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18

»Ich dachte es mir vom ersten Tage an«, nickte Huntington. »Ich dachte es mir seit dem Augenblick, als Sie mir sagten, daß der Mörder sich beim Rasieren geschnitten, aber nicht den Blutstiller benutzt habe.«

»Jeder Mensch nimmt bei dieser Gelegenheit den Blutstiller«, sagte Hearn in einem Ton, als wolle er sich entschuldigen. »Es gab nur eine Möglichkeit, dies zu erklären: es war ein Toter rasiert worden.«

»Ihre Folgerung war richtig. Der Tote konnte nicht Manhattan sein. Erstens war Manhattan glattrasiert, zweitens – – – warum hätte ihn wohl der Mörder noch rasieren sollen? Sie sagten sich –«

»Ich sagte mir nichts weiter«, unterbrach ihn der Kapitän bescheiden. »Ich prüfte einfach die Fingerabdrücke. Auf diese Weise stellte ich nicht nur fest, daß der Tote nicht Manhattan war, dessen Abdrücke leicht auf verschiedenen Gläsern und Retorten zu finden waren, sondern auch, daß es sich bei dem Ermordeten um einen schwarzbärtigen Italiener handelte, der Manhattan nach dem Leben trachtete und schon einmal auf ihn geschossen hatte.«

»Sehr nett«, meinte Huntington anerkennend. »Dachten Sie nun nach Feststellung alles dessen nicht, daß Manhattan den Mann in Notwehr getötet und dann aus Angst geflohen sei?«

»Diese Vermutung lag nahe, aber ich kam bald davon ab. Der Nachtwächter wurde nämlich mit einem Revolver getötet, der dem Italiener gehörte. Sollte Manhattan den Nachtwächter damit erschossen haben, so hätte ich doch einen Fingerabdruck an der Waffe entdecken müssen. Ich stellte aber fest, daß der Mörder Handschuhe trug, also Fachmann war.«

Der Detektiv lächelte.

»Großartig!« rief er beinahe bewundernd. »Wie kamen Sie darauf?«

»Ein Fädchen des Handschuhs war an einer kleinen Schraube des Revolvers hängengeblieben. Ihr rechter Handschuh, den ich mir zu untersuchen erlaubte, zeigte eine zerrissene Naht und hatte genau solche Fäden, wie der gefundene war.«

Huntington schwieg.

»Die Vorgänge in jener verhängnisvollen Nacht dürften sich etwa folgendermaßen abgespielt haben«, nahm Hearn seine Erklärung wieder auf. »Um halb elf Uhr abends ließ Manhattan zwei Männer ein. Das waren der Italiener und Sie. Was Sie zu dritt zu besprechen hatten, was in der nächsten halben Stunde geschah, – darüber konnte ich nichts erfahren. Aber eines ist klar: der Mann, der gegen elf Uhr das Haus verließ und im Wagen davonfuhr, war kein anderer als Manhattan selbst. Sie blieben stundenlang mit dem Italiener zusammen in der fremden Wohnung, bis Sie den Bedauernswerten etwa um drei Uhr morgens durch Giftgas töteten. Die Säure schütteten Sie natürlich nur deshalb über sein Gesicht, um es unkenntlich zu machen. Aus demselben Grunde nahmen Sie vorher dem Toten den Bart ab. Scheinbar vertrauten Sie der zerstörenden Wirkung der Trichloressigsäure nicht so recht … Nun, war es so?«

In Huntingtons Mienen spiegelten sich widerstrebende Gefühle.

»Sie wissen viel«, sagte er bedächtig. »Viel zu viel.« Geraume Zeit schwieg er nachdenklich. »Wie denken Sie sich eigentlich Ihr Entkommen aus meinem Hause, Kapitän?« fragte er endlich und lächelte ein wenig höhnisch.

Hearn sah erstaunt auf.

»Wie meinen Sie das? Ach, wegen der Schutzvorrichtungen, die Sie inzwischen wieder ›unbemerkt‹ in Betrieb gesetzt haben? Nun …« – er rieb sich grübelnd die Stirn – …« am einfachsten wird es sein, Sie stellen die Geschichte wieder ab.«

Huntingtons Ablehnung war kurz und entschieden.

»Fällt mir nicht ein. Sie kommen nicht lebendig aus meinem Hause, Hearn!«

Der Kapitän machte ein betrübtes Gesicht.

»Ich bin erschüttert«, erklärte er beinahe feierlich. »Sie wollen mich schlachten?«

Der Detektiv runzelte die Stirn.

»Die Lust zum Späßemachen wird Ihnen bald vergehen«, sagte er finster. »Ich werde Sie in einen Keller sperren und Ihnen dort etwas Gas zu schlucken geben.«

»Fein, fein!« rief Hearn und lächelte scheinheilig. »Wie im Kino!« Plötzlich trat in sein Gesicht ein nachdenklicher Ausdruck. »Es wird doch nichts aus der Vorstellung, Mr. Huntington«, fuhr er traurig fort. »Ich habe nämlich im Polizeipräsidium einen Brief – hm – vergessen, in dem alle Ihre Taten verzeichnet sind. Was machen wir da nur?« Bekümmert schüttelte er den Kopf.

Huntington kniff die Augen zusammen.

»Das haben Sie sich eben ganz hübsch ausgedacht«, meinte er mit leiser Ironie. »Übrigens ist dieser Einfall nicht ganz neu. Ich glaube, etwas Ähnliches schon mal in einem Wildwest-Film gesehen zu haben. Dort ließ der Bösewicht den sogenannten guten Mann laufen, weil er dessen Märchen von dem angeblich zurückgelassenen Brief glaubte. Ich bin aber nicht so ein Trottel!«

Er riß den Hörer des Fernsprechers von der Gabel und verlangte eine Nummer des Polizeipräsidiums.

»Wo haben Sie doch gleich Ihren Brief vergessen?«

»Auf dem Tisch in meinem Arbeitszimmer«, erklärte Hearn bereitwillig. »Schauen Sie zu, was sich machen läßt! Vielleicht kann die beabsichtigte schöne Vorstellung doch noch –«

Huntington winkte ab.

»Hallo! Hier ist Wachtmeister Myners!« rief er in den Apparat. »Ja? Passen Sie mal auf! Kapitän Hearn hat auf seinem Tisch versehentlich einen ans Präsidium gerichteten Brief liegen gelassen. Er muß ihn sofort haben. Schicken Sie ihn nach seiner Wohnung! Ja? Jawohl …« Eine Zeitlang wartete Huntington mit gespannter Miene. »Wie?« erkundigte er sich kurz darauf. »Kein Brief da? So … das ist aber merkwürdig. Na, ich danke jedenfalls!«

Er hängte ein. Ein häßliches Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Nun, Kapitän? Was sagen Sie dazu?«

Hearn schüttelte verwundert den Kopf.

»Schlimm, schlimm!« murmelte er. »Wo soll denn das noch hinführen! Nein, was die Menschen doch heutzutage alles erfinden!« Ratlos starrte er das Ende des Telephondrahtes an, das er während des ganzen Ferngesprächs in den Händen gehalten hatte. »Früher mußte man diese kleine Gabel mit dem Steckkontakt dort verbinden; heute klappt's auch ohnedies!«

Huntington war dunkelrot vor Wut geworden.

»Wer hat Ihnen erlaubt, an meinem Telephonapparat herumzuhantieren?!« rief er zornig.

Hearn machte ein erschrockenes Gesicht.

»Entschuldigen Sie, – Irrtum«, sagte er demütig. »Ich dachte mir, wenn Sie nachher, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, mit meinem Körper herumhantieren wollen … Verzeihen Sie mir die Kühnheit! Übrigens ist der Steckkontakt viel zu niedrig angebracht. Sollten Sie öfters fingierte Gespräche führen, so ist es empfehlenswert, den Kontakt etwas höher zu setzen, damit Sie ihn im Auge behalten können. Es gibt Leute, die so kleinlich sind, daß sie sich nicht über eine unterbrochene Telephonleitung hinwegsetzen können.«

»Das alles geht Sie gar nichts an«, knurrte der Detektiv verdrossen. »Im übrigen …«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach ihn sein Gegenüber bescheiden. »Ich rufe das Präsidium an, stelle dieselbe Frage wie Sie vorhin, und Sie können sich mit Hilfe Ihres Mithörers davon überzeugen, daß der bewußte Brief tatsächlich auf meinem Schreibtisch liegt.«

Huntington dachte einen Augenblick nach. Seine Überzeugung, daß Hearns Behauptungen aus der Luft gegriffen waren, schien ein wenig ins Wanken geraten zu sein.

»Gut. Telephonieren Sie!« sagte er entschlossen.

Der Polizeibeamte stellte die unterbrochene Leitung wieder her und verlangte nun ebenfalls eine Nummer des Polizeipräsidiums.

»Hier Kapitän Hearn«, krähte er mit seinem dünnen Stimmchen. »Wer ist am Apparat? Ach Sie, Edward! Hören Sie mal zu, Edward! Auf meinem Tisch liegt ein Brief im blauen Umschlag. Schicken Sie ihn doch gleich … hm …« er dachte nach.

»In Ihre Wohnung!« flüsterte Huntington drohend.

»Ich bin eben bei Huntington«, begann Hearn. Plötzlich kreischte er jämmerlich auf und hängte schnell ein. Der jähe laute Schrei schien nicht für seine Stimmbänder berechnet gewesen zu sein. Ein Hustenanfall durchrüttelte seine schmächtige Gestalt.

»Klang das nicht – eche ech ech … genau wie – ech ech … der Todesschrei – ech eche ech … eines Adlers – ech?« fragte er freudig und lächelte verschmitzt. »Ich glaube«, fügte er besorgt hinzu, »in fünf Minuten – ech eche ech … ist das Überfallkommando da. Vielleicht auch schon in – eche ech … vier!«

Huntington ballte die Fäuste. Er sprach kein Wort, aber seine Mienen ließen erkennen, daß er im Augenblick keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als den Polizeibeamten eigenhändig zu erdrosseln. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm endlich, sich in die veränderte Lage hineinzufinden.

»Sie haben gesiegt, Hearn«, sagte er beherrscht und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber glauben Sie ja nicht, daß ich den Kampf aufgebe. Im Gegenteil! Der Kampf beginnt erst!«

»Kennen Sie einen gewissen Mr. Wilkins?« fragte Hearn leichthin und betrachtete angelegentlich seine kurzgeschnittenen Fingernägel.

Es entstand eine Pause. Huntington saß still da und überlegte. Er ahnte, daß seine Antwort darüber entschied, ob der Kapitän ihn noch heute verhaften oder es auf einen späteren Zeitpunkt verschieben würde. Vergeblich suchte er in den Mienen Hearns zu lesen: Das Gesicht des kleinen Mannes war leer und ausdruckslos, und die Lichtspiegelung an den großen Gläsern seiner Brille verhinderte ihn jetzt, seinen Blick zu sehen.

»Nun, kennen Sie Mr. Wilkins?« widerholte Hearn nach einer Weile.

Ein nervöses Zucken lief über die Züge Huntingtons, doch sogleich hatte er sich wieder gefaßt.

»Ich kenne ihn«, bestätigte er kurz.

Merkwürdigerweise war das die richtige Antwort.

Hearn sah sein Gegenüber mit bewunderndem Lächeln an.

»Ihre Offenheit gefällt mir«, erklärte er wohlwollend. »Ich werde Sie also vorläufig in Freiheit lassen. Jeder Ihrer Schritte wird überwacht werden. Eine Stunde nachdem ich Wilkins gefaßt habe, fasse ich Sie. Merken Sie sich das genau! Es ist Ihre einzige Hoffnung: eine Stunde! Sollte aber inzwischen Manhattan etwas geschehen, so werde ich diese Abmachung sofort vergessen.«

Erschöpft lehnte sich Hearn in seinen Stuhl zurück. Er war es gewöhnt, mit vielen Worten wenig zu sagen, und es strengte ihn an, wenn er es einmal umgekehrt machen mußte. In diesem Falle war es notwendig, denn schon konnte man im allgemeinen Straßenlärm die schrillen Signale des nahenden Polizeiwagens unterscheiden.

Huntington hatte noch nicht Zeit gefunden, über seine Antwort nachzudenken, als die Tür stürmisch aufgerissen wurde und mehrere Polizisten hereinstürzten.

»Was ist los, Kapitän?! Wir hörten Ihren Schrei –«

»Was soll denn los sein?« gab Hearn erstaunt zurück. »Ach, wegen des Schreies?« Er stand langsam auf und griff nach seinem Hut. »Mr. Huntington gab mir einen Rippenstoß – im Scherz natürlich –, und da mußte ich unwillkürlich aufschreien. Ich bin nämlich sehr – hm – kitzlich … ja, ja, schrecklich kitzlich … Mein Vater war auch kitzlich. Es ist gewissermaßen eine Familienkrankheit …«

Hearn war in seinem Fahrwasser. Er hörte erst auf von seinem Vater zu erzählen, als er gemeinsam mit den Polizisten das Gebäude des Polizeipräsidiums betrat.


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