Heinrich Zschokke
Die Rose von Disentis
Heinrich Zschokke

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22.
Der Sturz.

Seine Niederfahrt über die nur mäßig schräge, glänzende Schneefläche geschah zum Glück anfangs ziemlich langsam; doch bei einer bedenklichen Lage des Körpers: auf dem Rücken liegend, den Kopf nach unten, mit der bedrohlichen Aussicht, an der ersten Steinklippe zerschellt zu werden. Mit Geistesgegenwart versuchte Prevost, durch einen mächtigen Seitenschwung, die Füße wenigstens nach abwärts zu bringen; doch das Kunststück gelang nur zur Hälfte; denn sobald er eine wagerechte Lage bekam, rollte er, wie eine Walze, auf der schiefen Schneefläche abwärts. Mit verzweiflungsvoller Kraftanstrengung schlug er, auf die Gefahr hin, sie zu brechen, Arme und Beine auseinander, und hemmte die Schwindel erregende Bewegung. Endlich gelang ihm sogar, durch Einbohren der Hände und der Eisspornen seiner Schuhe, auf der schlüpfrigen Bahn einen Ruhepunkt zu erlangen. Fast athemlos, verharrte er einige Zeit in der gefahrvollsten Unsicherheit. Der Boden unter ihm, das Gebirge vor ihm, drehte sich eine Weile kreiselnd. Aus der Ferne vernahm er, hoch über sich, noch das Knallen der Flintenschüsse, und unter sich ein dumpfes Geräusch, wie von tobenden Wassern.

Nachdem sich der Schwindel gemildert hatte, wagte er's, halbaufgerichteten Leibes, um sich zu sehen, von wo Rettung möglich sei. Nach der Höhe, von der er gekommen, hinter sich auszublicken, fehlte ihm der Muth; denn die leiseste Bewegung, im lockeren Schnee, konnte ihn in den Abgrund niederreißen, der ihm unter seinen Füßen entgegengähnte. Die breite Abdachung des Bergabhanges lief zu einer Tiefe, deren Boden sich nicht erkennen ließ. Rings um ihn her war Alles eine glatte, blendendweiße, abwärtsgesenkte Fläche, ohne irgend ein Gestrüpp, ohne ein hervorragendes Gestein, das ihm ein Haltpunkt hätte werden können. Wo er fest geklammert hing, konnte er nicht bleiben; aber auch nicht auf Menschenhülfe hoffen. Er starrte bange gen Himmel und seufzte leise: Gute Nacht, Sabine, und seinen Geist Gott empfehlend, entschied er sich rasch, der eiteln Qual des Lebens ein Ende zu machen. Doch die Liebe zum Leben sträubte sich gegen seinen Untergang, und das Verlangen nach Rettung kehrte mächtiger zurück. Es regte sich in ihm die Hoffnung, vielleicht unversehrt die Tiefe des Thales zu erreichen, wenn er leise, Fuß vor Fuß, mit Vorsicht abwärts rücke. Er begann behutsam den Versuch. Da spürte er, daß sich das ganze Schneelager, abgelöst vom Eisgrunde, unter und mit seinem Körper, fortbewege. Bald glitten größere, losgerissene Massen, neben ihm nieder, und ein dicker Silberstaub umflog ihn. Wilder ging Zug und Flug; endlich schoß Alles pfeilschnell mit ihm davon. Es war kein Halten, seine Sinne verdunkelten sich und das Bewußtsein erstarb.

Zuweilen dämmerte eine Vorstellung, wie eine matt aufleuchtende Flamme, in ihm auf, erlosch aber eben so schnell. Es war ein Schweben und Schwanken zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Leben und Tod, nicht das Eine und nicht das Andere. Das Bewußtsein blieb nur ein dumpfes Gefühl der Vernichtung und die einzige vorübergehende Empfindung, die der Leichenkälte seines Gesichtes und das Brausen und Summen, welches ihm durch's Gehör drang. Er athmete noch; hatte noch eine Thätigkeit des Geistes, wenn schon keine Erinnerung. Instinktartig bewegte er die Hand in der eisigen Nässe; schlug die Augen auf und schloß sie; öffnete sie abermals mühsam und sah nichts. Er besann sich halb und halb des Sturzes, ohne zu wissen, ob er noch fortdaure, oder ob der zerschmetterte Leichnam in einem Gletscherschrunde liege. Während des verworrenen Träumens und Brütens wurde ihm das Geschehene klarer, von der Gegenwart wußte er nichts. Sein Leib krümmte sich unwillkürlich, als möchte er sich aufraffen; vermochte es aber nicht. Die Gliedmaßen lagen da, wie gelähmt, zermalmt, oder gebunden; es drückte eine schwere Decke auf der Leiche. Da fuhr ihm ein Entsetzen durch die Seele, daß er noch lebe und lebendig begraben sei. In gräßlicher Angst stieß er mit Stirn und Fäusten gegen die über ihm befindliche Masse. Umsonst. Sie brach immer von Neuem zusammen. Es wurde ihm deutlicher, daß er von einer Lawine verschüttet sei.

Nun gab ihm das verzweifelnde Leben Riesengewalt. Wie ein bohrender Erdwurm zog er die Glieder zusammen, trieb sie aus einander; wühlte mit Haupt, Brust und Armen aufwärts, zog den Unterleib nach sich, bis endlich eine deutliche Helligkeit die Annäherung des Tageslichtes ankündigte. Alsbald wurden seine Bewegungen eiliger, ungestümer, und doch leichter. Er brach endlich durch; stieg aus dem Grabe und, bis zur Ohnmacht erschöpft, sank er am Rande desselben in sich zusammen.

Zwischen zwei schroff aufsteigenden Bergen, deren Füße einander berührten, befand er sich in einer schmalen Schlucht. An der schneebedeckten Seite des einen Berges erkannte er die breit eingerissene Furche der Lawine, die er ohne Zweifel durch seinen Sturz verursacht hatte. Der andere Berg erhob sich steil gegenüber, mit schieferartigen Steinlagern, die treppenförmig über einander hingen, oder tiefe Höhlungen bildeten, wie von den Wasserfluthen der Urwelt ausgewaschen. Darüber lag ein dunkler Tannenwald, dessen größere Hälfte, von Stürmen oder Lawinen niedergebrochen, verwitternd am Boden lag, wie vom Hagelschlag geknickte Halme.

Der Schützenhauptmann bewunderte schaudernd die Erhaltung seines Lebens und seiner Glieder, welche er, von Zeit zu Zeit, ungläubig betastete und ausstreckte. Ja, sogar die Korbflasche, die an seiner Seite hing, war unzerschlagen geblieben. Die Hände gefaltet, und von einem Seufzer begleitet, sandte er einen Blick des Dankes zum Himmel. Dann suchte er einen Ausgang aus dem Felsenschlunde, in welchen ihn sein guter Engel unverwundet hinabgetragen hatte. Ein kleiner Waldbach leistete den Dienst des Wegweisers. Dieser Bach, von Absatz zu Absatz seines Bettes Wasserfälle bildend, eilte durch Schnee und Klippen, unbekannten Gegenden zu.

Die Wanderung durch den wüsten Schlund machte sich nicht ohne Mühseligkeit. Bald wurde die Felsenspalte so enge, daß dem Wasser des kleinen Baches kaum ein Durchgang blieb; bald verrammten ungeheure Steinblöcke den Weg. – Schon war die Nacht hereingebrochen, ehe Flavian beim Sternenschein und Schneeleuchten gewahr werden konnte, daß er endlich in's offene Land gelangt sei. Ohne zu wissen, wohin? schritt er voran, vielleicht neuem Unglück entgegen. Obwohl ihm, von Jugend her, auf Gemsjagden, ähnliche Abenteuer in seinen heimathlichen Gebirgen keineswegs fremd geblieben waren, so wankte dennoch zuweilen sein Muth, wenn er daran dachte, daß er nun von einem, durch Sieg und Niederlage empörten Volke Obdach und Herberge verlangen solle.

Er mochte fast eine Stunde Weges zurückgelegt haben, als er im Schnee eine Menge menschlicher Fußtapfen entdeckte. Entschlossen folgte er der Spur, die ihn zu einer bewohnten Gegend führen mußte.


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