Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Huntington machte sich etwas unwillig los. Er war nachdenklich geworden.

»Ich habe, offen gestanden, bis jetzt gleich vielen meiner jungen Kollegen über Ihre sonderbaren Arbeitsmethoden gelacht. Zum ersten Male bin ich unmittelbarer Zeuge Ihrer Tätigkeit. Nach Abschluß dieses Falles werde ich entweder eine große Hochachtung vor Ihren Methoden hegen, oder – ich werde noch mehr lachen!«

Hearn kicherte vergnügt.

»Das erste! Das erste! Wie sagten Sie doch – große Hochachtung … Sehr hübsch gesagt, wirklich sehr hübsch … Aber jetzt wollen wir mal die Dienerschaft vernehmen! Vor allem diesen Jack Hunter – wie nennt er sich doch gleich? – Lux, nicht wahr?«

Huntington nickte und folgte wortlos dem beweglichen kleinen Mann ins Bedientenzimmer. Hier saß Lux in einem großväterlichen Lehnsessel. Sein Gesicht war bleich, und die Augen hatten einen fieberhaften Glanz. Beim Anblick der Eintretenden öffnete er mehrere Male den Mund, brachte jedoch vor Aufregung kein Wort hervor.

»Hören Sie mal, Lux«, begann Huntington streng. »Es ist da einiges, was wir durch Sie erfahren möchten. Ich glaube ja nicht, daß Sie an dem Morde mitschuldig sind, aber es läßt sich nicht leugnen …«

»Ich … ich …« stammelte Lux kreideweiß.

»Beruhigen Sie sich, Mr. Hunter!« mischte sich jetzt Hearn mit einem fröhlichen Lächeln ein. »Mr. Huntington wollte eben einen Witz machen … Hi hi hi … Großartiger Witz! Hi hi … Aber Sie können ganz ruhig und unbesorgt sein: Keinem Menschen wird es einfallen, Sie zu verdächtigen. Wir wollen Sie jetzt eben auch gar nicht verhören; nur so ein bißchen uns mit Ihnen unterhalten … Gibt's hier nicht irgendwo ein kleines Schnäpschen? Das belebt die Geister und … und …« Hearn schnüffelte in allen Schränken herum und hatte bald eine dickbauchige Likörflasche und drei kleine Gläser aufgestöbert.

»Prosit!« rief er, nachdem er die Gläschen gefüllt, und goß mit sichtlichem Behagen den Inhalt des seinen hinunter. »Ein feiner Tropfen – ehem – wirklich piekfein!« Er setzte sich nicht hin, sondern durchmaß mit wiegendem Schritt das Zimmer.

Huntington betrachtete in starrem Staunen den sonderbaren Beamten. Er konnte nicht umhin, innerlich zuzugeben, daß Hearns gegen alle Regeln verstoßendes Benehmen augenblicklich den besten Erfolg hatte. Lux war plötzlich ruhig und gefaßt, und auf seinen bleichen Wangen zeichneten sich zwei kleine, rötliche Flecken.

Hearn plauderte unbekümmert in harmlosem Unterhaltungston über tausenderlei Dinge und schien offenbar jeden Sinn für Zeit und Ort verloren zu haben. Als er aber nach etwa einer Viertelstunde die Frage Huntingtons nach den Beobachtungen des Dieners wiederholte, war jener imstande, ruhig und beherrscht seine Wahrnehmungen zu schildern.

»Gestern abend«, begann er, »schickte mich Mr. Manhattan frühzeitig zu Bett. Ich hörte von meinem Zimmer aus, wie er etwa um halb elf Uhr selbst die Tür öffnete und eine leise Unterhaltung mit zwei Männern führte. Ich konnte sowohl Mr. Manhattans, als auch die beiden fremden Stimmen genau voneinander unterscheiden, wenn auch kein Wort des Gesprächs verständlich war. Etwa um elf Uhr hörte ich die Tür wieder gehen. Da trat ich ans Fenster und konnte gerade noch sehen, wie ein Mann von mittlerer Gestalt sich ans Steuer eines italienischen Wagens setzte und in sichtlicher Eile davonfuhr.«

»Wie meinen Sie das?« erkundigte sich Huntington schnell. »Ein italienischer Wagen? Kennen Sie denn die Marken so genau, daß Sie dies im Dunkeln unterscheiden konnten?«

Lux nickte.

»Ich kenne die Marken der Wagen und alles, was dazugehört, sehr gut, da Mr. Manhattan ja zwei Autos besaß und für Autosport schon immer sehr viel übrig hatte. Aber Sie haben mich nicht ganz verstanden. Es war nämlich ein gewöhnlicher Fordwagen; doch das an der Rückseite des Autos angebrachte Schildchen mit dem Buchstaben ›I‹ zeigte an, daß der Wagen nach Italien zuständig ist.«

»Ah!« rief Huntington überrascht und sichtlich erfreut aus. »Da haben Sie sich wohl auch die Nummer des Wagens gemerkt?«

»Nein«, sagte Lux bedauernd, »leider nicht.«

»Das macht nichts!« mischte sich jetzt wieder Hearn ins Gespräch. »Ihre Feststellung, daß es sich um einen aus Italien stammenden Wagen handelt, kann uns unter Umständen von großem Nutzen sein. Den Mann selbst, ich meine sein Gesicht, konnten Sie wohl nicht sehen?«

»Nein, er hatte den Mantelkragen hoch aufgeschlagen.«

»Und was taten Sie, nachdem der Wagen weggefahren war?«

Lux zuckte die Achseln.

»Dann weiß ich von nichts mehr. Ich legte mich hin und muß wohl gleich darauf eingeschlafen sein. Als ich erwachte, war das Zimmer voller Leute, und ich konnte mich kaum bewegen. Es muß etwas mit mir geschehen sein …«

»Mr. Manhattan interessierte sich doch für Chemie?« fragte der kleine Beamte unvermittelt.

»Ja, aber warum …«

»Warten Sie mal! Hat er jemals selbständig experimentiert?«

»Ja, doch mußte ich ihm stets dabei helfen.«

»War das schon immer so?«

»Nein, erst seit etwa fünf Jahren. Früher arbeitete mein Herr gern nächtelang allein. Aber eines Morgens fanden wir ihn bewußtlos am Boden liegend auf. Eine Retorte war seinen Händen entglitten und auf dem harten Parkett zerbrochen. Beim Bücken muß er die ausströmenden Gase eingeatmet und bewußtlos zusammengebrochen sein. Es hätte ihm damals beinahe das Leben gekostet. Seitdem mußte ich bei seinen Experimenten immer dabei sein.«

Hearn schöpfte tief Atem.

»Halten Sie es für ganz ausgeschlossen, daß er gestern nacht ausnahmsweise wieder mal allein experimentierte?«

»Für gänzlich ausgeschlossen«, erklärte Lux entschieden.

Der Kapitän schien von dieser Antwort befriedigt und begab sich, gefolgt von Huntington, in die Küche. Er ließ alle anderen Dienstboten Manhattans herbeirufen – es waren außer Lux nur vier – und eröffnete ein Verhör, das sich von seinem letzten wesentlich unterschied. Haarscharf, in blitzschneller Aufeinanderfolge hagelten seine Fragen auf die sich ängstlich an den Wänden herumdrückenden Leute nieder, und es erschien undenkbar, vor ihm etwas geheimzuhalten, ohne dabei in eine seiner zahlreichen listigen Fallen hineinzurennen.

Das Ergebnis des Verhörs war gleich Null, wenigstens war dies die Meinung Huntingtons. Hearn selbst aber machte ein sehr zufriedenes Gesicht. Er war jetzt vollkommen davon überzeugt, daß sämtliche eben befragte Bedienstete tatsächlich, wie sie angaben, von zehn Uhr abends bis sieben Uhr früh in den für sie im Kellergeschoß angewiesenen Räumen geschlafen und dabei nichts Verdächtiges gehört hatten. Das war die Wahrheit, und mehr als die Wahrheit konnte kein noch so geschicktes Verhör an den Tag bringen.

Schweigend betraten die beiden Kriminalisten wieder das Mordgemach, und Hearn machte sich daran, die Siegel zum Verschließen der Tür vorzubereiten. Er war entschlossen, den Toten noch einige Stunden an Ort und Stelle zu belassen und erst noch einmal von einem der besten Photographen einige Aufnahmen davon anfertigen zu lassen, ehe er die Leiche den Sachverständigen zur Feststellung der Todesursache freigab.

Huntington quälte eine Frage.

»Sagen Sie doch bitte, Mr. Hearn«, erkundigte er sich endlich zögernd, »warum wollten Sie sich vorhin so genau über Manhattans chemische Versuche unterrichten?«

Der Kapitän schien die Frage überhört zu haben. Er stand, die Siegel in der Hand, am Fenster und betrachtete wehmütig einige auf dem Sims liegende tote Fliegen. Nach einer Weile zog er seufzend ein billiges und stellenweise stark beschädigtes Etui aus der Tasche und bot dem Detektiv Zigarren an. Jener nahm eine und reichte Hearn schweigend Feuer.

»Sehen Sie«, sagte der Kapitän und rauchte in raschen Zügen, »sehen Sie, wie ungerecht die Welt, wie selbstsüchtig die Menschheit ist! Hier liegt nun einer ihrer Gattung erschlagen da, und man erhebt dieserhalb ein mächtiges Geschrei; Zeitungen schreiben darüber spaltenlange Abhandlungen; Kommissionen, Sachverständige, Detektive aller Art werden herangeholt … Und hier, schauen Sie, hier auf dem Fensterbrett liegen fünf ermordete Fliegen, und kein Hahn, geschweige denn ein Mensch, kräht danach! Was denken Sie wohl, würden meine Herren Vorgesetzten sagen, wenn ich einen besonderen Bericht über den Mord an diesen fünf Fliegen schreiben wollte?«

»Man würde Sie für irrsinnig erklären«, stellte Huntington etwas ungehalten fest. »Außerdem erübrigt sich dieses Gespräch schon aus dem einfachen Grunde, weil die Fliegen wohl gestorben, vermutlich erfroren sind, aber keinesfalls ermordet wurden.«

Der Kapitäns Mienen drückten Trauer aus.

»Sie können es getrost glauben –: die Fliegen starben eines gewaltsamen Todes«, sagte er beinahe verstört. »Übrigens«, fuhr er mit einem schwachen Seufzer fort, »Sie wünschten doch vorhin zu wissen, warum ich mich so eingehend nach Manhattans chemischen Versuchen erkundigte? Nun, ich wollte erfahren, auf welche Weise diese Fliegen getötet wurden. Jetzt weiß ich es: durch Giftgas! Was sagen Sie dazu? Es ist allerdings ein rascher und schmerzloser Tod gewesen. Ich glaube nicht, daß die Fliegen viel gelitten haben.«

Huntington unterdrückte gewaltsam eine heftige Entgegnung.

»Hat das etwas mit dem Morde an Manhattan zu tun?« fragte er, bemüht, gelassen zu erscheinen.

Der kleine Kriminalbeamte wiegte sinnend den Kopf hin und her.

»Wie man's nimmt, wie man's nimmt«, murmelte er leise. »Lux wurde durch dasselbe Gas betäubt, das die Fliegen tötete.« Plötzlich ging er wieder vom Thema ab: »Nebenbei bemerkt, liegen in den anderen Zimmern auch ermordete Fliegen. Überall! Der reinste Massenmord! Und alle liegen sie auf den Fensterbrettern. Ich habe vorhin, als ich den Schnaps suchte, auf und in allen Schränken und Kommoden nachgesehen: Nirgends eine Leiche! Das ist sehr bezeichnend. Es ist von außerordentlicher Bedeutung …«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Huntington, jetzt ehrlich empört. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe wirklich keine Zeit, mich mit Ihnen hier über Fliegenleichen zu unterhalten! Auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten griff er nach seinem Hut und stürmte davon.

Hearn blickte ihm enttäuscht nach.

»Wie unhöflich doch heutzutage die Jugend ist«, brummte er mißvergnügt vor sich hin. »Und wie unvernünftig! Um ein Haar hätte ich ihm gesagt, wie wichtig es gewesen wäre, wenn eine einzige, oder sagen wir zwei, drei Fliegenleichen irgendwo anders als an den Fensterbrettern … aber so ist die Jugend heutzutage …«

*

Zwei Stunden später berichtete Kapitän Hearn dem Polizeipräsidenten:

»Mr. Frederick Manhattan wurde in vergangener Nacht in seinem Bibliothekzimmer durch Giftgas (vermutlich Blausäure) getötet. Der Tod trat bestimmt nicht vor drei Uhr morgens ein. Es besteht die entfernte Möglichkeit, daß Manhattan seinen eigenen chemischen Experimenten zum Opfer fiel. Ich für meinen Teil jedoch bin anderer Ansicht, und zwar aus folgendem Grunde: es war nämlich eine zweite Person bei dem Tode Manhattans anwesend, und diese zweite Person hätte bei einem Unglücksfall auch ums Leben kommen müssen. Liegt aber ein Verbrechen vor, so kann der Täter entsprechende Vorsichtsmaßregeln getroffen haben.

Nachher erbrach der Täter den Kassenschrank, nahm aber nur das Bargeld an sich. Das Gesicht des Toten ist durch eine stark ätzende Säure –: Trichloressigsäure – in schrecklicher Weise entstellt. Ob die Säureflasche mit Absicht oder durch Zufall umgeworfen worden ist, konnte noch nicht festgestellt werden. Es läßt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, daß Manhattan, durch das Giftgas nur betäubt, noch schwache Lebenszeichen von sich gab, und das den Verbrecher veranlaßte, ihm auf erwähnte fürchterliche Weise den Rest zu geben.

Kurz nach vier Uhr streckte der Verbrecher den Nachtwächter mit einem Schuß durch den Kopf nieder und dürfte das Haus erst gegen fünf Uhr morgens verlassen haben, da Verbrennen von Papieren und andere Aufräumungsarbeiten ihn darin noch längere Zeit festgehalten haben müssen. Es ist möglich, daß er das Haus überhaupt nicht verließ. In diesem Falle kommt als Täter nur der Diener des Ermordeten – Jack Hunter, genannt Lux – in Betracht.«

Die Wirkung dieses Berichtes machte sich sofort bemerkbar. Schon eine Stunde darauf wurde Jack Hunter verhaftet, drei Stunden später aber wieder freigelassen. Hearn war es gelungen, inzwischen einwandfrei nachzuweisen, daß der Verbrecher in Manhattanhouse fast ununterbrochen geraucht hatte. Jack Hunter aber war Abstinenzler und Nichtraucher.


 << zurück weiter >>