Heinrich Zschokke
Die Rose von Disentis
Heinrich Zschokke

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24.
Die schreckliche Nacht.

Ein erschütternder Schlag, oder Knall, schreckte die beiden Schläfer nach einigen Stunden unangenehm aus ihrer Ruhe auf. Sie sahen umher; die kleine Kammer lag jedoch in tiefer Finsterniß. Durch die blinden Scheiben eines kleinen Fensters dämmerte das Mondlicht. In einer nahe gelegenen Stube entstand ein dumpfes Geräusch; dann erscholl der durchbohrende Schrei: Au secours! au secours! Je me meurs! Miséricorde! (Hülfe! Hülfe! Ich sterbe! Erbarmen!)

Flavian glaubte das Röcheln eines Sterbenden zu hören. Er sprang mit Entsetzen auf und lauschte umher. Plötzlich fiel, wie es schien außer dem Hause, in den Straßen, ein Flintenschuß, welchem verworrener Lärmen durch einander schreiender Stimmen folgte.

Uli, Uli, hier ist ein Unglück geschehen, rief Flavian, tappte zur Thür hin; und durch die dunkle Küche in den Hausgang. Hier erblickte er Gilg Daniffer, den Hauswirth, der, eine Lampe in der Hand, bleich, mit starren, hervorgequollenen Augen, wie ein riesiges Gespenst umherschwankte. Seine Lippen bebten; blieben aber, auf Flavian's wiederholte Fragen, stumm.

Gebt Antwort! schrie der Hauptmann noch einmal, und trat dem Wirthe, der fortwährend einem empfindungslosen Nachtwandler glich, in den Weg. Was giebt's draußen, oder in Euerm Hause? Sind wir überfallen? Waren das nicht Flintenschüsse?

Daniffer erhob langsam den Arm, und deutete mit dem Zeigefinger stumm hinter sich nach dem Zimmer, in welchem man Abends vorher getanzt hatte. Durch die offene Thür desselben fiel ein mattes Licht. Der Jüngling flog dahin. Noch wenige Bauern standen, auf ihre Flinten gelehnt, beisammen: der Eine gähnend; der Andere lachend; ein Dritter lud schweigend sein Gewehr. Sie grinsten dem Ankommenden, ohne sein Fragen zu beachten, in's Gesicht. Einer von ihnen, den er am Arm rüttelte und in's Ohr schrie, lallte endlich mit schwerer Zunge:

Abgemacht! Tanz vorbei, und gut bezahlt, siehst Du?

Prevost starrte die Menschen verwundert an, die seine Reden nicht zu verstehen schienen. Es ist hier Pulverrauch, rief er, warum wurde geschossen?

Krieg, Du Narr, erwiederte der das Gewehr lud, und durch Vor- und Rückwärtsschwanken des Leibes seinen Zustand genugsam verrieth. Hei da! Pulver auf die Pfanne! Schlagt an, Feuer! Alles nieder, mausetodt!

Indem der Hauptmann im Halbdunkel des Zimmers unruhig umherblickte, bemerkte er am Boden einen Menschen liegen. Er ergriff die Lampe und leuchtete herab. Es war ein französischer Soldat, mit zur Erde gekehrtem Gesichte, unter dessen Leibe das Blut hervor floß.

Mörder! schrie Flavian mit Entsetzen die Bauern an. Was habt Ihr gethan? Einen Kriegsgefangenen umgebracht? Was hat er verbrochen? Ihr Männer, packt diesen Bösewicht und führt ihn auf die Wache. Fort mit ihm! Als sich Niemand bewegte, und ihn Alle gleichgültig anglotzten, streckte er den Arm nach jenem aus, dessen Flinte abgeschossen war. Der Trunkenbold taumelte jedoch zurück, und stürzte rücklings über den blutenden Leichnam zu Boden.

Um Beistand herbeizurufen, rannte Prevost zur Thüre, von wo ihm zwei andere eben so trunkene Kerle, vom Hausgang her, entgegentraten und jauchzten. Lustig, Ihr Männer! schrie Einer von ihnen. Ihr seid also fertig. Wir haben's gehört. Der Unsrige in der Kammer drinnen streckt ebenfalls alle Viere von sich. Kommt, kommt! Courage, sagt der Franzos! Schaut her! Bei diesem Worte zeigte der Kerl ein Messer in seiner blutigen Faust. Alle, Alle, sollen d'ran; Keiner lebendig nach Disentis entkommen. Wo sind sie, die Uebrigen? Schon fortgeführt? Auf, ihnen nach! Mir nach! Mir nach!

Damit schwankte er zum Hause hinaus. Sein Begleiter that, wie er. Flavian, voller Entsetzen, und empört von den Gräßlichkeiten, die er gesehen und gehört, eilte den Mordlustigen mit klopfendem Herzen nach. Es blieb ihm kein Zweifel, es war um die Niedermetzelung der unglücklichen Kriegsgefangenen zu thun. Er schmeichelte sich kaum, ihnen Rettung bringen zu können, und doch wandte er sich hinaus, ohne zu wissen, wohin? Nach einigen Schritten gewahrte er seitwärts, im blutbespritzten Schnee, die Leiche eines französischen Kriegers ausgestreckt. Plötzlich blitzte wieder ein heller Schein über den Todten und die nahestehenden Hütten, und ein Flintenschuß knallte im gleichen Augenblicke. Nun richtete er seinen Schritt der Gegend zu, von wo der Schuß gefallen war. Dort stand ein dichtgedrängter Haufen Bewaffneter, mit Weibern und Kindern gemischt. In der Mitte des Schwarmes, am Boden, brannte eine Laterne. Er arbeitete sich ungestüm durch die schweigende, gaffende Menge, während ein Einziger, dem Alle zuhörten, mit feierlicher Stimme, in romanischer Sprache redete.

Endlich bis zum inneren Kreise vorgedrungen, begegneten dem Blicke des Hauptmanns abermals neue Gräuel. Ein erschossener Soldat lag, noch zuckend, am Boden. Neben demselben kniete, mit auf den Rücken gebundenen Händen, ein Anderer der Kriegsgefangenen. Es war ein schöner Jüngling, bleich, in Todesangst, zitternd im Frost der schaurigen Nacht, seiner Uniform halb entkleidet. In den rohen Zügen der Umherstehenden aber wohnte keine Spur des Mitleids; nur Neugierde, oder hämisch lächelnde Bosheit. Die Blicke der Versammlung waren abwechselnd, bald auf die im Schnee liegenden Schlachtopfer, bald auf zwei neben einander stehende Benediktinermönche gerichtet. Einer von diesen redete in der Sprache des Thales, und wie es schien, sehr bewegt, mit bittender Geberde und Stimme. Als er geendet hatte, brüllte Jemand aus dem Haufen romanische Worte, denen viele der Anwesenden Beifall gaben, wobei sie sich einander zunickten.

Still, meine Freunde, sagte der zweite Mönch, ein kleiner, alter Mann, von ehrwürdigem Ansehen, welcher bisher geschwiegen hatte. Laßt auch mich, im Namen Gottes und der gebenedeieten Jungfrau, zu Euch sprechen, ehe Ihr noch einmal Menschenblut vergießet, das um Rache zum Himmel schreit über Euch und Eure Kinder. Höret mich an!

Doch er bat umsonst. In der Menge erhob sich, mit unruhiger Bewegung, wildes verworrenes Murren, welches von Augenblick zu Augenblick ärger tobte, bis eine gewaltige Stimme fluchend dazwischen donnerte und Schweigen gebot. Es war die furchtbare Kehle Uli Goin's, die sich hier vernehmen ließ. Stille! Stille! brüllte der Riese, der Alle überschrie, stille, oder der Donner Gottes rollt über Eure verfluchten Schädel herab. Höret die Worte unsers hochwürdigen Herrn Paters Gregorius, die wohl so viel werth sind, als das blutdürstige Kreischen der Prahlhänse da drüben.

Die Versammlung richtete ihre Augen auf den gewaltigen Rufer. Als er die Aufmerksamkeit, oder das Befremden, der Menge wahrnahm, fügte er eben so kräftig hinzu: Ihr Schlaraffen, was gafft Ihr? Ich sage, wo ein tapferer Mann gegen Hundert steht, da ist's Muth; wo aber, wie hier, Hundert gegen Einen stehen, da ist's Feigheit. Ihr sollt Achtung haben vor einem Priester des Herrn. Ja, schaut mich nur an, beim Donner! ich bin's, Uli Goin, der es sagt, und kein Anderer!

Nun, als Ruhe eingetreten war, hob der greise Mönch die Rede an: Im Namen Gottes, seiner gnadenreichen Mutter und aller Heiligen, hat Euch Euer frommer Seelsorger, der hochwürdige Pater Vigilius Wenzein, schon um Barmherzigkeit für die wehrlosen Kriegsgefangenen angerufen. Ihr hörtet aber seinen Ruf und den Ruf des Himmels nicht; Euer Herz blieb verstockt; Ihr hörtet nur auf den Jubel und das Beifallsgelächter der Hölle! – Wehe über Euch und Eure Kinder, die Hölle wird Eure Gräuelthat belohnen! Ihr habt Gott verlassen, und so wird Gott Euch verlassen und Euch in die Hände Eurer Feinde geben. Ihre Heerschaaren werden mit verdoppelter Macht zurückkehren und Rache nehmen! Ich sehe Eure Häuser in Flammen, Eure Alpen verödet, und über Euren Leichen den Jammer der Wittwen und Waisen! – O, Ihr im Namen Christi Getauften, wo sind Christen unter Euch? Ihr Menschengesichter, wo sind Eure menschlichen Herzen?

Als ich einst aus fernen, deutschen Landen zu Euch kam, hoffte ich, in diesen Thälern wohne Einfalt, Unschuld und Treue, welche in der übrigen Welt fast ausgestorben ist. Diese Nacht hat mich enttäuscht und alle meine künftigen Tage in Nächte verwandelt. Ich sehne mich zu sterben. Tödtet mich alten Mann, denn Ihr lechzet noch nach Blut, doch schonet das Leben dieses armen Jünglings! Dies ist meine letzte Bitte. Erhöret sie; tödtet mich, dann will ich droben, vor dem Throne Gottes, um Gnade für Euch bitten; aber gebet Gnade diesem Jünglinge. Haltet ein mit Morden! Uebt Erbarmen, wenn Euch der Himmel Erbarmen gewähren soll.

Nein! nein! schrie eine Stimme im Haufen. Unser ist die Rache! die welschen Mörderbanden haben meinen Vater erschossen. Unser ist die Rache! Sie haben mein Haus geplündert. Auf, auf, vertilgt die Teufelsbrut! Gedenkt der früheren Worte unserer Priester, als sie uns aufriefen. Wir sind Streiter und Werkzeuge Gottes zur Vertheidigung der heiligen Religion gegen die Frevler und Ketzer. Nieder mit ihnen! Keine Gnade!

Mehr verstand man nicht. Ein rasendes Toben und Waffengeräusch verschlang die Worte des Redenden. Der alte Benediktinermönch kniete neben dem zum Tode Verurtheilten nieder, und hob die Hände zum Himmel. Aber ein Mann, mit hochgeschwungener Axt, sprang in den Kreis, zu dem französischen Jünglinge. Eben so rasch jedoch flog der Schützenhauptmann dem Mordgierigen nach, ergriff ihn, und schleuderte ihn mit so kräftiger Faust zur Seite, daß derselbe ächzend zur Erde stürzte. Wuthheulend und stürmisch fuhr in demselben Augenblicke der Volkshaufen durcheinander. Mit Flintenkolben wurde der Schädel des französischen Gefangenen zerschmettert. Ein Messerstich durchbohrte Prevost's Schulter, ein Bajonetstich seine Hüfte. Er fiel. Zu spät kam Uli Goin, der das Unglück bemerkt hatte, ihm zu Hülfe. Er fand den Blutenden erst wieder, als sich die Menschenmenge verlaufen hatte, weil sie dem, im Jubel fortgeschleppten Leichnam des jungen Franzosen nachrannte.

Die menschenfreundlichen Benediktiner ließen den blutenden Hauptmann, durch einige Zurückgebliebene, in ein benachbartes Haus tragen. Sie lösten seine Kleider; wuschen seine Wunden; stillten durch Verbände mühsam das gewaltsam vorquellende Blut und suchten ihn in's Leben zurückzurufen. Uli Goin war bei Allem der Hülfreichste und Trostloseste. Vor Anbruch des Morgens, während im stille gewordenen Dorfe die Bauern ihren Rausch verschliefen, wurde der Schwerverwundete, dessen Bewußtsein noch immer nicht zurückgekehrt war, nach Disentis gebracht. Hier hatte die Herrschaft des Schlosses Castelberg schon vier bis fünf gefangenen französischen Offizieren eine Zufluchtsstätte gewährt. Auch Prevost wurde sie zu Theil, nachdem sich der Pater Gregorius flehend für ihn verwendet hatte.


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