Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24

Doris war kreideweiß geworden. Mühsam rang sie nach Fassung.

Ein stürmisches Klopfen an der Tür riß sie endlich aus ihrer Versunkenheit.

»Machen Sie sofort auf!« rief Isatschik drohend. »Machen Sie auf, Leroy! Sonst … sonst hole ich die Polizei!«

»Er ist imstande und tut es«, murmelte Leroy grimmig und warf mit einem unterdrückten Fluch das Brett wieder auf die Öffnung. Dann schob er hastig einen Teppich darüber und ging, die Tür zu öffnen.

Wilbur stürzte herein, als wenn er erwartete, eine Leiche im Zimmer zu finden.

»Was geht hier vor?« fragte er, bemüht, in seinen Ton eine ungewohnte scharfe Note zu legen.

»Wir üben ein Theaterstück ein«, erklärte Leroy mit einem freudigen Grinsen.

»So?« Wilbur schien nicht ganz überzeugt. »Was hatte denn der Krach vorhin zu bedeuten, und warum liegt der Stuhl hier am Boden?«

»Das Theaterstück spielt im Gebirge«, berichtete Leroy, ohne mit der Wimper zu zucken. »Einer der Berge bricht zusammen. Miß Doris fällt in einen gähnenden Gletscherspalt.«

Wilbur kämpfte immer noch mit Zweifeln.

»Miß Doris, ist das wahr?«

Das Mädchen nickte krampfhaft.

»Was verschafft uns eigentlich die Ehre?« erkundigte sich Leroy, als er merkte, daß der Besucher keine Anstalten machte, den Grund seines Erscheinens zu erklären.

»Uns?« gab Wilbur zurück. »Sie meinen wohl, was Miß Doris die Ehre verschafft?« Er wandte sich an das Mädchen: »Ich wollte Ihnen und Ihrer Schwester erzählen, daß alles, was die Zeitungen schreiben, nicht wahr ist. Meine Mutter« – er räusperte sich – »und ich haben den Mörder Onkel Fredericks zwar gefunden, und nach den Ergebnissen der Voruntersuchung ist seine Verurteilung außer Zweifel, aber wir werden dennoch nicht Manhattans Erben. Wir nicht, Sie nicht, kein anderer –«

»Aber wieso? Das verstehe ich nicht«, meinte Doris beklommen.

»Das gesamte Vermögen Manhattans ist in der vergangenen Nacht aus dem Banksafe gestohlen worden«, sagte Wilbur feierlich und mit dem ganzen Stolz, den der Überbringer einer unerwarteten, und sei es auch der schlimmsten Botschaft empfindet.

»In der vergangenen Nacht?« rief Leroy erstaunt. »Was sagen Sie da?«

Wilbur achtete nicht darauf, daß Leroy sich nur für den Zeitpunkt des Diebstahls interessierte.

»Als am Morgen die Beamten die Bank betraten«, erzählte er, »stellten sie fest, daß der Safe Mr. Manhattans geöffnet worden war. Natürlich auch vollkommen geleert! Übrigens ist sonst nichts geraubt worden, und das Safeschloß weist keinerlei Spuren gewaltsamen Öffnens auf.«

»Sie sprechen so ruhig von alledem«, sagte Doris langsam, als wenn sie sich die einzelnen Worte zusammensuchen müßte. »Es entgeht Ihnen doch ein Riesenvermögen?«

Wilbur zuckte die Achseln.

»Meine Mutter ist sehr aufgeregt darüber«, entgegnete er ernst. »Das genügt vollkommen. – Übrigens werde ich natürlich handeln«, – er stand jetzt genau auf der Stelle des Teppichs, unter der sich das losgelöste Brett befand, – »ich werde die Millionen Manhattans suchen – – –«

»Sind die Aktiennummern schon gesperrt?« fragte Leroy.

»Selbstverständlich. Alles ist sofort gesperrt worden. Auch die Banknoten, obwohl von der Sorte nicht viel dabei war. Die Diebe werden es nicht leicht haben. – Aber ich muß jetzt gehen.« Wilbur nahm seinen Hut vom Stuhl und verneigte sich kurz. Niemand hielt ihn zurück.

»Wie anders der Junge sich gibt, wenn seine Mutter nicht dabei ist!« sagte Doris nach einer Weile zerstreut.

Leroy machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Stimmt. Wir haben aber im Augenblick andere Sorgen.« Er dachte nach. »Was bedeutet das alles? Wenn die Aktien erst in vergangener Nacht gestohlen wurden, dann können sie doch höchstens seit etwa zwölf Stunden hier verborgen sein. Waren Sie in der Nacht zu Hause?«

»Natürlich, ich –«

»Und Evelyn?« forschte er weiter.

»Ebenfalls. Wie können Sie denken –«

Leroy ließ sie den Satz nicht vollenden.

»Dann verstehe ich nichts mehr!« rief er wütend aus. Gedankenlos sah er nach der Uhr. »Um Himmelswillen!« entfuhr es ihm erschrocken. »Ich muß sofort ins Theater zur Probe!«

»Haben Sie denn auch nachmittags Proben?« meinte Doris enttäuscht, denn sie fürchtete sich jetzt ein wenig vor dem Alleinsein.

Leroy seufzte.

»Programmwechsel«, erklärte er achselzuckend. »Verrückter Einfall! Statt der zügigen neuen Revue spielen wir heute die alte Operette ›Dollarprinzessin‹, für die sich kaum noch jemand interessiert.«

»Wie? Ausgerechnet die ›Dollarprinzessin‹?« fragte Doris ungläubig.

»Die ausgefallene Idee eines Millionärs! Er hat für heute abend sämtliche Karten aufgekauft, aber ausdrücklich diese Operette zu sehen verlangt. Spleen! – Auf Wiedersehen!«

»Leben Sie wohl!« sagte Doris in Gedanken versunken. Ihr war Mr. Tschuppiks sonderbare Melodie eingefallen – – –


 << zurück weiter >>