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13

Es war einige Tage später, als Doris gegen zehn Uhr abends die 46th Avenue entlang schritt und genau in dem Augenblick, da sie durch eine schmale Tür schlüpfen wollte und sich vorher nach allen Seiten umsah, mit Mr. Huntington zusammenstieß. Beide schienen von diesem unerwarteten Wiedersehen alles weniger als erfreut, nur beherrschte sich der Detektiv besser, während Doris über und über rot wurde und vergeblich ihre Verlegenheit zu verbergen suchte. Sie hatte auch wirklich alle Ursache, gerade hier ein Zusammentreffen mit Bekannten nicht zu wünschen.

»Wie geht's, Mr. Huntington?« fragte sie, bemüht, einen unbefangenen Ton anzuschlagen. »Gehen Sie auch ein bißchen spazieren oder sind Sie eben auf der Spur des Mörders?«

Der Detektiv lächelte.

»Sie sind doch jetzt Konkurrenz für mich«, meinte er freundlich. »Da wäre es unvernünftig von mir, Sie in meine Karten sehen zu lassen. Aber da ich meiner Sache sicher bin, kann ich Ihnen ja etwas verraten: Von der ganzen Verwandtschaft Manhattans hat keiner Aussicht, den Mörder zu fassen …«

»Natürlich!« lachte Doris. »Sie als Fachmann lassen die Möglichkeit nicht gelten, daß ein Laie Erfolg haben könnte. Wer wird ihn denn fassen? Selbstverständlich Sie?«

»Entweder ich oder …« Huntington zögerte.

»Oder wer?«

»Oder niemand«, ergänzte der Detektiv trocken.

Das Mädchen schwieg verblüfft.

»Wenn der Mörder nämlich Wilkins heißt, wird ihn niemand überführen können«, erklärte Huntington düster. »Auch ich nicht.«

»Wilkins?« rief Doris erstaunt. »Er sollte …«

»Leise!« schalt Huntington. »Diesen Namen darf man auf offener Straße nicht ungestraft laut aussprechen. Der Mann hat überall seine Agenten.«

»Spricht denn eigentlich etwas dafür, daß er auch diesen Mord beging?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein, nichts. Aber das will bei einem Verbrecher seines Formats nicht viel heißen. Solche Leute verstehen es, die Spuren zu verwischen, – wenn sie es wünschen.«

Das Mädchen war nachdenklich geworden. Schweigend gingen die beiden eine Zeitlang nebeneinander her. Endlich nahm Doris die Unterhaltung wieder auf.

»Sie arbeiten doch bei der Firma Clayvills & Huntington?« fragte sie.

»Gewiß«, lautete die Antwort. »Ich bin Mitinhaber dieses Unternehmens. Aber warum fragen Sie?«

»Ich meinte nur …« sagte sie unbestimmt. »Ich lernte neulich Ihren Teilhaber, Mr. Clayvills, kennen. Ein sehr netter junger Mann …«

»Verzeihung«, unterbrach er sie befremdet. »Da muß ein Irrtum walten: Mr. Clayvills starb nämlich schon vor drei Jahren, und zwar im Alter von sechsundsiebzig Jahren.«

»Wirklich?« Doris hob verwundert die Augenbrauen hoch. In Wirklichkeit war sie weniger erstaunt, als sie erscheinen wollte, denn eine ähnliche Antwort hatte sie erwartet. Sie hatte mit Evelyn über deren Abenteuer im Zuge gesprochen und war überzeugt, daß der Begleiter des Blondbärtigen auch ein Verbrecher und keinesfalls der Leiter einer angesehenen Detektei sei. »Da muß ich mich tatsächlich geirrt haben.«

»Bei welcher Gelegenheit lernten Sie denn diesen angeblichen Clayvills kennen?« forschte Huntington.

»Ich weiß nicht … ich glaube, es war auf einem Dampfer«, antwortete sie ausweichend. »Würden Sie es übrigens für möglich halten, daß Polizeibeamte einen jungen Mann mit Mr. Clayvills verwechseln, wenn jener in Wirklichkeit alt war und längst tot ist?«

»Warum nicht?« meinte Huntington achselzuckend und sah nach der Uhr. »Wir arbeiten selten mit der Polizei zusammen, fast alle Beamten haben aber schon einmal von unserem Unternehmen gehört. Auch geschieht es gar nicht selten, daß man mich als Mr. Clayvills anspricht, was ich nicht einmal für nötig halte, immer richtig zu stellen. Verzeihung, ich muß aber jetzt …«

»Ich weiß, Sie haben Eile.« Doris atmete erleichtert auf und streckte ihm zum Abschied die Hand entgegen. Sie blieb auf ihrem Platze stehen und sah ihm nach, als er eilig eine Autodroschke bestieg. Erst als sein Wagen um die Ecke gebogen war, drehte sie sich um und eilte nach der Stelle zurück, wo sie Huntington getroffen hatte.

Doris hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, den Mörder Manhattans aufzuspüren. Der Umstand, daß sich eine ganze Reihe anderer Leute dieselbe Aufgabe gestellt hatten, vermochte nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen; im Gegenteil, dadurch erhielt die Angelegenheit erst einen Reiz für sie. Tagsüber ging sie nach wie vor mit Fleiß und Eifer ihren Pflichten in Mr. Tschuppiks Büro nach, kaum aber waren die Dienststunden vorüber, eilte sie heim, zog sich entsprechend ihrem jeweiligen Plane um und begab sich auf die Jagd nach dem Verbrecher.

Heute war die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, weder besonders unangenehm noch schwierig. Bald darauf saß sie allein an einem kleinen Tischchen in der Bar »Zerbinetta« und trank, um hier nicht aufzufallen, einen Mokka nach dem andern. Die zwei Männer in einem stillen Winkel, auf die sie ihr Augenmerk gerichtet hatte, machten es nicht anders: Auf ihrem Tisch standen ganze Batterien von leeren Mokkakännchen, doch wußte außer Doris jeder im Lokal, daß diese Kännchen nicht Mokka, sondern unverdünnten Whisky enthalten hatten.

Sie kam sich wie eine richtige, echte Detektivin vor. Eines ihrer besten Abendkleider hatte daran glauben müssen, um ihr für diesen Ausflug eine stilgerechte Kleidung zu liefern; der halbe Meter Stoff, den sie unten abgeschnitten hatte, war zu einem wunderbaren Apachenschal verarbeitet worden und schmückte jetzt, zu einem verwegenen Knoten geschlungen, ihren Hals. Wangen und Lippen waren mit Puder und Schminke überladen, und niemand hätte beim Anblick ihres getünchten Gesichtes vermutet, daß sich darunter ganz natürliche und viel wirksamere Farben befanden. Die in schwarzen Seidenstrümpfen steckenden Beine hielt sie unternehmungslustig übereinandergekreuzt, und es störte sie anscheinend nicht im geringsten, wenn sich etliche hohlwangige Lebemänner für die Farbenschattierungen ihrer Strumpfbänder interessierten.

Alles in allem war sie mit sich und ihrem Äußeren sehr zufrieden und ahnte nicht, daß sie schon längst die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, und daß sie ihre Sicherheit nur noch dem Umstande verdankte, daß man sie für einen unerfahrenen Polizeispitzel hielt und noch nicht wußte, ob sie allein war, oder ob – irgendwo verborgen – gefährliche »Geheime« über sie wachten.

Es wurde getanzt, getrunken und ein klein wenig geflirtet. Die Damen waren sehr entgegenkommend, aber die Herren schienen sich nicht viel daraus zu machen; entweder waren es Leute, die hier ihren geheimen Berufen nachgingen und dabei wahrhaftig weder Sinn noch Zeit für Flirt übrig hatten, oder es waren Männer, die ausschließlich zum Trinken herkamen, und bei denen der Wunsch nach weiblicher Gesellschaft erst rege wurde, wenn sie nicht mehr genau wußten, ob sie sich in New York, in Mesopotamien oder auf dem Mars befanden.

»Gestatten, Miß Dingsda, ein Tänzchen gefällig?« beugte sich ein blondbärtiger Männerkopf über den Tisch der Amateurdetektivin.

Doris stand sofort ebenso bereitwillig auf, wie sie es bei den anderen »Damen« beobachtet hatte. Innerlich frohlockte sie. Ihr Tänzer war einer von den beiden, die sie verfolgte; der »Blondbärtige«, wie sie ihn in ihrem Innern nannte. Irgendwie war sie fest davon überzeugt, daß der Entführungsversuch an ihrer Schwester etwas mit dem Morde an Manhattan zu tun hatte.

»Ein reizendes Lokal!« eröffnete der Tänzer die Unterhaltung und zog sie näher an sich heran.

»Oh ja, ein ganz feudaler Betrieb!« antwortete sie heiter, und wagte nicht, die ihr widerwärtige Umschlingung etwas zu lockern.

»Ich sehe Sie zum erstenmal hier«, fuhr ihr Partner fort. »Wie kommt das? Verkehren Sie sonst anderswo?«

»Nein«, log Doris. »Ich war längere Zeit …« sie hüstelte. Fast hätte sie gesagt, »auf Reisen«, aber es fiel ihr rechtzeitig ein, daß solche »Damen«, wie sie eben eine vorstellte, kaum das Geld zu kostspieligen Vergnügungsfahrten hatten. »… im Gefängnis«, fügte sie tapfer hinzu und freute sich über ihre Geistesgegenwart.

»Sie meinen im Knast?« unterbrach er sie mit einem leisen Lächeln.

»Ja, dort«, gab sie zu. »Wenn ich nicht in diesem verdammten Knast wohne, bin ich immer hier. Es ist hier aber viel angenehmer.«

»Das will ich meinen«, lachte er. »In welcher Branche arbeiten Sie?«

»Ich stehle Brieftaschen«, erklärte das Mädchen feierlich. »Wenn Sie mich nachher an Ihren Tisch einladen und beim Begleichen der Zeche die Brieftasche für einen Augenblick unbeobachtet lassen, werde ich sie ganz bestimmt klauen.«

»Nett von Ihnen, mir das vorher mitzuteilen! Im allgemeinen pflegt man so etwas nicht zu verraten.«

Doris lächelte überlegen.

»Ich habe meine besonderen Arbeitsmethoden …« begann sie zu erklären, schwieg aber gleich darauf, da die Musik aufgehört hatte zu spielen. Der Tanz war zu Ende, und alle begaben sich wieder an ihre Plätze.

»Kommen Sie ruhig mal ein bißchen zu uns 'rüber«, forderte sie der Blondbärtige auf, den die Unterhaltung mit ihr amüsiert zu haben schien.

»Sofort!« rief sie freudestrahlend. »Ich hole nur schnell Handtasche und Zigaretten von meinem Tisch.«

»Guten Tag, Miß Elmhurst!« sagte plötzlich eine sonore Männerstimme dicht neben ihr.

Doris fuhr herum. Wer kannte sie hier?

Vor ihr stand im eleganten Smoking, eine brennende Zigarette zwischen den Zähnen – Frank Leroy. Die Blicke, mit denen er sie musterte, waren streng, und zwischen seinen Brauen lag eine finstere Falte.

»Guten Tag, Miß Elmhurst!« wiederholte er sarkastisch.

Eine heiße Blutwelle übergoß das Gesicht des Mädchens. So wenig sie sich in dem von ihr gewählten Aufzuge vor den Leuten hier schämte, so peinlich war es ihr, in dieser Kleidung von einem Manne ihrer Kreise gesehen zu werden. Frank Leroy aber, der ihr in »Manhattanhouse« so nett Gesellschaft geleistet hatte, war gerade der allerletzte, dem sie hier zu begegnen wünschte.

»Guten Tag, Frank«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Es ist mir sehr unangenehm, daß Sie mich in einer solchen Situation überraschen, aber …« Sie schwieg verwirrt, in der Hoffnung, er würde ihr über das Peinliche des Augenblicks hinweghelfen.

»In der Tat – eine sehr unangenehme Situation«, sagte er langsam und sah an der ihm entgegengestreckten Hand vorbei. »Setzen Sie sich!« fuhr er, plötzlich zum Befehlston übergehend, fort und nahm, als sie verblüfft Folge leistete, neben ihr Platz. »Was haben Sie hier zu suchen?«

Doris biß die Zähne zusammen. Der Ton, in dem Leroy zu ihr sprach, kränkte sie, obwohl sie innerlich zugeben mußte, daß er im Recht war.

»Sie können sich denken, daß ich nicht zu meinem Vergnügen hier bin«, sagte sie etwas hitzig. »Ich verfolge einen Verbrecher«, ergänzte sie leise.

Durch ein leises Heben der Augenbrauen gab Leroy seiner Verwunderung Ausdruck. Sekundenlang blieb er die Antwort schuldig und starrte angelegentlich nach der Zimmerdecke.

»Sie haben wohl zuviel Detektivgeschichten gelesen!« sagte er endlich eisig. »Sie sollten sich schämen! Wollen Sie jetzt gleich – sofort – mit mir von hier weggehen?«

»Was fällt Ihnen ein, mich so zu behandeln!« rief Doris empört aus, und Tränen der Kränkung traten in ihre Augen. »Sie sind doch auch hier, und kein Mensch fragt danach, warum!«

»Es ist ein Unterschied, ob ein Mann nach dem Theater für ein Stündchen allein in die Bar geht oder eine Dame, zumal in derartiger Bekleidung … hm … besser gesagt – Entkleidung«, stellte er fest. »Wir sprechen noch darüber, aber nicht hier. Wollen Sie jetzt mit mir gehen?« Es war ein Befehl, keine Frage mehr.

»Fällt mir gar nicht ein!« antwortete Doris eigensinnig. »Nun gefällt es mir hier gerade! – Ja, ich tanze«, rief sie dem Blondbärtigen zu, der höhnisch lächelnd an den Tisch getreten war, und stand auf.

»Doris!« Die Stimme Leroys hatte einen metallenen Klang.

»Bitte, mein Herr?!« lachte sie spöttisch über die Schulter ihres Tänzers hinweg. »Sie müssen erst lernen, wie man ein anständiges Mädel behandelt! Good night!«

Leroy stand auf. Seine Fäuste waren geballt, aber kein Muskelzucken im Gesicht verriet seine Empörung.

»Wie Sie wünschen«, sagte er leise, obwohl er wissen mußte, daß sie es nicht mehr hören konnte. Ohne sich noch einmal nach ihr umzuwenden, ging er davon.

»Wer war denn dieser zudringliche Mensch?« fragte der Blondbärtige, als Leroy außer Sehweite war.

Doris war es mehr zum Weinen als zum Lachen zumute, aber sie mußte gute Miene zum bösen Spiel machen.

»Das war einer von meinen früheren Kunden«, log sie. »Er behauptet jetzt nachträglich, ich hätte ihm mal seine Brieftasche gestohlen. Ich habe ihm gesagt, daß so etwas bewiesen werden muß …«

»Und das kann er natürlich nicht!« meckerte der andere. »He he he … Na, aber jetzt kommen Sie doch an unseren Tisch, nicht wahr? Mein Freund ist schon ganz gespannt auf Ihre Bekanntschaft.«

Doris nickte nur und folgte ihm. Sie dachte nicht daran, ihren Plan aufzugeben. Dazu war sie viel zu hartnäckig und wollte jetzt auch nicht nur den Mörder Manhattans entdecken, sondern gerade dadurch dem unverschämten Leroy beweisen, was sie konnte.

Dieser Wunsch beseelte sie so vollkommen, daß sie es im weiteren Verlauf des Abends sogar an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen ließ, obwohl das eigentlich ihre einzige Waffe gewesen wäre, da sie weder an Erfahrung noch an Menschenkenntnis an ihre gefährlichen Gegner heranreichen konnte. So übersah sie sowohl die ab und zu verstohlen gewechselten Blicke ihrer beiden Tischherren, als auch die rasche Bewegung des Blondbärtigen, durch die er ein weißes, kleines Kügelchen in ihre Mokkatasse gleiten ließ. Als die beiden Männer gleich darauf zum Aufbruch drängten, hatte sie nichts dagegen einzuwenden, weil sie sich im Augenblick alles weniger als wohl fühlte.

Später hätte sie nicht zu sagen vermocht, wie sie aus dem Lokal gekommen und was sich dabei zugetragen hatte. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als ihr im geschlossenen Wagen eine harte Männerstimme befahl, einen Schluck Weinbrand aus dem hingehaltenen Fläschchen zu nehmen, und der kühle Lauf eines Revolvers ihren Nacken streifte.

»Wenn Sie etwas Verdächtiges tun, knalle ich Sie nieder!« sagte dieselbe harte Stimme.

Jetzt konnte Doris auf einmal wieder klar denken. Wie dumm war sie doch gewesen! Sie hatte es den Verbrechern wirklich leicht gemacht, sie zu fangen. Was würde nun kommen? Sie saß eingekeilt in der Mitte des Polsters zwischen den zwei Männern und konnte weder Arme noch Füße bewegen. Ein dumpfes Gefühl im Kopf ließ sie erraten, daß sie betäubt worden war.

»Wohin bringen Sie mich? Was wollen Sie von mir?« fragte sie endlich mit schwacher Stimme.

»Halt's Maul! Hast für einen Abend genug geschwatzt!« rief der eine ärgerlich. Sie erkannte die Stimme des Blondbärtigen.

Verzweifelt warf sie einen Blick zum Fenster hinaus. Die Straßen waren hell erleuchtet und die Bürgersteige schwarz von Menschen, die vom Theater oder Kino heimkehrten. Aber was half das? Doris mußte einsehen, daß ihre Lage genau so schlimm war, als wenn man sie durch dunkle und verrufene Viertel gefahren hätte: der Revolver ihres Nebenmannes vereitelte jeden Befreiungsversuch.

Ihre Begleiter schwiegen. Ein einziges Mal, als ein elegantes Auto sie langsam überholte, machte der eine von ihnen eine Bemerkung:

»Den da will ich mir auch noch kaufen. Er hat uns ein großartiges Geschäft verdorben.«

»Es wird nicht leicht sein«, meinte der andere.

»Ich habe meine Beziehungen«, war die unklare Antwort. »Eine kleine Maschine ist leicht in den Schreibtisch praktiziert, und wenn das Ding zur rechten Zeit losgeht, kann er von Glück sagen, wenn ihm ein Glied am Rumpfe bleibt.«

Doris hob die Augen, um den Mann zu sehen, dem ein solch grausiges Ende zugedacht war. Ihr Herzschlag stockte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das im hellerleuchteten Wageninnern über einige Papiere gebeugte Gesicht des Mannes sehen können, dann war das Auto verschwunden; aber der kurze Augenblick hatte genügt, um sie ihn erkennen zu lassen: Es war ihr Vorgesetzter, der Millionär Tschuppik.

»Wann?« fragte der eine ihrer Begleiter.

»Morgen punkt neun Uhr«, entgegnete der Komplize kurz. »Es ist alles … In Dreiteufelsnamen!« unterbrach er sich plötzlich. »Wo fährt der Kerl denn hin?! He!« brüllte er ins Sprachrohr und trommelte wütend an die Scheiben. »Rechts, du Hornochs! Rechts, zum …«

Er schwieg jählings. Der Wagen hielt mitten auf einem Platz vor einem mächtigen Warenhaus, dessen tausende, effektvoll angeordneten, auf und nieder zuckenden Lämpchen ununterbrochen stark strahlende Lichtbündel auf die Straße schleuderten. Es war so hell, daß Doris sekundenlang die Augen schließen mußte. Als sie die Lider hob, sah sie den Wagenschlag offen, und davor den Chauffeur und einen Polizisten stehen.

»Die Dame möchte Sie etwas fragen«, hörte sie den Wagenlenker sagen.

Der Polizist beugte sich vor.

»Bitte sehr, Mylady? Ich stehe zu Ihren Diensten.«

Doris verstand nicht recht, was hier vor sich ging. Nur soviel war ihr klar, daß sich ihr unerwartet eine Möglichkeit zum Entkommen bot. Am liebsten hätte sie jetzt die beiden Verbrecher kurzerhand festnehmen lassen, aber der schmerzhafte Druck auf einer Stelle des Rückens sagte ihr, daß sie eine Anzeige mit dem Leben bezahlen würde.

»Helfen Sie mir aus dem Wagen«, sagte sie endlich zögernd.

Der Polizist reichte ihr den Arm.

»Was ist geschehen? Sind Sie belästigt worden?« fragte er, als sie schwer atmend neben ihm stand.

»N… nein«, erwiderte sie, richtig vermutend, daß jede andere Antwort ihr eine Kugel eingebracht hätte. »Aber rufen Sie doch bitte einen anderen Wagen herbei. Meine Begleiter haben es eilig, und ich muß noch schnell ins Theater zurück.«

Der Polizeibeamte schien verwundert, leistete aber doch der Bitte Folge. Doris stieg ein. Jetzt erst erinnerte sie sich des Chauffeurs. Er hatte doch seine Herren verraten und ihr vielleicht das Leben gerettet; sie mußte sich bedanken und ihn belohnen.

»Mein Chauffeur soll mitfahren«, wandte sie sich wieder an den Polizisten und blickte suchend umher. Sie sah, wie das Auto, das sie hierher gebracht hatte, davonfuhr. Am Steuer aber saß nicht der Chauffeur, den sie an seiner Mütze und Lederjoppe erkannt hätte, sondern einer der beiden Verbrecher.

»Bedaure, Ihr Chauffeur ist nicht mehr da«, sagte der Polizeibeamte achselzuckend.


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