Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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Zweiter Teil

Anmerkung des Herausgebers

Es folgt in dem vorliegenden Memoirenmanuskripte nun eine Reihe von Kapiteln, welche sich ausschließlich mit politischen Ereignissen befassen. Die persönlichen Erlebnisse und Empfindungen des Verfassers treten vor diesen allerdings nicht alltäglichen Vorgängen so in den Hintergrund, daß dem Leser unversehens die Vorstellung einer erzählenden Person abhanden kommt und nichts ihm bleibt, als eine höchst objektive Kulturschilderung. Da es dem Herausgeber bei der Zusammenstellung dieses Buches aber gerade auf die persönlichen Erfahrungen jenes Chevalier von Roquesant ankommt, einfach aus dem Grunde, weil das Historische und Kulturelle von einem Zeitgenossen dieses Helden, dem Herzoge von St. Simon, in ungleich erschöpfenderer und wirklich unübertrefflicher Weise überliefert worden ist – so glaubt er sich befugt, jene für seinen Zweck unwichtigen Kapitel zu unterdrücken und ihren Inhalt nur so weit anzugeben, als zum ferneren Verständnis der Lebensschicksale des Hauptmanns nötig ist. Er selbst soll erst dann wieder zu Worte kommen, wenn das Schicksal ihm wieder den Faden jenes andern Lebensgespinstes in die Hand gibt, in welches er schließlich sein eignes ganz innig und fest verweben sollte: das der kleinen Benedikte.

Wir haben also folgende Wechsel zu erwähnen:

Im Jahre 1695 sehen wir den Hauptmann Roquesant sich an jener zweiten Belagerung von Namur beteiligen, welche durch die Feigheit des Bastards Maine, jenes gottverlassensten Lieblings des Königs und seiner Erzieherin Frau von Maintenon, so übel für Frankreich auslief. Abweichend von St. Simon, der die Vorgänge im Hauptquartier verfolgen konnte, schildert Hauptmann Roquesant hier nichts weiter als die verzweifelte Ungeduld der Truppen, welche stundenlang die prächtigste Gelegenheit eines erfolgreichen Angriffes vor sich sehen müssen, ohne jedoch einen Schritt tun zu dürfen, und die endlich, nachdem sie bis an den hohen Mittag vergeblich auf einen Befehl gewartet haben, den Feind sich gemächlich zurückziehen und ihren Blicken entschwinden sehen. In solchen Ausdrücken des Zornes und äußerster Bitterkeit beschreibt hier der junge Chevalier seinen und seiner Soldaten Seelenzustand, daß man sich fragt, was er getan haben würde, hätte er gewußt, daß Marschall Villeroy jenen sehnlich erwarteten Befehl fünfmal gegeben hat, und fünfmal umsonst, weil der Herzog von Maine angstbebend, Beichte und Abendmahl vorschützend, sich in seinem Zelte verkrochen hatte, aus welchem ihn auch die Bitten und Vorstellungen sämtlicher Offiziere nicht locken konnten. Auch scheint Roquesant, welcher nicht sehr belesen gewesen sein muß, nie jene holländische Gazette in die Hand gekommen zu sein, welche die Feigheit Maines und jene Vorgänge im Hauptquartiere so amüsant wiedererzählt und die doch in Frankreich in vielen Exemplaren zirkuliert haben muß, da sie schließlich auch dem König in die Hände fiel und ihm über das wahre Wesen der Kriegsführung in Flandern und den Wert seines vergötterten Sohnes so traurig die Augen öffnete. Wir sehen aus seinen Aufzeichnungen nur die Ratlosigkeit und Beschämung eines tüchtigen Offiziers, der seine Vorgesetzten einen groben taktischen Fehler begehen sieht und nichts dagegen tun kann.

Des Herzogs von Chartres, der auch in jenem Feldzuge wieder die Kavallerie führt, erwähnt er nur ein einziges Mal: er spricht von ihm mit einem freundlicheren Worte, als er ihm in früheren Betrachtungen gegönnt, und sympathisiert mit ihm, als man ihm den unbändigen und herzzerreißenden Jammer des jungen Prinzen schildert, der es mit ansehen mußte, wie Marschall Bouffiers, der den in Ungnade gefallenen Villeroy abzulösen gekommen war, aber leider nichts mehr zu retten vermocht hatte, vor Wilhelm von Oranien das Schwert senkte, Namur übergab und selbst in Gefangenschaft fortgeführt wurde. Doch hat Roquesant augenscheinlich während dieses Feldzuges mit Absicht vermieden, die Wege seines fürstlichen Feindes zu kreuzen.

Der Friede von Ryswyk, so schimpflich für Frankreich, entlockt ihm nur einen Stoßseufzer der Erleichterung: »Gottlob! eine der Wunden, aus denen Frankreich blutet, will sich schließen!« Dieser Ausruf befremdet, wenn man bedenkt, daß ein Mann von vier- oder fünfundzwanzig Jahren, dessen Handwerk der Krieg ist, ihn getan habe, und man sucht nach einer psychologischen Motivierung desselben. Bei jungen Offizieren pflegt sich die Vaterlandsliebe sonst anders zu äußern, und man hat ein Recht zu fragen, was den Hauptmann Roquesant in seinen Jahren schon so tiefblickend gemacht habe. Antwort darauf gibt vielleicht das folgende Kapitel seiner Memoiren, wo er jene zweite, unerhört luxuriöse Revue in Compiègne schildert, der er mit den Royal Roussillon beigewohnt hat. Er bleibt in der Beschreibung derselben sachlicher als St. Simon, der die Blicke mit Vorliebe auf Hofskandälchen richtet. Er erwähnt kein Wort davon, daß der König während der ganzen Dauer der Heerschau neben der Sänfte der Frau von Maintenon gestanden und beim Gespräch mit ihr jedesmal den Hut gezogen habe; so wird dies absonderliche Verhalten des sonst so selbstherrlichen Fürsten wohl nicht die manövrierenden Truppen in der Ebene so intensiv beschäftigt und erheitert haben, wie jener andre Memoirenschreiber behauptet. Das Wesentliche, was Roquesant von dieser Revue berichtet, ist, daß der beispiellose Aufwand, der gefordert wurde, seine Finanzen untergraben habe, trotzdem er wie jeder Kavalleriehauptmann vom Könige ein Geldgeschenk von sechshundert Livres erhalten habe, um damit die Auslagen für seine Kompagnie zu decken; ebenso habe den Marschall Bouffiers, der, gegen die Besatzung von Dyxmuide ausgetauscht und aus der holländischen Gefangenschaft befreit, diese Revue befehligt habe, ein Geschenk von hunderttausend Livres nicht vor dem Ruin erretten können, und Roquesant schließt mit einer leisen Verstimmung gegen den Dienst der allerchristlichsten Majestät.

Es scheint ihm in der Folge kümmerlich zu gehen, obgleich er männlich genug ist, sich über diesen Punkt nicht weitläufig zu verbreiten. Doch knüpfen sich an diese Tatsache eine Reihe von ganz unpersönlichen Bemerkungen, die darauf schließen lassen, daß sich in jenem Jahre bereits die Erschöpfung eines nach zwei, manchmal sogar nach drei Seiten zugleich mit äußersten Mitteln geführten Krieges in Frankreich furchtbar geltend gemacht habe. Roquesant, der seinerzeit kein Wort der Erbitterung darüber verloren hatte, daß Luxembourg sich im Lager täglich mit einem Transport frischer Austern und Seefische versehen ließ, während oftmals die Soldaten darbten, fängt nun an, Vergleiche zu ziehen zwischen Hoch und Niedrig, die an einem Kinde seiner Zeit Wunder nehmen. Ohne von seinen eignen Verhältnissen zu sprechen, läßt er dabei doch fühlen, daß die Sache der Entbehrenden seine eigne ist; und mehr und mehr tritt in seinen Ausführungen die traurige Geistesreife jener zutage, die offene Augen haben für Leiden und Verderbtheiten um sie her, und die sich von keinem Phantom falscher Ehre blenden lassen. Ein ganz leiser revolutionärer Zug verbindet plötzlich den frommen Katholiken mit den Interessen der Kalvinisten, ohne daß er selbst es ahnt; vielmehr glaubt er um jene Zeit diese Sekte, wie alle übrigen, recht brav zu hassen.

Die Auflösung der flandrischen Armee führt ihn einige Monate später nach Paris, wo er dem Marschall Vendôme vorgestellt zu werden wünscht. Sein Ehrgeiz strebt nach dem spanischen Kriegsschauplatze, wo er nicht sowohl Lorbeeren als Geld zu gewinnen hofft. Sein Hoffen ist aber fürs erste betrogen; die knappen Geldverhältnisse, in denen er sich befindet, erweisen sich als ein ernstes Hindernis; der richtige Fürsprech fehlt; Woche auf Woche, ein Monat, ein Vierteljahr verstreicht, und über Roquesants Schicksal ist noch nicht entschieden.

In diese Wartezeit fällt der Tod seiner Freundin Ninon. Roquesant wendet sich an die Erben in der Absicht, den kleinen Savoyarden von ihnen zu fordern, muß aber zu seinem Schrecken vernehmen, daß derselbe mit anderm Hausrat der Kurtisane verkauft worden sei. Wer ihn gekauft habe? Kein Geringerer als der Herzog von Chartres, und zwar, wie man annimmt, für Fräulein von Sery, die Hofdame seiner Gemahlin. Mit grimmigem Entschlusse wendet Roquesant sich ab: er schwört sich zu, Paris nicht zu verlassen, bis er Benediktens Erbe nicht an sich gebracht habe, und will es um dieser Sache willen sogar unternehmen, seinen Jugendgespielen und – wie er glauben muß – Feind aufzusuchen. Auch dieses gelingt ihm nicht ohne weiteres; und es hat der junge Streber nun wahrlich nicht über Langeweile in Paris zu klagen; er läuft von Pontius zu Pilatus, und gilt es nicht dem Marschall Vendôme, so gilt es dem Herzog von Chartres.

Ueber alledem hat er noch keinen ernsten Schritt tun können, Benedikten wiederzusehen. Germaines Wohnung hat er erfahren; sie zu besuchen, verschmäht er, da es ihm nicht gut geht und er ihren Hohn fürchtet. Im übrigen lebt er unruhig, seine Ausdrucksweise scheint vergeblich eine tiefe Unzufriedenheit verbergen zu wollen. Während kurzer Zeit ergibt er sich dem Spiele. Aber auch hier ist er nicht glücklich; und zwei rasch aufeinander folgende Ereignisse: das spurlose Verschwinden des Leutnants Reineville von den Gardedukorps und der Selbstmord Permillacs, beides auf Spielschulden zurückführbar, erschüttern ihn so, daß er sich rasch der neuen Leidenschaft entzieht.

In dieser wenig erfreulichen Periode lernt Roquesant einen Mann kennen, der etwa zehn Jahre älter als er selbst, gebildet und von gesetztem Wesen, dem Jüngling mit einigen trefflichen Ratschlägen zur Seite tritt. Freilich leider nur mit Ratschlägen, denn der Mann lebte selbst in Dürftigkeit; er war ein ehemaliger Offizier der Gardedukorps und war kassiert worden für kein andres Vergehen, als daß er Fénelon hieß und ein Bruder des Bischofs von Cambrai war. Er tat Schreiberdienste für den Herzog von Beauvilliers, der treulich die Hand über ihn hielt, ohne jedoch im Augenblicke viel für ihn tun zu können, da seine eigne Stellung bei Hofe um seiner Anhänglichkeit an den Schwan von Cambrai willen gefährdet war. Jener kassierte Fénelon entzündet neue Gedanken in Roquesants empfänglicher Seele; ganz unmerklich lenkt er ihn zu jenem reinen Spiritualismus und Quietismus hin, welchen Madame Guyon gepredigt, der dem ersten Erzieher des jungen Burgund Amt und Würde gekostet, und dem auch der Herzog von Beauvilliers, sein Nachfolger, huldigt. Immer noch indes glaubt Roquesant, wie übrigens auch jene andern Vertreter der gleichen Geistesrichtung, ein felsentreuer Sohn der römischen Kirche zu sein. Mit theologischen Spitzfindigkeiten ganz unvertraut und alle Religion mehr mit dem Gefühle als mit dem Verstande erfassend, vereinigt er ahnungslos in seiner noch dunkeln Seele den größten Fetischdienst vor geweihten Amuletten, Ablaß und Wallfahrt mit jener weit vorgerückteren Auffassung eines absolut geistigen Urprinzipes, das man nur aus Mangel an einem besseren Namen etwa Gott nennt. Wunderliche Schlüsse zieht er, wunderliche Fragen tut er an sich und die Welt. In seiner Herzensbedrängnis läßt er sich von Fénelon bereden, einer Quietistenversammlung beizuwohnen. Dort sieht er zum ersten Male den Herzog von Beauvilliers. Die Erscheinung des erhabenen Mannes nimmt ihn sofort gefangen; er nähert sich ihm, er findet Gehör, er ergibt sich ihm ganz; Beauvilliers verspricht, sich für ihn zu verwenden, soweit in seinen Kräften steht. Das erste, was er für ihn tun kann, ist, daß er ihm Zutritt zum Herzog von Chartres verschafft, der auch bei Hofe nicht in bestem Ansehen steht, wiewohl aus wesentlich andern Gründen als Beauvilliers, und deshalb den Umgang mit dem Gemiedenen teils aus Sorglosigkeit, teils aus natürlicher Herzensgüte fortsetzt. So werden grundverschiedene Naturen durch ein ähnliches Geschick verbunden: der Herzog von Chartres um seiner Laster willen, der Herzog von Beauvilliers um seiner Tugend willen vom König geächtet, begegnen sich in einer Art Freundschaft und Wechselwirkung auf eine Person, die ihnen kaum nahe steht und deren Schicksal sie doch entscheiden helfen. Und hier gebe ich dem Chevalier von Roquesant wieder das Wort.


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