, indem sie mir über die Schulter weg noch ein »Kommet!« hinwarf. Ich folgte ihr, und kaum standen wir im Freien, so begann ich schon auf sie einzureden, nannte sie bei ihrem Namen, gestand, daß ich denselben immer gekannt und daß ich mit ihres Vaters Willen und Wissen gekommen sei, um sie zu freien. Und schon entschlüpften mir hoffnungsvolle Worte von kommendem Glück und leidenschaftliche der seligsten Gewißheit. Sie aber entfernte sich von mir, blieb still und finster und murmelte nur einmal: »So habe ich mir das Ende nicht gedacht.«

Ich schwieg nun auch, da ich ihr Zeit geben wollte, sich zu fassen, und deren selbst bedürftig war. Wir gingen noch einmal bis an den Waldrand hinauf und dort unter den Bäumen im schneefreien Moose weiter, immer längs des Wiesensaumes hin. Olympia setzte mehrmals zum Sprechen an, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Sie schien innerlich furchtbar zu kämpfen. Endlich sagte sie hart, sie wolle meine Frau nicht werden, und wenn der Vater sie deshalb totschlagen sollte; sie empfände keinerlei Liebe für mich.

Diese unerwartete Weigerung, und in solchem Tone vorgebracht, warf mich fast zu Boden, und jetzt war die Reihe an mir, nach Worten zu ringen, die ich nicht fand. Sie aber redete weiter, und zwar erheblich milder, indem sie sich anklagte, durch ein unbesonnenes Spiel, das sie sich in ihrem Uebermute nicht versagen gekonnt, die unheilvolle Täuschung heraufbeschworen zu haben. Doch sei sie sich nicht bewußt, etwas gesagt zu haben, das ein tieferes Gefühl für mich hätte verraten können, und ich sei wohl etwas voreilig gewesen, ihre Zustimmung so von vornherein als gegeben zu betrachten. Darüber stritten wir nun, denn ich glaubte mich durch manchen Blick, vielleicht auch durch ein oder das andre Wort berechtigt, diese Zustimmung außer Frage gelassen zu haben, jedenfalls durfte ich ihr vorhalten, daß sie über meine Leidenschaft zu ihr nicht im Zweifel sein konnte. Sie gab dies zu und sagte: »Deshalb wollte ich Euch nicht wiedersehen. Wäret Ihr bescheiden gewesen, so hättet Ihr nicht Tür und Tor gesprengt, mich zu suchen, wie Ihr es eben getan habt, sondern hättet mein Fernbleiben richtig gedeutet. Ihr seid zu siegesgewiß. Aber freilich konnte ich auch nicht wissen, daß Ihr mich erkannt hattet und wie ernst Ihr die Sache meintet. Ich glaubte, eine ritterliche Liebesgier zu einer Bauerndirne würdet Ihr so rasch überwinden, wie sie rasch gekommen schien, gönnte Euch den Scherz zuerst und das bißchen Aerger danach und hoffte Eure Glut gekühlt zu sehen, wenn ich Euch ein- oder zweimal vergeblich im Schnee warten ließe. Das sieht nun freilich alles anders aus.«

Wir hatten fast eine Stunde lang Erklärung gegen Erklärung zu tauschen, und ich sah wohl, daß sie keine Schuld traf, wie auch sie zuletzt zugeben mußte, daß ich in guter Absicht gehandelt. Da reichten wir uns die Hände, schauten uns in tiefer Trauer in die Augen, und Olympia sagte seufzend: »Mich dauert nur die Schwester!« Denn ich hatte ihr natürlich erzählt, wie wir zusammen standen, und daß eine Ehe zwischen Olympia und mir auch ihr Schicksal sonniger gestaltet haben würde. Ich bezwang meinen Stolz, der aufs bitterste gekränkt war, und fragte die Jungfrau, ob denn die Sache nicht doch noch möglich wäre, da sie jetzt doch meiner Liebe gewiß sein müsse und zugeben, daß nach allen Seiten hin nur Gutes daraus erwachsen könne. Vater und Schwester seien doch auch zu bedenken. Sie aber antwortete ohne Besinnen: »Es ist unmöglich, und so weit geht Kindes- und Schwesternpflicht nicht. Denkt Ihr, ein Weib wird fast dreißig Jahre alt, ohne daß sein Herz spricht? Das meine hat seine Wahl vor langer Zeit getroffen, und kann es nicht der sein, so soll es keiner sein! Mit gleichem Rechte könnte ich Euch nun zumuten, meine Schwester zu nehmen.«

Dagegen ließ sich nun nichts einwenden, und ich sah wohl, daß mein Glückstraum verflogen war. Wie mir zumute war, läßt sich kaum beschreiben, denn mein Gefühl für das tüchtige und selbstbewußte Mädchen war noch heißer geworden, da sie sich mir in dieser Weise enthüllte. Ich glaube wohl, daß ich elend aussah, denn sie redete mir alsbald zu, die Enttäuschung nicht so schwer zu nehmen, solche Dinge gingen vorüber und die Welt sei ja sonst an Freuden so reich. Mir leuchtete die letztere Wendung nun freilich nicht ein, aber ich besaß auch nicht das sonnige Gemüt des tapferen Wesens an meiner Seite, das in den allertrübsten Verhältnissen seine Zufriedenheit und seine Unabhängigkeit zu bewahren gewußt hatte. Ich hörte ihr halb bewußtlos zu, verging fast vor Scham, Zorn und Leidenschaft und tobte in innerlichen Kämpfen gegen mein Schicksal. Sie aber sprach zu mir wie eine Schwester, verständig und liebevoll zugleich, und als wir endlich schieden, drückte sie herzlich meine Hand und blickte mich mit einer freundlichen Bitte um Versöhnung an. Da ich trotzig und stumm blieb, lächelte sie ein wenig, bog sich vor und küßte mich leicht auf die Lippen, wie man ein Kind küßt, nachdem man es gescholten hat. Dann enteilte sie rasch.

Mir war es heiß durch alle Adern geronnen, als ihr Mund, der kalt war vom Winterwind, den meinen berührt; und viel hätte nicht gefehlt, so hätte ich die Arme um sie geschlagen, die ich für eine Verschmähte gehalten und die nun eine Verschmähende war, und hätte mein Verlangen an ihr gesättigt. Aber sie war zu schnell gewesen und mir entschlüpft. Ich stand und schaute ihr nach und dachte, wie tückisch und hohnvoll das Geschick doch mit mir spielte. Es ist lächerlich zu sagen, aber in dieser Stunde allertiefster Demütigung ärgerte und quälte nichts mich so sehr wie der Gedanke, daß ich das Mädchen am Tage vorher ungeküßt aus den Armen gelassen. Ich verfluchte die feine Scheu, die mich zurückgehalten hatte, den einzigen Augenblick zu nutzen, in welchem ein jahrelanger Bann von mir gleichsam probeweise gehoben war: denn gestern durfte ich sie noch küssen, da sie durch Blick und Geste mir gewehrt, ihre reinen Lippen mir nicht geboten hatte – und obendrein war sie gestern noch wenigstens in meiner Vorstellung meine Braut gewesen. Heute schon war sie nicht mehr mein und hatte mich doch freiwillig geküßt. Gab es eine tollere Komödie? Ich hatte ein Märchen gehört von einem stummen Manne, dem einmal im Jahre ein Wunder für eine Stunde die Sprache wiedergab, damit er ein erlösendes Bekenntnis ablege; tat er's, so war er für alle Zeit geheilt. Er aber, in Verstocktheit und Sünde, hält das Bekenntnis zurück, die Stunde verrinnt, der Fluch hält ihn wieder, seine Zunge bleibt gebunden. Ein solcher Narr war auch ich gewesen.

Meine Rückkehr nach dem Edelhofe, die Erklärungen zwischen dem Vater und mir, den Schmerz der Schwester will ich nicht beschreiben. Kläglicher bin ich zeit meines Lebens nicht dagestanden als an jenem Tage. Sei nur noch gesagt, daß ein gütiger Stern schon wenige Monate später der jüngeren Schwester einen braven Mann zuführte, der sie nahm und glücklich machte. Die Olympia aber habe ich nach vielen Jahren noch einmal wiedergesehen, als ihr Vater tot war und sie allein auf dem Edelsitz schaltete wie ein Mann. Ihr schönes schwarzes Saar war silbern geworden, aber Augen, Wangen und Zähne leuchteten noch immer, und immer noch war sie auch zu Scherzen und Neckereien bereit. Arbeitsfroh und tüchtig war sie auch noch, davon zeugten Park und Dorf, die anders aussahen als unter dem Regimente ihres Vaters. Und ich mußte mir sagen, daß diese selbständige Frau vielleicht an meiner Seite das Glück nicht gefunden hätte, das sie hier so augenscheinlich für sich und andre gebaut und das allein von ihrem rüstigen Schaffen ausging.


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