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33

Ratlos starrte Doris ihn an.

»Wie? Was? Welche Melodie?«

»Die Melodie!« knirschte Tschuppik. »Sie wissen doch – die wir zusammen im Büro sangen. Zum Kuckuck, Sie wissen doch! Ta ta tü – tralla – lalla – – –«

Schaurig klang sein Gesang durch die Nacht. Schaurig und mißtönend.

»Warum soll ich das singen?« rief Doris verblüfft. »Ich verstehe nicht –«

»Fragen Sie nicht lange! Singen Sie!« schrie er auf sie ein, und seine Stimme klang drohend.

Da sang sie. Leise und unsicher.

»Lauter!« befahl er ärgerlich.

Doris sang lauter. Eine Weile, nachdem sie die paar Töne gesungen hatte, war es still. Tschuppik stand mit leicht vorgebeugtem Kopf da und schien angestrengt zu lauschen.

»Falsch!« brüllte er plötzlich auf. »Singen Sie noch einmal, schnell!«

Dasselbe wiederholte sich. Wieder horchte Tschuppik, nachdem ihr Gesang verklungen war. Aber nichts, nicht das Geringste, ließ sich vernehmen.

»Wieder falsch!« ächzte er, und in seiner Stimme klang jetzt Verzweiflung. »Und ich dachte, Sie könnten es!« Er packte sie bei den Schultern und rüttelte sie. »Denken Sie nach! Wie waren die Töne?«

Wie ein dunkler Schatten stand plötzlich der Strolch neben ihr.

»Vielleicht will sie nicht«, sagte er grollend. »Soll ich sie zwingen, Wilkins?«

Doris fühlte, wie sich seine Pranke leise um ihren Nacken legte. Lähmendes Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Ein wilder Angstschrei entrang sich ihrer Kehle.

Die Stille, die jetzt eintrat, war bleiern. Doch da –

Irgendwo in der Ferne knatterten Motore …

»Polizei!« zischte der Strolch, und Doris spürte, wie sein Griff fester wurde.

»Still! Still!« preßte Tschuppik mühsam hervor. »Hört doch! Hört Ihr denn nicht? Da – die Melodie!«

Leise, ganz leise klangen aus weiter Ferne, durch das Geräusch der Motore beinahe erstickt, seltsam schöne, reine Töne zu ihnen herüber. Doris erkannte sofort die Melodie.

»Das stammt aus der Operette »Die Geisha'«, sagte sie sehr bestimmt.

»Singen Sie das! Schnell, so singen Sie das doch!« rief Tschuppik in wahnsinniger Aufregung.

»Die Polizei!« warnte der Strolch, aber Tschuppik achtete nicht darauf.

»Singen Sie!« befahl er noch einmal eindringlich.

Doris sang mit heller, klarer Stimme. Jetzt hatte sie keinerlei Bedenken mehr – sie wußte, sie sang richtig. Aber schon nach wenigen Tönen unterbrach sie Tschuppik.

»Genug! Das genügt vollkommen! Still« und wieder lauschte er.

Das Knattern der Motore hatte aufgehört. Nur noch der leise Gesang aus weiter Ferne war zu hören. Aber da – plötzlich – wurde ganz in der Nähe ein seltsames, surrendes Geräusch hörbar.

Ein zufriedenes Knurren Tschuppiks ließ Doris erkennen, daß es das war, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte. Der Lichtschein seiner Laterne zitterte über einen Felsen – nur mit Mühe unterdrückte Doris einen Aufschrei – der Felsen bewegte sich, eine Öffnung wurde sichtbar, die von Sekunde zu Sekunde zunahm.

»Los!« befahl Tschuppik und winkte dem Strolch, mit ihm zu gehen. »Sie, Doris, bleiben hier und warten auf uns!«

Beide verschwanden in der Öffnung. Doris blieb allein in der schwarzen Finsternis. Doch nein, irgendwo in der Nähe huschte ein Licht, dann noch eines …

Im nächsten Augenblick fühlte sich Doris von zwei kräftigen Armen umschlungen.

»Meine liebe, liebe kleine Doris!« sagte Leroys leise Stimme. »Was hast du alles durchmachen müssen!«

»Frank!« schrie das Mädchen erlöst auf und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. »Du hast mich gesucht …«

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe«, klang plötzlich die wehmütige Stimme Hearns dazwischen. »Ich ahne, daß Sie sich jetzt über Ihre Heirat, Aussteuer und dergleichen mehr schlüssig werden wollen; aber könnten Sie diese Aussprache nicht ein wenig verschieben? Es ändert ja nichts an der Tatsache selbst, ich meine –«

»Sie haben recht!« rief Doris mit leisem Lachen und fühlte sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder glücklich und zufrieden. Dann erzählte sie dem kleinen Polizeibeamten alles, was sie in den letzten Stunden erlebt hatte.

»Großartig!« erklärte Hearn. »Wirklich großartig! Es ist ja schon vorgekommen, daß sich Leute akustische Schlösser einbauen ließen, aber daß dies ein Mann macht, der von Musik keinen Dunst hat, das ist mir neu! Ein großer Fehler des Mr. Wilkins. Ich hätte ihm bestimmt davon abgeraten, aber er hat mich ja nicht gefragt! Hm … wie lange sind denn die beiden schon drin? Meine Leute werden ungeduldig …«

Jetzt erst bemerkte Doris, daß es ringsherum von Polizisten wimmelte. Auch Huntington war zugegen, hielt sich aber in gewisser Entfernung. Hearn schien das jetzt ebenfalls bemerkt zu haben.

»Ach, Mr. Huntington, treten Sie doch bitte etwas näher«, bat er demütig. »Man kann nie wissen, was kommt; vielleicht brauche ich Sie heute noch …« Er lächelte. Dann stellte er seine Leute so auf, daß jeder, der aus der Felsöffnung kam, den Mündungen von zehn Pistolen ausgeliefert war.

»So, und jetzt gehen wir hinein. Die Unterhaltung der beiden dauert mir zu lange.« In Begleitung von sechs Polizisten schritt der Kapitän durch die Höhlung. Leroy und Doris folgten ihm, und notgedrungen, auf Hearns sehr nachdrücklichen Wink, auch Huntington.

Es ging etwa zehn Meter lang durch einen schmalen und kaum mannshohen Gang. Dann lag plötzlich ein von mehreren Kerzen erleuchtetes größeres Zimmer vor ihnen. In einer Ecke knieten zwei Männer und stopften eifrig Geldscheine, Gold und Schmucksachen in Säcke.

»Hände hoch, Mr. Wilkins!« sagte der kleine Kapitän ruhig, und sechs Polizisten sprangen vor.

Wenn jemand erwartet hatte, bei der Verhaftung des großen Verbrechers Wilkins würde etwas Besonderes geschehen, so hatte er sich getäuscht. Tschuppik, alias Wilkins, hob seine Arme und ließ sich ohne weiteres fesseln. Der Mann, bei dessen bloßer Namensnennung tausende von Menschen gezittert hatten, unterschied sich hierin nicht im geringsten von dem kleinsten und harmlosesten Apfeldieb. Sieben geladene Revolver sprachen eine nur allzu deutliche Sprache. Auch der Strolch ließ sich fesseln, ohne ein Wort zu verlieren.

»Bleiben Sie bitte noch einen Augenblick da«, wandte sich Hearn an Huntington, der sich nach hinten zu verziehen versuchte. »Wir haben ja eine Vereinbarung getroffen. Sie wissen, es bleibt Ihnen noch eine ganze Stunde Zeit, wenn … na eben – wenn!«

Der Kapitän bückte sich über eine eiserne Falltür, schob einen schweren Riegel beiseite und mühte sich ab, die Tür zu heben. Aber erst mit Hilfe von zwei Polizisten gelang es ihm.

Die Lichter der Laternen fuhren in die Öffnung des Bodens. Ein enger Raum von höchstens vier Meter Länge und Breite und drei Meter Höhe wurde sichtbar. Am Boden kauerten mit verkrampften Gliedern und verzerrten Gesichtern zwei menschliche Gestalten. Man sah sofort, daß sie tot, erstickt waren. Hearn leuchtete ihnen ins Gesicht.

»Das habe ich leider erwartet«, sagte er leise. »Mr. Manhattan und Mr. Snyder …« Plötzlich drehte er sich heftig um. »Mr. Huntington, im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie unter der Anklage von mindestens einem Morde und einem Totschlag.«

»Ich bin an Manhattans Tod nicht schuld«, stöhnte der Detektiv, bleich wie die Wand. »Ich hielt ihn in der Hütte auf dem Berg gefangen, aber es gelang ihm zu fliehen. Und dann fiel er Wilkins in die Hände …«

»Dann hätten Sie eben besser auf ihn aufpassen sollen«, sagte Hearn mitleidslos. »Auf die Stunde Gnadenfrist hatten Sie nur Anspruch, wenn Manhattan bei der Verhaftung Wilkins' noch lebte.« Er winkte den Polizisten, Huntington abzuführen.

»Wie erklären Sie es sich denn«, erkundigte sich Leroy, »daß Manhattan und Snyder zusammen hierher kamen. Sie hatten doch nichts miteinander zu tun –«

»Die Erklärung ist einfach genug«, gab Hearn zurück. »Sehen Sie die Stricke dort? Manhattan war gefesselt, als er hier von Snyder und Wilkins eingesperrt wurde. Wissen Sie, daß Snyder Ingenieur war?«

»Nein, aber was sagt das?«

»Sehr viel. Snyder war ein Spießgeselle Wilkins'. Er hatte ein besonderes akustisches Schloß erfunden und diese Erfindung Wilkins verkauft. Er selbst hat auch diese Höhle mit dem akustischen Schloß gebaut. Es war eine teuflische Idee Wilkins', den Erbauer dieses schrecklichen Gefängnisses gleich mit hier einzusperren. Er wollte keine Mitwisser seines Geheimnisses haben. Oder hatten Sie einen anderen Grund, Wilkins?«

Tschuppiks Mienen waren ruhig und gefaßt, als er antwortete:

»Snyder wußte gleich allen anderen nicht, wer Wilkins war. Erinnern Sie sich an die Sache mit den Telegrammen? Ich gab Huntington und Snyder einen Verweis, weil ein Plan angeblich nicht ganz gelungen, und ein gewisser Mr. Tschuppik den Gewinn eingeheimst hatte. Daß der Plan in Wirklichkeit vollkommen geglückt war, wird Ihnen ja jetzt klar sein. Nun schwor aber Snyder diesem Tschuppik Rache. Er versuchte, ihn mit der Höllenmaschine zu beseitigen, und als das mißglückte, sann er auf neue Anschläge. Die Befehle Wilkins', Tschuppik in Ruhe zu lassen, nützten nichts. Sie werden einsehen, daß ich ihn schließlich töten mußte, obwohl er einer meiner besten Arbeiter war.«

»Und das akustische Schloß? Wie kam es, daß Sie die Melodie vergaßen?«

»Ich vergaß sie nie, ich konnte sie nur nicht singen. Das war mein ganzes Unglück, sonst wäre ich längst mit meinem Gelde entflohen. Snyder hatte mir leider nicht einmal gesagt, aus welcher Operette die fünf notwendigen Töne stammten.«

»Dann war es ein großer Zufall, daß heute nacht irgendein Hirte gerade diese Melodie sang!«

»Der Zufall wird nicht so unerklärlich sein, wie Sie denken. Snyder baute das akustische Schloß doch erst vor einigen Wochen ein. Da wird er hier vermutlich denselben Hirten dieselbe Melodie singen gehört haben –«

»Ich danke«, unterbrach ihn der Polizeibeamte. »Jetzt ist mir alles klar.« Plötzlich beugte er sich überrascht vor. »Was ist denn das?«

An der Wand des Raumes, in dem Manhattan und Snyder lagen, waren seltsame Zeichen eingeritzt. Hearn kletterte behend hinab und rückte seine Brille zurecht.

»Was ist es?« fragte nun auch Leroy.

»Das hat Manhattan kurz vor seinem Tode eingeritzt«, murmelte Hearn ernst. »Es ist Manhattans dreizehntes und letztes Testament!« Mit lauter Stimme las er vor: »Mein gesamtes Vermögen vermache ich zu gleichen Teilen – Doris und Evelyn Elmhurst, Frank Leroy, Wilbur Isatschik und meinem treuen Diener – Jack Hunter.«

Niemand sprach ein Wort. Da begann Hearn plötzlich leise zu kichern.

»Was haben Sie denn?« fragte Leroy etwas mißmutig.

»Nein so was!« rief Hearn verwundert. »Den Namen Wilbur Isatschik hat jemand auszukratzen versucht – man sieht ihn nur noch ganz undeutlich – und statt dessen Henry Snyder darüber geschrieben!«

»Schrecklich!« rief Leroy aus. »Stellen Sie sich nur vor: Manhattan fertigt mit Mühe, vielleicht schon in der Agonie des Todes dieses Testament an, und Snyder – in der Hoffnung auf seine Befreiung – ändert den Namen!«

»Schlimm, schlimm«, murmelte Hearn kopfschüttelnd. »Noch in letzter Minute eine Urkundenfälschung! Die Auseinandersetzung mit dem lieben Gott dürfte für Mr. Snyder recht peinlich werden …«


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