Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

In den nächsten Tagen sollte Huntington Gelegenheit haben, seine vorher etwas geringschätzige Meinung über die Fähigkeiten des Kapitäns noch mehr zu berichtigen. Er tat dies so gründlich wie nur möglich und hatte auch wirklich alle Ursache dazu.

Eines Abends, als der Detektiv vornübergeneigt am Schreibtisch saß, bemüht den Schlüssel zu einer schwierigen Geheimschrift zu finden, öffnete sich leise die Tür, und Kapitän Hearn trat ein. Huntington hatte diesen Besuch wohl erwartet, hob aber bei Hearns Eintreten nicht einmal den Kopf.

»Guten Abend!« sagte der kleine Mann bescheiden und drehte seinen mitgenommenen Hut unschlüssig zwischen den Fingern. »Guten Abend, Mr. Huntington! Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen, – die Tür war nämlich nur angelehnt, und da wollte ich nicht erst klingeln. Wie leicht hätte der schrille Glockenton Sie in Ihrer Arbeit stören können.«

»Ich ließ die Tür offen, weil ich Sie erwartete. Sie brauchen sich also nicht zu entschuldigen«, entgegnete der Detektiv kalt. »Sie haben sich ja gestern abend auch nicht entschuldigt, als Sie hier in meiner Abwesenheit die Wohnung besichtigten. Ich glaube übrigens, die Tür war gestern verschlossen. Wie nennt man doch gleich ein derartiges Vorgehen?«

»Schweren Einbruch, glaube ich«, sagte Hearn traurig. Er seufzte leise. »Ich fürchte, es steht Zuchthaus darauf, Mr. Huntington!«

»Ich werde Sie einstweilen noch nicht anzeigen«, erklärte der Hausherr gleichmütig. »Immerhin möchte ich gern den Grund Ihres nächtlichen Besuchs von gestern erfahren. Aber Sie stehen ja immer noch! Nehmen Sie doch bitte Platz!« Huntington wies auf ein Polster ihm gegenüber.

»Danke, danke!« Hearn blickte suchend im Zimmer herum. Aus der äußersten Ecke holte er einen gewöhnlichen Holzstuhl herbei und setzte sich darauf.

»Ich sitze lieber hart«, erläuterte er. »Diesem Umstande verdanke ich mein Leben. Sie staunen? Ja, es ist kaum zu glauben! Aber als ich gestern abend hier war und aus Langeweile im Konversationslexikon blätterte, setzte ich mich ebenfalls auf diesen harten Stuhl. Nun geschah aber folgendes: ich lege das Buch – übrigens die neueste Ausgabe, man findet das selten bei den heutigen schlechten Zeiten – auf den Polstersessel neben mir, und schon krachte der schwere Kronleuchter – gediegene, dauerhafte Arbeit – von der Decke herunter – – – gerade auf den Sessel. War ich erschrocken! Übrigens eine hübsche Einrichtung zum Schutze gegen unerwünschte Besucher! Wenn ich einmal reich sein werde, lasse ich mir auch solch ein Ding einbauen. Und auch so ein paar Bindfaden am Boden im Vorzimmer, deren Zerreißen das reinste Maschinengewehrfeuer hervorruft. Es muß ein außerordentlich beruhigendes Gefühl sein, wenn man weiß, daß kein Einbrecher aus Ihrer Wohnung lebendig entkommt.«

Huntington hatte schweigend zugehört. Er saß, jetzt ein Bild unerschütterlicher Ruhe, zurückgelehnt in seinem Sessel und drehte langsam die Daumen umeinander. Die Blicke, mit denen er sein Gegenüber streifte, waren neugierig und spöttisch zugleich.

»Lassen wir das Spiel, Hearn!« sagte er unvermittelt. »Sie haben sich gestern davon überzeugen können, daß ich doch nicht ganz so dumm bin, wie ich zuweilen scheine. Andererseits aber haben Sie dadurch, daß Sie den verschiedenen Fallen in meinem Hause entgingen, wiederum mir verraten, daß all Ihre Einfalt nur angenommen – Maske ist. Wir wissen nun übereinander Bescheid. Lassen wir also die Masken fallen! Wir sind hier ja ganz unter uns!«

Hearn schüttelte bekümmert den Kopf.

»Die Maske, Mr. Huntington, ist unser wahres Gesicht! Ich habe fünfunddreißig Jahre lang den beschränkten dummen Mann gespielt. Der liebe Gott hat mich für diesen Betrug gestraft: ich bin mit der Zeit wirklich so geworden, wie ich früher nur erscheinen wollte. Es ist derselbe Vorgang wie bei jenem Bettler, der zwanzig Jahre lang den Lahmen mimte und dann, als er mit den erbettelten Reichtümern ein beschauliches Leben zu führen gedachte, auf einmal merkte, daß er wirklich lahm geworden war.«

»Na, gut!« Der Ton Huntingtons klang gelangweilt. »Ich sehe, Sie wollen nicht auf Ihre gewohnten Waffen verzichten. Aber vielleicht beantworten Sie mir doch die Frage von vorhin: Warum beehrten Sie mich gestern heimlich mit Ihrem Besuch? Hätten Sie mir nur ein Wort gesagt, alle meine Sicherungsapparate wären außer Betrieb gesetzt worden. Ich kämpfe gegen Verbrecher, nicht gegen Polizeibeamte, Hearn!«

Der Kapitän nickte eifrig.

»Ich weiß, ich weiß! Das war ja eben meine Dummheit …«

Huntington erhob sich nachlässig.

»Warum immer diese Verstellung?« fragte er und lächelte spöttisch. »Als Sie bei mir einbrachen, wußten Sie ganz genau, daß Ihnen Gefahren drohen. Sonst hätte der erste berührte Draht – Bindfaden nannten Sie dies so schön – Ihnen das Leben gekostet. Was suchten Sie bei mir, Kapitän, oder – es ist dasselbe – was hofften Sie zu entdecken?«

»Nichts, gar nichts!« antwortete Hearn im unschuldigsten Tone der Welt. »Ich wollte Sie nur sprechen … Wissen Sie, mir war nämlich eingefallen, daß ich Sie letzthin, als Sie den Namen von Manhattans Mörder von mir erfahren wollten, recht unhöflich behandelt hatte. Mich peinigten Gewissensbisse –«

»Lassen wir das«, unterbrach ihn der Detektiv. »Sie können sich ja, wenn es Ihnen Spaß macht, auch weiterhin dumm stellen – nur verfängt das bei mir nicht.« Er zuckte geringschätzig die Achseln. »Wollen Sie vielleicht behaupten, mich deswegen besucht zu haben, um mir den Namen des Mörders mitzuteilen?«

»Eben das, eben das!« rief Hearn erfreut und sichtlich befriedigt. »Nur müssen Sie mir Zeit lassen. Sehen Sie, ich kann das nicht so machen wie andere Leute – so einfach – bumms – den Namen nennen. Ich werde Ihnen erzählen, wie ich darauf gekommen bin. Wie Schuppen wird es Ihnen von den Augen fallen: Sie selbst werden den Namen nennen!«

Der Detektiv seufzte schwer.

»So umständlich wie nur möglich! Aber in diesem Falle habe ich nichts gegen die Umständlichkeit: es interessiert mich zu hören, wie Sie den Mörder entdeckten.«

»Nicht wahr? Das ist sehr interessant?!« rief der Kapitän erfreut. »Nun, passen Sie auf! Manhattan wurde durch Giftgas getötet. Erst nachträglich wurde die Säure über sein Gesicht geschüttet, um auf diese Weise einen Tod durch Unfall vorzutäuschen … Möglich, daß in dieser Darstellung ein Fehler steckt …« Hearn zögerte.

»Es steckt ein Fehler darin«, sagte Huntington ruhig.

»Möglich, denn meine Theorie erklärt nicht alles. Aber hören Sie weiter! Ich folgere: der Mörder ist ein Mensch, der Manhattans Vertrauen besaß. Es gibt nicht allzuviel Menschen, von denen man das behaupten könnte. Übrigens – hatte er nicht auch zu Ihnen Vertrauen?«

»Ich besaß sein Vertrauen in hohem Maße«, bestätigte Huntington.

»Das nur nebenbei«, meinte Hearn sorglos. »Wichtiger ist –«

»Verzeihung!« unterbrach ihn Huntington. »Wie kommen Sie denn eigentlich zu der Überzeugung, daß der Mörder das Vertrauen Manhattans besaß?«

»Wegen der Fliegen«, erklärte der kleine Polizeibeamte mit unerschütterlicher Ruhe.

»Wegen – – – was? Wegen Fliegen?«

»Das ist doch so einfach«, meinte Hearn vorwurfsvoll. »Alle Fliegen in ›Manhattanhouse‹ waren durch Giftgas ermordet worden. Sie starben so plötzlich und so vollkommen unvorbereitet, daß sie sich nicht einmal mehr ein nettes Sterbeplätzchen aussuchen konnten. Alle blieben dort tot liegen, wo sie gerade saßen – nämlich auf den Fensterbrettern. Wenn Sie Tierfreund wären, wüßten Sie –«

Huntington räusperte sich und gab deutlich Zeichen der Ungeduld zu verstehen, aber Hearn ließ sich dadurch nicht im geringsten stören.

»… wüßten Sie, daß Fliegen nachts nur dann alle miteinander zu den Fenstern wandern, wenn bereits die Sonne aufgeht, und es hell wird. Demnach starb Manhattan keinesfalls vor drei Uhr morgens. Der Mensch, mit dem er die ganze Nacht allein verbrachte, mußte ihm außerordentlich vertrauenswürdig erscheinen, sonst …«

»Ich verstehe«, sagte der Detektiv nachdenklich. »Ihre Folgerungen sind etwas merkwürdig, aber ihre Logik ist bestechend.«

»Das ist alles nicht so wichtig«, wehrte Hearn bescheiden ab. »Wesentlicher ist, daß Sie beim Verhör Snyders, als ich mit Ihnen das Frage- und Antwortspiel probierte, unter anderem auf das Wort ›Geheimfach‹ kurzerhand ›Wanduhr‹ antworteten. Nun hatte aber Manhattan tatsächlich in seiner großen Wanduhr ein Geheimfach. Ich glaube nicht, daß außer ihm und seinem Mörder jemand davon wußte … hm …«

»Sie wußten es doch auch«, entgegnete Huntington spöttisch. »Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß Sie der Mörder sind?«

Der kleine Kapitän schüttelte wehmütig den Kopf.

»Ich kann nicht morden«, erklärte er schlicht. »Ich wollte es lernen, aber es ging nicht. Der erste Frosch, den ich umzubringen versuchte, lebte noch drei Tage, weil ich nicht imstande war, ihm den Gnadenstoß zu geben. Vielleicht wäre ich heute ein großer, gefürchteter Verbrecher, wenn es mir damals gelungen wäre, den Frosch zu töten. So aber bin ich nur ein kleiner, harmloser Polizeibeamter geworden. Ja, – um auf unser Thema zurückzukommen: ich dürfte schon aus dem Grunde als Mörder Manhattans nicht in Betracht kommen, weil ich ja das Geheimfach in der Wanduhr erst entdeckte, nachdem ich durch Ihre seltsame Antwort darauf sozusagen hingewiesen wurde.«

Huntington ging mit langen, etwas hastigen Schritten im Zimmer auf und ab. Hearn folgte ihm mit den Blicken. Er war nicht erstaunt, als der andere plötzlich mit entschlossener Miene vor ihm stehen blieb.

»Sie wissen bestimmt, daß ich der Mörder Manhattans bin?« fragte Huntington gerade heraus. Sein Gesicht war unbewegt, die Augen kalt und leblos.

»Ganz bestimmt«, sagte Hearn so leise, daß man es kaum hören konnte.

»Sie würden mich natürlich gern festnehmen lassen«, fuhr der Detektiv fort, »aber Sie fürchten dadurch etwas zu verderben?«

»Ganz recht«, nickte Hearn. »Zwei Dinge würde ich verderben. Mr. Wilkins wäre nie mehr zu fassen, und dann – der andere … Ich glaube, es würde Manhattan das Leben kosten.«

Für eine Sekunde leuchtete es in den Augen Huntingtons gefahrdrohend auf.

»Nehmen wir an«, begann er langsam. »Nehmen wir an, Manhattan lebte noch …« Plötzlich warf er mit einem Ruck den Kopf zurück. »Sie sind davon überzeugt, daß er noch lebt?«

»Vollkommen«, erwiderte der Kapitän ebenso leise wie vorhin.


 << zurück weiter >>