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30

In St. Louis saß an einem hellen Fensterplatz im Café »Arkansas« der Detektiv Huntington, rauchte Zigaretten Und las Zeitschriften. Seine Mienen waren beherrscht, und die Blicke, mit denen er ab und zu die anwesenden Gäste streifte, kalt und leblos. Nur seine Hand zitterte leicht, wenn er die Kaffeetasse zum Mund führte oder ein Streichholz anbrannte. Er war nervös und unruhig und hatte Mühe, seinen Gleichmut zu bewahren.

Heute mußte es sich entscheiden, wer Sieger blieb – er oder Hearn. Die ständigen Mißerfolge seiner Bemühungen, den hinterlistigen Kapitän zu vernichten, hatten Huntington so weit gebracht, daß er jetzt entschlossen war, über die Grenze zu entweichen. Dieser Entschluß sah sehr nach Aufgeben des Kampfes aus, aber Huntington dachte viel zu nüchtern, als daß er auch nur einen Tag länger als nötig Freiheit und Leben aufs Spiel gesetzt hätte, um dadurch seinem Feinde zu imponieren. Was jener von ihm hielt, war ihm ziemlich gleichgültig; wesentlich war nur, ob ihm sein Vorhaben heute gelingen würde. Es war nicht anzunehmen, daß Hearn ihn ohne weiteres über die Grenze entwischen lassen würde; alles hing von den nächsten Stunden und besonders von seiner eigenen Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit ab.

Der Platz am Fenster war gut gewählt. Huntington saß mit dem Rücken gegen die mannshohen Glasscheiben, und die zwei »Geheimen«, die draußen auf der Straße auf und abgingen, hatten heute ein leichtes Arbeiten. Wenn es etwas klügere Leute gewesen wären, so hätte gerade der Umstand, daß der von Huntington gewählte Platz so günstig für ihre Zwecke war, sie stutzig machen müssen. Ein einziger Blick in das Innere des Kaffeehauses hätte sie davon überzeugt, daß sie diesmal nicht die Beobachter, sondern die Beobachteten waren. Huntington gegenüber an der Wand hing ein nicht sehr großer, aber breiter Spiegel, und jedesmal, wenn der Detektiv scheinbar achtlos aufblickte, sah er in diesem Spiegel die zufrieden lächelnden Gesichter der beiden Kriminalbeamten.

Ein einziges Mal – und das war der Zweck des so sinnreich gewählten Platzes – sah Huntington längere Zeit in den Spiegel. Das geschah in dem Augenblick, als ein Herr in hellem Überzieher und ebenfalls hellfarbigem Hut das Café betrat. Wäre dem Detektiv jetzt eine einzige heftige Bewegung oder sonst etwas Verdächtiges im Benehmen der Kriminalbeamten aufgefallen, so hätte er seinen ganzen, so schlau ausgeklügelten Plan sofort aufgegeben. Aber nichts Derartiges war zu sehen. Die beiden Männer plauderten anscheinend über alles andere, nur nicht über Kriminalfälle; sie schienen der Meinung, daß es vollkommen genüge, ihren Mann im Auge zu behalten.

Der eben Eingetretene sah sich prüfend nach allen Seiten um; nachdem er am Garderobeständer Hut und Mantel aufgehängt hatte, setzte er sich an einen von Huntington weit entfernten Tisch, bestellte sich eine Tasse Kaffee und trank in großen, durstigen Zügen. Dann stand er hastig auf und verschwand am andern Ende des Lokals in einem Gang, der nach den Toiletten führte.

Huntington hatte die ganze Zeit in seine Zeitschrift gestarrt, dabei aber den Neuankömmling unauffällig im Auge behalten. Als jener hinausging, straffte sich unwillkürlich die sehnige Gestalt des Detektivs. Jetzt galt es, geschickt zu sein. Er wußte, daß die nächsten fünfzehn Minuten alles entscheiden mußten.

Zunächst war seine Aufgabe einfach. Er streifte kaum merklich den linken Rockärmel zurück und sah nach seiner Uhr; dann saß er wieder still da und las. Es waren genau sieben Minuten vergangen, als er plötzlich aufstand. Jetzt war er so ruhig, als gelte es, eine harmlose Wette zu gewinnen. Ein flüchtiger Blick in den Wandspiegel ließ ihn erkennen, daß die Kriminalbeamten auf ihrem Posten waren. Ein grimmiges Lächeln huschte über Huntingtons Züge. Mochten sie nur! Um so größer würde dann die Überraschung und Enttäuschung sein.

Der Gang, den Huntington jetzt betrat, war leer und ziemlich dunkel. Immerhin wäre das, was jetzt geschah, jedem aufgefallen, der in diesem Augenblick den Gang betreten hätte: Zwei Männer, von denen der eine das Spiegelbild des anderen zu sein schien, begegneten sich und schritten mit einer knappen Verbeugung aneinander vorbei. Huntington betrat rasch den Toilettenraum und verschloß die Tür hinter sich. Er brauchte, gleich seinem Helfershelfer, genau sieben Minuten, um sich vollständig zu verwandeln, und als er nach Ablauf dieser Zeit wieder das Kaffee betrat, würde jeder geschworen haben, daß er der Herr sei, der vorhin in hellem Hut und Überzieher gekommen war und so hastig seinen Kaffee hinabgestürzt hatte.

Der erste Teil des Planes war gelungen. Beim Verlassen des Kaffeehauses stellte der Detektiv mit Befriedigung fest, daß die Geheimpolizisten verschwunden waren. Er lächelte schadenfroh beim Gedanken an die bestürzten Gesichter von Hearns Leuten, wenn jene beim Verhaften seines Doppelgängers merken würden, daß sie gefoppt waren.

*

Es war vier Uhr morgens, als Huntington die letzte große Station vor der Grenze erreichte. Der Detektiv saß in dem überfüllten Abteil eines Personenzuges und las religiöse Traktate, von denen er einen ganzen Stoß neben sich aufgestapelt hatte. Er war nicht nur ein Meister der Maske im allgemeinen, sondern achtete auch auf die tausenderlei Kleinigkeiten, die genau zu seiner jeweiligen Verkleidung passen mußten. Die große Brille, der wohlgepflegte, graumelierte Backenbart, der hohe steife Kragen – alles das verlieh ihm ein gesetztes, würdiges Aussehen, und es läßt sich nicht bestreiten, daß die Lektüre moderner Zeitschriften und Witzblätter unter solchen Umständen aufgefallen wäre. Wenn er es vermocht hätte, so würde er sogar ein Nichtraucherabteil gewählt und auf den Genuß des Rauchens verzichtet haben, doch fürchtete er ohne dieses Beruhigungsmittel im entscheidenden Augenblick allzu große Nervosität an den Tag zu legen. Von seiner gewohnten Zigarette hatte er aber doch abgesehen und qualmte ununterbrochen billige und übelriechende Zigarren.

Als der Zug in Cotulla einfuhr und die Bremsen kreischend anzogen, öffnete Huntington das Fenster, steckte den Kopf hinaus und spähte suchend umher.

Ein Beamter mit dem Abzeichen der Bahnpost rannte den schmalen Bahnsteig auf und ab und schrie aus Leibeskräften. Es dauerte eine Weile, bis man seine Worte verstehen konnte.

»Telegramm für Reverend Philipp Mackenzie!«

Huntington winkte ihn heran und reichte ihm seinen Paß, in den der andere flüchtig Einsicht nahm, worauf er dem Detektiv die Depesche übergab. Gleich darauf saß Huntington wieder in seiner Ecke und öffnete pedantisch und nicht zu hastig mit einer kleinen Schere den Verschluß des Telegramms.

»Verhaftung gestern 15.56 von Hearn persönlich vorgenommen«, las er, und ein zufriedenes Lächeln kräuselte seine Lippen. Somit war auch dieser Teil seines Planes geglückt. Demnach war Hearn vor etwa zehn Stunden mehr als anderthalb Tagereisen von hier entfernt gewesen. Zweifellos waren jetzt schon sämtliche Polizeitelegraphen und Radiosender in fieberhafter Tätigkeit, um alle Grenzstationen zu alarmieren. Doch was nützte dies alles? Der Kapitän hatte ja viel zu wenig Zeit gehabt, nach der Verkleidung und dem gewählten Namen des Flüchtlings zu forschen und konnte selbst nicht rechtzeitig hier erscheinen. Er hätte ein Hexenmeister sein müssen, wenn ihm dies gelingen sollte. Bis morgen vielleicht, aber dann würde Reverend Mackenzie längst in Mexiko City sein und von dort wiederum mit anderer Maske und Namen, im Besitz eines Passes, dessen Fälschung nur Sachverständige, niemals aber die plumpen Grenzer erkennen konnten, nach Guatemala weiterreisen.

Die Fahrt verlangsamte sich, und der Zug hielt.

»Zollkontrolle! Pässe vorzeigen!« hallte es gebieterisch und wenig freundlich durch die Gänge der Wagen.

Als der angebliche Reverend dem Kontrollbeamten den Paß reichte, sah er nicht einmal von seinem Blatt auf. »Ostmission« schrie es förmlich den Beamten mit großen, dicken Buchstaben von dem Titelblatt an.

»Reverend Philipp Mackenzie?« fragte er und blätterte im Paß.

Huntington überlief es heiß. Warum fragte der Mann, und warum besah er sich den Paß so genau? Ohne einen Augenblick aus der Rolle zu fallen, rückte der Detektiv seine goldene Brille langsam auf die Stirn und sah flüchtig auf.

»Mein Name ist Mackenzie. Was wünschen Sie von mir?«

»Bitte begleiten Sie mich zur Station. Eine kleine Formalität – es fehlt ein Stempel in Ihrem Paß.«

Der Reverend erhob sich bereitwillig und folgte dem Polizisten mit knappen und etwas hastigen Schritten über den schwach beleuchteten Bahnsteig. Nach außen hin bewahrte er vollkommen seine Ruhe, aber sein ganzes Innere war in Aufruhr. Was mochte das alles bedeuten? Daß der gefälschte Paß irgendwie nicht in Ordnung war, hielt er für gänzlich ausgeschlossen, da er sich in solchen Sachen zu gut auskannte und noch nie einen falschen Paß so genau geprüft hatte wie diesen; ebenso undenkbar aber war, daß Kapitän Hearn in der kurzen Zeitspanne schon seine Spur gefunden hatte.

Man war auf der Bahnhofswache angelangt. Ein langer Tisch stand in der Mitte des kahlen Raumes, und daran saßen auf ein paar umgekippten Kisten mehrere Polizeibeamte. Huntingtons Begleiter sprach halblaut mit einem von ihnen, einem älteren Manne, der als einziger in Zivil war. Es entging dem Detektiv nicht, daß einer der Polizisten wie zufällig bei der Tür Aufstellung nahm.

»Reverend Mackenzie?« wandte sich der Zivilist mit derselben Frage wie vorhin sein uniformierter Kollege an Huntington.

»Ja, das ist mein Name«, erwiderte der Detektiv etwas ungeduldig. »Beeilen Sie sich bitte ein wenig mit Ihren Fragen, denn mein Zug geht gleich ab.«

»Ich bedaure außerordentlich«, sagte der andere höflich, »aber ich kann Ihnen die Weiterreise leider nicht gestatten.«

»Wie? Sie wollen mich an der Fortsetzung meiner Reise hindern? Mit welchem Recht?«

Der Beamte blätterte in verschiedenen Schriftstücken.

»Eine Zustellung des New Yorker Kriminalamts besagt, daß Sie in drei Tagen als Zeuge bei einem wichtigen Prozeß gegen eine berüchtigte Mädchenhändlerbande zu erscheinen haben«, lautete die kühle Antwort.

»Als Zeuge …? Bei einem Prozeß gegen Mädchenhändler?« Huntington traute kaum seinen Ohren. Waren denn die Leute ganz verrückt? »Wer ist geladen? Reverend Mackenzie?« fragte er ungläubig.

»Ja doch – Sie! Ich sagte es doch deutlich.«

Die Gedanken im Hirn des Detektivs überstürzten sich. Das war ja ganz unmöglich! Er hatte doch den Titel und Namen »Reverend Mackenzie« frei erfunden und führte ihn erst seit vierundzwanzig Stunden. Wie konnte er da unter diesem Namen als Zeuge geladen werden? Wie dem nun auch sei, es hieß, gute Miene zum bösen Spiel machen und rasch handeln.

»Ah, jetzt erinnere ich mich«, sagte er nachdenklich. »Das ist mir aber furchtbar unangenehm. Ich muß unter allen Umständen heute bei einer Konferenz der Missionsgesellschaften in Monterey sein. In zwei Tagen bin ich ja wieder in New York … Ich habe einen Gedanken – das ist ein Ausweg! Sie werden doch gewiß nichts mehr gegen meine Weiterreise einzuwenden haben, wenn ich eine Kaution von zehntausend Dollars stelle?«

Der Beamte sah seinen Kollegen ziemlich ratlos an.

»Nun, ich glaube, in diesem Falle könnte ich die Verantwortung auf mich nehmen …« sagte er langsam und zögernd. Plötzlich verdüsterte sich sein Antlitz. Einer der Polizisten war an den Tisch getreten und tippte mit dem Finger auf eine Stelle des Schriftstückes. »Es tut mir sehr leid«, fügte der Zivilist achselzuckend hinzu. »Ich kann es doch nicht tun. Im Brief des New Yorker Kriminalamts steht der handschriftliche Zusatz: Etwaiges Kautionsangebot ablehnen.«

Huntington wandte sich rasch um. Durch die offene Tür sah er, wie der Schaffner das Abfahrtszeichen für den Zug gab.

»Ich muß mit! Ich muß mit!« schrie der angebliche Reverend in heller Verzweiflung auf.

Ein schriller Pfiff, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

»Sie müssen verstehen«, begann der Beamte in Zivil. »Ich tue nur meine Pflicht …« Er schwieg entsetzt. Die schwarze Mündung eines Revolvers starrte ihm entgegen.

Huntington schoß sofort. Fast in derselben Sekunde hatte er sich herumgeworfen und sprang auf den Polizisten zu, der die Tür besetzt hielt. Ein Fausthieb gegen den Magen genügte, um den Weg freizumachen. Noch einmal wandte Huntington sich um und hob seinen Revolver. Diesmal galt aber der Schuß keinem Menschen, sondern die Kugel schlug mit hellem, metallischem Klang in den Sender der in der Ecke montierten Radioanlage ein. Mit einem Sprung setzte der Detektiv über den vor der Tür liegenden und nach Luft schnappenden Polizisten hinweg, stürmte auf den Bahnsteig hinaus und rannte in Riesensätzen mit flatternden Rockschößen hinter dem Zuge her. Einige Reisende an den Fenstern lachten laut auf über den grotesken Anblick, den der gesetzte und würdige Priester in diesem Augenblick bot. Es war wirklich bewunderungswürdig, mit welcher Gewandtheit der ältliche Reverend sich gleich darauf in den letzten Wagen des bereits in voller Fahrt befindlichen Zuges schwang.

Ein Schaffner stand mit zitternden Knien daneben und wagte doch nicht, ihm bei dem halsbrecherischen Sprung zu helfen, weil er dadurch sein eigenes Leben gefährdet hätte.

»Goddam!« fluchte er, als Huntington nun mit pfeifendem Atem vor ihm stand. »Müßt's ja ganz unheimlich eilig haben …«

»Hab' ich auch, hab' ich auch«, ächzte der »Reverend«.

Innerlich frohlockte er. Niemand im Zuge hatte das gesehen, was sich in jener Bretterbude zugetragen. Die Radioanlage war unbrauchbar gemacht, und ein Telegramm konnte den Zug erst auf der nächsten Station erreichen. Huntington kannte den Fahrplan: der Zug hielt vor der Grenze nicht mehr. Nur noch zwei Minuten Fahrt, dann war alles vorbei und überstanden. Dieser Schaffner war der einzige, der ihm noch gefährlich werden konnte. Es galt, jeden möglichen Verdacht im Keime zu ersticken.

»Ich muß zur Konferenz der Ostmission«, erklärte Huntington eifrig. »Wissen Sie, das ist so eine Gesellschaft, die im fernen Osten unseren alten, ehrwürdigen Christenglauben unter den Heiden verbreitet.«

»So, so …« murmelte der Schaffner bewundernd, und seine Achtung vor den Vertretern der Ostmission wuchs ins Ungemessene. Die Konferenz dieser würdigen Herren mußte doch für die armen Heiden von außerordentlicher Wichtigkeit sein, wenn der Reverend deswegen solch selbstmörderische Sprünge wagte.

Plötzlich bemerkte Huntington, daß der Zug scharf bremste.

»Was ist das?« rief er erschrocken. »Halten wir noch einmal?«

Der Schaffner streckte den Kopf vor und spähte hinaus.

»Eben nicht. Ich wundere mich selbst …«

Mit einem Ruck hielt der Zug. Eine neue Gefahr! Ohne sich erst lange zu besinnen, sprang Huntington aus dem Wagen. Ganz in der Nähe sah er Polizistenuniformen. Mit einigen Sprüngen hatte er eine Straße erreicht. Hundert Meter bis zum Walde! wirbelte es ihm durch den Kopf.

Ein Knattern von Motoren ward hinter ihm hörbar. Er lief weiter, aber seine Hoffnung schwand. Gleich darauf waren auch schon zwei Polizisten auf Krafträdern an seiner Seite.

»Hände hoch, Mackenzie!« rief der eine und sprang mit vorgehaltenem Revolver von seiner Maschine.

Huntington leistete wortlos Folge. Seltsam, dachte er, auch dieser Kerl nennt mich Mackenzie.

»Good morning, Mister – ehem – Reverend Mackenzie«, sagte da eine verhaßte Stimme hinter ihm.

Der Detektiv fuhr herum, wie von einer Tarantel gestochen.

Lächelnd, die Hände in den Taschen seines fadenscheinigen Rockes und einen halbzerkauten Zigarrenstummel im Mundwinkel, stand Kapitän Hearn vor ihm.

*

»Sie haben Pech gehabt, Mr. Huntington«, sagte der kleine Beamte gemütlich, als die beiden sich im Arrestantenabteil eines Expreßzuges gegenübersaßen und mit achtzig Kilometer Stundengeschwindigkeit New York zufuhren.

Huntington schwieg. Obwohl seit seiner Festnahme schon über vierundzwanzig Stunden vergangen waren, trug er noch immer die Maske des Reverend Mackenzie; seine Hände und Füße steckten in Stahlfesseln, und der Browning, den Hearn spielend in seinen Fingern drehte, tat ein übriges, um ihm die Lust an einer Unterhaltung zu nehmen. Das Spiel war verloren, er wußte es nur zu gut.

»Sie haben ausnehmendes Pech gehabt«, wiederholte der Polizeibeamte und lächelte stillvergnügt. »Alles war so schlau ausgedacht, daß ich Ihnen das Entkommen fast gegönnt hätte. Aber was wollen Sie – Pflicht ist Pflicht! Und wenn es einem so bequem gemacht wird, wie diesmal mir – – – Stellen Sie sich mal vor: ich verhafte Ihren Doppelgänger, entdecke fünf Minuten darauf den verhängnisvollen Irrtum, und nach weiteren fünf Minuten sitze ich schon mit drei handfesten Polizisten im Doppeldecker und hui – los geht's!«

»Ich hatte Pech, Sie hatten Glück«, ließ sich der Verhaftete endlich zu einer Bemerkung herab. »Ich verstehe nur nicht, wie Sie in der kurzen Zeit – binnen fünf Minuten, wie Sie sagen – ein Flugzeug auftreiben und feststellen konnten, unter welchem Namen ich floh.«

Hearn schmunzelte.

»Mir flatterte ein Briefchen zu«, erklärte er heiter. »Wollen Sie es lesen?« Er holte ein zerknittertes Schreibmaschinenblatt aus der Tasche, glättete es sorgfältig und hielt es seinem Gefangenen vor die Augen.

Huntington las:

»Kapitän Hearn, New Yorker Polizeipräsidium. Huntington, maskiert, mit gefälschten Papieren, als Reverend Mackenzie unterwegs nach Mexiko. Passiert Grenze 2 Uhr 26, über Laredo. Habe gefälschtes Schreiben, angeblich vom Kriminalamt, New York, an die Grenzstation abgeschickt, demzufolge Flüchtiger dort zunächst festgehalten werden wird. Empfehle Ihnen höchste Eile, da Verbrecher sehr schlau, und es nicht ausgeschlossen scheint, daß er durch Trick nach kurzer Zeit Freilassung erwirkt. Nehmen Sie Auto zum Flugplatz. Dort wird für Sie nebst Begleiter eine Maschine startbereit gehalten.«

»Eine Anzeige«, murmelte Huntington. Zum erstenmal seit seiner Verhaftung verriet seine Stimme Erregung.

»Eine Anzeige«, gab Hearn zu. »Warum sollte ich ihr auch nicht Folge leisten? Schlimmstenfalls war es eine zwecklose Spazierfahrt. Geschehen konnte mir nichts, – ich nahm doch meine eigenen Leute mit; und dafür, daß die Maschine in Ordnung war, haftete ja der Pilot mit seinem Leben.«

»Daher also …« Huntington dachte nach. »Die Anzeige ist natürlich anonym, hm … möchte wissen, wer –«

»Aber durchaus nicht«, ereiferte sich der Kapitän. »Keineswegs ist die Anzeige anonym; ich hatte den Namen nur mit dem Finger verdeckt.«

»Wer? Wer?« fragte Huntington heiser.

»Ein gewisser Mr. Wilkins«, antwortete Hearn, und seine kleinen Augen blitzten schadenfroh hinter den Gläsern.

Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Verhafteten. Verstört, mit schreckhaft geweiteten Pupillen starrte er seinen Häscher an.

»Wilkins?« stotterte er endlich.

»Nun ja … Haben Sie mit ihm einen Streit gehabt?«

»Ja, ja …« murmelte Huntington zerstreut.

Hearn lächelte.

»Eigentlich ein recht undankbares Geschöpf – dieser Wilkins! Wenn man bedenkt, daß mir in letzter Stunde, knapp bevor ich soweit war, ihn zu verhaften, meine Sammlung von Fingerabdrücken aus dem Schreibtisch geklaut wurde … Und wenn man bedenkt, daß nur Sie ihn vor der drohenden Gefahr gewarnt haben können … Wie verdorben doch heute die Menschheit ist! Sogar die Verbrecher!«

»So? Die Abdrücke sind Ihnen gestohlen worden?« fragte Huntington, und es klang ein wenig schadenfroh. »Da sind Sie mit Ihrer Weisheit wohl wieder mal fertig und sitzen auf dem Trockenen?«

»Es ist nicht so schlimm«, gab Hearn zurück. »Nebenbei bemerkt, sitze ich viel lieber trocken als feucht. Nein, es ist nicht so schlimm. Es wird kaum länger als zwei oder drei Tage dauern, bis ich die elf Fingerabdrücke neuerdings gesammelt habe.«

Huntington antwortete nicht und starrte grübelnd vor sich hin. Hearn sah nach der Uhr.

»In fünfundzwanzig Minuten sind wir in New York«, rief er plötzlich. Dann bückte er sich und öffnete zur Verblüffung Huntingtons den Verschluß der Handfesseln. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten Zeit, Reverend Mackenzie«, fuhr er fort und lehnte sich, den Browning im Anschlag, in seine Ecke zurück. »Binnen zehn Minuten verwandeln Sie sich wieder in den Detektiv Huntington. Dann können Sie gehen, wohin Sie wollen – nur nicht über die Grenze!«

»Warum? Warum das?« stieß Huntington hervor.

»Sehr einfach –: mir liegt nach wie vor nichts an Ihrer Festnahme, solange ich diesen Wilkins nicht habe. In zwei oder drei Tagen weiß ich, wer er ist … hm … Nun, ich glaube nicht, daß er dann noch in den Vereinigten Staaten anzutreffen sein wird. Folglich muß ich ihn rascher zur Strecke bringen – mit Ihrer Hilfe! Ich kenne Sie soweit genug, um zu wissen, daß Sie im Augenblick keinen anderen Wunsch haben, als sich an Wilkins zu rächen. Sie brauchen mir seinen Namen nicht zu nennen, – auch ohne dies werden Sie ihn mir verraten, sobald Sie mit Ihrem Rachezug beginnen. Haben Sie mich verstanden?«

Huntington hatte ausgezeichnet verstanden. Es fiel ihm nicht leicht, sich jetzt zu beherrschen und seine Freude nicht gar zu deutlich zu zeigen. Das war ja der Fehler in Hearns Berechnung: Immer noch glaubte er, Huntington kenne Wilkins …

Das dünne Stimmchen des kleinen Beamten unterbrach den Gedankengang Huntingtons:

»Passen Sie jetzt auf: Außer Ihnen, Wilkins und mir weiß niemand, wer Reverend Mackenzie war. In zehn Minuten, wenn Sie das Abteil verlassen haben, konstruiere ich einen gelungenen Fluchtversuch des … hm …« – er lächelte spöttisch – »… hohen Geistlichen. Mit allem, was dazu gehört: Geniale, unerklärliche Befreiung von den Fesseln, Fausthieb in meine Nierengegend, Sprung durchs Fenster und dergleichen mehr – ganz so wie bei einer Filmaufnahme. Auf meinen guten Ruf hin kann ich es mir schon leisten, einmal zu sündigen und einen Gefangenen entkommen zu lassen.«

»Sie spielen ein gefährliches Spiel. Wilkins wird Sie dafür umbringen«, sagte Huntington böse. Dann aber zog er einen Spiegel aus der Tasche und begann, fieberhaft zu arbeiten. Noch vor dem von Hearn bestimmten Zeitpunkt war er fertig.

Der Kapitän befreite ihn nun auch von den Fußfesseln und verbeugte sich höflich.

»Leben Sie wohl, Sir«, sagte er nicht ohne Feierlichkeit. »Merken Sie sich's aber – erwische ich Sie noch einmal an der Grenze, so muß ich Sie sofort ins Zuchthaus sperren lassen. Wenn Sie also erst ein paar Wochen später dahin wandern wollen – Sie verstehen –«

»Ich verstehe«, entgegnete Huntington kalt und trat auf den Gang hinaus.

Unmittelbar darauf hielt der Zug mit einem Ruck. Türen klappten, aufgeregte Schreie gellten. Hearn sprang wie verrückt im Gang umher und jagte seine Polizisten durcheinander.

»Er ist entflohen! In voller Fahrt abgesprungen!« schrie er aus Leibeskräften und preßte die Hände grimassenschneidend auf die Stelle des Magens, wo er seine Nieren vermutete.

Huntington hielt es nicht für nötig, länger zu warten.

Er stieg ab und wanderte längs des Gleises der nächsten Station zu. Ungehindert ließen ihn die Polizisten vorbei. Man kannte ja den berühmten Detektiv.

Als er nach Bezahlung einer größeren Geldstrafe die Sperre in der kleinen Station passiert hatte und rüstig die Straße von Jersey entlangschritt, weilten seine Gedanken nicht mehr bei Hearn. Größer als seine Wut und Furcht vor diesem, war jetzt seine Angst und sein Haß gegen jenen andern – – – Wilkins.


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