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Die Abendblätter brachten eine kurze Mitteilung über den mutmaßlichen Unfall des Fahrkartenkontrolleurs Al Fuller. Zwei Blätter sprachen die Vermutung aus, es liege ein Mord vor, die meisten begnügten sich damit, ohne Erläuterung die Angaben der Polizei abzudrucken. Nur das New York Daily Journal, eine wenig verbreitete und noch weniger gelesene Zeitung, hatte gewagt, das Wort »Mord« fett gedruckt als Überschrift einiger knapper Zeilen zu setzen, durch die den Lesern für die nächste Morgenausgabe sensationelle Enthüllungen versprochen wurden. Dieses Blatt war auch das einzige, das von dem im Tunnel bei Norwalk gefundenen und beinah überfahrenen Mädchen berichtete und dieses Ereignis mit dem Mord an dem Kontrolleur in Zusammenhang brachte.

Niemand hätte es geglaubt, daß am nächsten Tage das Polizeipräsidium fünfundzwanzigtausend Exemplare der Morgenausgabe aufkaufen und von weiteren Käufen nur deshalb absehen würde, weil keine einzige Nummer mehr verkäuflich war.

Außer der Schriftleitung und den Mitarbeitern des New York Daily Journal gab es bis neun Uhr früh in ganz New York keinen Menschen, der sich für die Morgenausgabe mit den versprochenen sensationellen Mitteilungen interessiert hätte. Um neun Uhr begannen die Zeitungsjungen wie verrückt ihre Nummern auszuschreien, und nur durch die vielversprechenden Schlagworte herangelockt, fing das Publikum an, langsam zu kaufen. Um halb zehn Uhr aber lag eine Nummer der Ausgabe vor dem Polizeipräsidenten, und der tüchtige Konstabler, der sie ihm gebracht hatte und durch diese einfache Tat seine Beförderung sicherstellte, starrte erhitzt und schwer atmend auf die röter und röter werdende, kugelförmige Glatze seines Gebieters.

»Beschlagnahmen!« brüllte der Allgewaltige auf und trommelte wie besessen mit beiden Fäusten auf den Tisch.

»Ich habe mich erkundigt«, antwortete der übereifrige Beamte. »Keine Nummer befindet sich mehr im Redaktionsgebäude. Alles ist bereits unter die fliegenden Händler verteilt.«

»Beschlagnahmen!« kreischte der Herrscher über ein Heer von Polizisten, und das Rot seiner Glatze nahm einen bläulichen Schimmer an. »Beschlagnahmen! Beschlagnahmen! …«

Er schrie es noch, als der dienstbeflissene Konstabler längst aus dem Zimmer war, und sämtliche Fernsprechleitungen des Riesengebäudes mit dem Übermitteln dieses kategorischen Befehls beschäftigt waren.

Zehn Minuten später überflutete ein Massenaufgebot von Polizisten die Straßen New Yorks. Eine wilde Jagd nach den Zeitungsverkäufern setzte ein. Das Publikum, aufmerksam geworden, begann sich für die Zeitung zu interessieren. Die Nummern wurden den Jungen, die gleich Wieseln hin und her rannten und überall durchschlüpften, vor den Augen der Polizei aus der Hand gerissen. Die Preise gingen ruckweise in die Höhe. Um zehn Uhr zahlte man einen halben Dollar für das fünf Cents kostende Blatt, und um halb elf war keines mehr unter einem Dollar zu haben.

Das Ergebnis der Beschlagnahme war geradezu vernichtend: um elf Uhr hatte man erst viertausend Exemplare beisammen. Es war, als wenn die Zeitungsjungen sich verabredet hätten: Keiner hatte mehr als zwanzig Nummern auf einmal in der Hand. Hatte er diese verkauft oder waren sie ihm von Polizisten entrissen worden, so holte er stets mit einem pfiffigen Schmunzeln aus einem schier unversiegbar scheinenden Vorrat neue und immer neue Nummern. Man schritt zu Verhaftungen. Es nützte nichts. Brüder, Schwestern und Freunde der Festgenommenen setzten den schwungvollen Handel unverdrossen in neuer Frische fort.

Es war halb zwölf, als der Polizeipräsident düster und erschöpft das eine Wort: »Kaufen!« sprach. Es war ein Stöhnen, kein Befehl mehr.

»Die Kerle verlangen jetzt zwei Dollars pro Nummer«, antwortete man ihm, »und die Auflage der heutigen Zeitung ist laut Aufdruck zweihunderttausend Stück.«

»Kaufen!« ächzte der Polizeipräsident heiser.

Man kaufte. Bis halb ein Uhr hatte man insgesamt fünfundzwanzigtausend Nummern beisammen.

»Kaufen!« knirschte der Allgewaltige bleich vor Wut, da der Strom der eingelieferten Nummern zusehends spärlicher wurde.

Um ein Uhr gab es nichts mehr zu kaufen. Es war undenkbar, daß in der kurzen Zeit vor Augen der verfolgenden Polizei 171 000 Exemplare verkauft worden waren. Es gab nur eine Erklärung: ein anderer hatte auch gekauft. Der Polizeipräsident wußte, wer es war: sein ärgster Feind, der gefährlichste Verbrecher in der Union war ihm diesmal zum Verbündeten geworden.

Um zwei Uhr war im Polizeipräsidium Ruhe eingetreten. Das Laufen, Jagen und Hetzen hatte aufgehört. Auf leisen Sohlen schlich man am Zimmer des Präsidenten vorbei. Er aber saß still an seinem Schreibtisch und starrte dumpf brütend in die unselige Zeitung. Immer wieder, zum hundertsten Male las er den Artikel, obwohl er ihn schon fast auswendig konnte.

Der Artikel war unterschrieben: E. C. Poor. Dieser Name wirkte auf den Polizeipräsidenten wie ein rotes Tuch auf den Stier. Der Reporter Poor war der einzige Mitarbeiter des Revolverblatts, der wirklich ernst zu nehmen war, da er längere Zeit bei großen, namhaften Blättern gearbeitet hatte, und sein Name dem Publikum nicht unbekannt geblieben war. Ein derartiger Artikel, von ihm unterschrieben, mußte natürlich viel Staub aufwirbeln.

Der Aufsatz trug als Überschrift die Worte »Ungeklärte Verbrechen«, und in seinem ersten Teil begnügte sich der Reporter mit einer knappen Schilderung des mutmaßlichen Mordes am Kontrolleur und der Auffindung des Mädchens im Tunnel, das noch immer bewußtlos im Krankenhaus von Stamford lag und bis jetzt nicht identifiziert werden konnte. Der zweite Teil dagegen enthielt Betrachtungen, die geeignet erschienen, größtes Aufsehen zu erregen.

»Ein nicht aufgeklärtes Verbrechen! Eines von vielen, vielleicht tausenden, zehntausenden …« schrieb Poor. »Ein Tropfen im Meer, – wer regt sich darüber auf? Stillschweigend geht die Polizei zur Tagesordnung über: es hat schon immer unaufgeklärte Verbrechen gegeben … Gewiß, ein ungesühntes Verbrechen mehr oder eins weniger, wäre kein Grund, um darüber viele Worte zu verlieren. Wir richten aber an den verantwortlichen Leiter der Polizei die Frage, warum dabei ein gewisser Umstand so streng geheim gehalten wird; ein Umstand, den zu kennen das Recht jedes Bürgers, und den bekanntzugeben die unabweisbare Pflicht der Behörden ist? Warum verheimlicht die Kriminalpolizei, daß fast die Hälfte aller unaufgeklärten Verbrechen der letzten Monate auf das Konto eines einzigen, mächtigen Mannes zu setzen ist? (Das Wort ›mächtigen‹ dürfte in Anbetracht der fruchtlosen Bemühungen der Polizei, seiner habhaft zu werden, durchaus berechtigt sein.) Warum wird das Aktenmaterial über diesen Mann in einem geheimen Raum aufbewahrt, und warum steht in den Akten anstatt seines vollen Namens stets der Buchstabe ›W‹, obwohl den leitenden Beamten nur zu gut bekannt ist, daß der Name Wilkins lautet?

Wir wissen schon jetzt, daß die Akten ›Al Fuller‹ in ein bis zwei Wochen unter dem Zeichen ›W. 104‹ oder vielleicht auch ›W. 105‹ in jenen Geheimraum wandern und ihrer Nachfolger harren werden, genau wie die 103 Aktenbündel, die dort bereits begraben liegen. Von diesen 103 Fällen betreffen: 59 ein- oder mehrfachen Mord, 27 schweren Einbruch, 14 Freiheitsberaubung und Mißhandlung und endlich 3 geglückte Anschläge auf öffentliche Verkehrsmittel, – mit einem Verlust von 32 Menschenleben.

Insgesamt sind dem raffinierten Verbrecher gemäß diesem Geheimarchiv 112 Menschenleben zum Opfer gefallen, darunter sieben Polizeibeamte. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, daß in jenem Geheimarchiv nur die Akten über solche Fälle verwahrt sind, in denen die Spuren ganz einwandfrei auf den geheimnisvollen Wilkins hinweisen; wo es nur irgend anging, wurden die Akten der ungeklärten Verbrechen unter anderen, weniger anstößigen Rubriken eingeordnet. Demnach ließe sich die Liste der beklagenswerten Opfer dieses Mannes vielleicht verdoppeln, ja verdreifachen.

Was ist das? Korruption oder völlige Unfähigkeit der Polizei im Kampfe gegen einen Verbrecher, der über dem Durchschnitt steht? Wir behaupten: Beides. Die Polizei ist nur darauf eingestellt, Verbrecher zu bekämpfen, deren Intelligenz die der schwerbestiefelten und hohlköpfigen Geheimpolizisten nicht überragt, und jeder Verbrecher, dessen Methoden sich auch nur unwesentlich vom Althergebrachten unterscheiden, muß Sieger bleiben. –

Wilkins! Zum ersten Male wird dieser Name der Öffentlichkeit genannt. Untenstehend bringen wir drei Lichtbilder des Verbrechers in drei verschiedenen Verkleidungen. Daß diese Bilder aus dem Archiv des Erkennungsdienstes der Polizei stammen, ist ein weiterer Beweis dafür, wie unfähig diese Leute sind, ihre Geheimnisse zu wahren, und mit welch verurteilenswerter Konsequenz sie es zu vermeiden suchen, die Öffentlichkeit von ihren Schlappen in Kenntnis zu setzen; selbst auf die Gefahr hin, daß die letzte Möglichkeit nicht ausgenutzt wird: den Mann mit Hilfe und Unterstützung des Publikums zu fangen.

Wir fordern alle unsere Leser auf, an der Festnahme Wilkins' mitzuwirken! Wer den Mann in einer der untenstehenden Masken je gesehen hat, wird gebeten, sich sofort mit uns in Verbindung zu setzen. Wir geben bekannt, daß wir ein Material über Wilkins gesammelt haben, das hinter dem der Polizei nicht zurücksteht, da es außer unserem eigenen auch die Abschriften der Polizeiakten enthält. Wir sind davon überzeugt, daß wir in kurzem den genialen Verbrecher zur Strecke bringen werden, allerdings mit etwas zeitgemäßeren Mitteln, als sie das Kriminalamt anwendet.

Unsere Mittagsausgabe bringt weitere Enthüllungen.«

*

Dieser Artikel hatte ganz eigentümliche Folgen.

Mit Spannung sah man dem Erscheinen der Mittagsausgabe entgegen. Scharenweis sammelten sich die Menschen vor dem Redaktionsgebäude, doch ihre Hoffnung auf neue Sensationen wurde vorläufig enttäuscht. Das große Eisentor des grauen Gebäudes war geschlossen, die Fenster dicht verhangen, und nichts ließ darauf schließen, daß in der Redaktion gearbeitet wurde. Man wartete bis drei, man wartete bis vier Uhr. Um halb fünf trat ein Lehrling aus dem Tor und brachte an der Wand einen Zettel an. Man las und verstand nichts.

»Heute um zwei Uhr mittags hat das New York Daily Journal seinen Besitzer gewechselt. Das Erscheinen der Zeitung ist eingestellt. In etwa zwei Wochen – hier Eröffnung eines Marmeladengeschäftes, en gros, en detail.«

Ein Murren ging durch die erregte Volksmenge. Jeder fragte, keiner wußte Antwort.

Plötzlich ein lauter Schrei: »Wilkins hat die Zeitung gekauft!«

Dieser Ausruf schlug wie eine Bombe ein. Man stürmte das Tor. Man hetzte die Treppen hinauf. Leere Räume, hier und dort ein umgeworfener Tisch oder Stuhl, in den Ecken Pakete von alten Zeitungen.

Es roch nach verbranntem Papier. Jemand öffnete eine Ofentür: Papierasche! Und dann wußten es alle: Sämtliche Öfen im Redaktionsgebäude waren glühend heiß und vollgepfropft mit verkohlten Papierresten.

Nur mit Mühe gelang es einem größeren Polizeiaufgebot, die erregte Menge zu beruhigen und das Haus zu räumen.

Von fünf bis acht Uhr abends herrschte in den Gängen des Polizeipräsidiums drückende Stille. Jeder wußte es: in einem kleinen Saal wurde eine Geheimsitzung abgehalten. Punkt acht Uhr abends war die Beratung beendet, und Kapitän Hearn schritt mit wichtiger Miene zwischen dem Polizeipräsidenten und dem Minister zu dessen elegantem Mercedes-Kompressor. Es nahm sich eigentümlich aus, den schmächtigen kleinen Kriminalbeamten in seinem abgetragenen und stellenweise speckig glänzenden Übergangsmantel neben der massigen Gestalt des in kostbare Pelze gehüllten Ministers tief in den Polstern lehnen zu sehen.

In der Tasche Hearns ruhte wohlverwahrt ein sonderbares Papier. Es verlieh ihm außerordentliche, beinahe diktatorische Vollmachten und dispensierte ihn von jeder andern Tätigkeit, – seine einzige Aufgabe lautete: Wilkins tot oder lebendig zur Strecke zu bringen.

Zwei Stunden später stand der Kapitän in einem kleinen, spärlich möblierten Zimmer neben Emanuel Poor und betrachtete interessiert die verzerrten Gesichtszüge des Reporters.

Er war tot. Die Limonade, die in der halbgeleerten Flasche vor ihm auf dem Tisch stand, wies soviel Strychnin auf, daß es genügt hätte, um zehn Menschen unter die Erde zu bringen. Neben der Flasche lag eine weiße, unbedruckte Karte, in die mit einer Nadel säuberlich sieben Buchstaben eingestochen waren:

Wilkins

Der Fall »E. C. Poor« erhielt im Polizeiarchiv das Zeichen »W. 104«.


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