Heinrich Zschokke
Die Rose von Disentis
Heinrich Zschokke

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5.
St. Moriz.

Inmitten dieser Unordnung, welche beim Herandrängen österreichischer Kriegsvölker von Osten, und französischer von Süden und Norden her, gegen die Grenzen, täglich stürmischer wurde, zerrissen die Bande des geselligen Umganges, des häuslichen und Familienlebens. Selbst der berühmte, sonst zahlreich besuchte Sauerbrunnen von St. Moriz, im Hochthal des Engadins, war, während der schönsten Sommermonate, halbverwaist. Und doch ist die Kraft des Heiltrankes, welchen die Gnomen der Unterwelt hier brauen, nicht minder gepriesen, als jene von Spaa und Pyrmont, und noch erhöht durch die reine Luft der Alpen, welche hier erquickend die kranken Glieder badet. Zwar wölben sich nicht, wie dort, Prachthallen über der heiligen Quelle; noch prangen palastähnliche Kur- und Ballsäle, oder öffentliche Unglückshäuser des Glücksspiels neben ihr; doch spricht die Natur in wunderbaren Reizen hier den Wanderer mächtiger an, als in irgend einem anderen Schweizerthale.

Fünftausend Fuß erhaben über dem Meeresspiegel, wohnt der Besucher im anmuthigen, malerischen Gebirgsthal, umringt von einer unbekannten Pflanzenwelt. Durch das Grün schlanker Lärchentannen blitzen drei helle Seen, in denen sich der junge Inn badet, von Wiesen umfangen, welche vom großblüthigen Klee wie mit Rosen bestreut sind. Dunkle Zirbelnußkiefern steigen aus der Ebene an den Hügeln und Urgebirgen empor, die hier mit ihren nahen Gletschern und Silberfirnen das majestätische Bild umsäumen, großartiger als Chamouni und der Grindelwald. Zwischen benachbarten hohen Granitfelsen senkt sich, einem im Herabsturz erstarrten, breiten Strome gleich, der Rosatschagletscher herab, an dessen Enden die Lustwandler Alpen-Anemonen, dunkelblaue Gentianen und nordische Linneen pflücken.

Im Beginn des Herbstes des Jahres 1798 war es, als die hier noch zurückgebliebenen Brunnengäste, meistens Familien des Bündnerlandes, ihre mäßige Anzahl durch ein Paar Spätlinge vermehrt sahen, die einige Aufmerksamkeit erregten. Man hielt sie für ein junges Ehepaar, welches weniger die Heilquelle, als den Honig der Flitterwochen auf der Hochzeitreise, ungestört kosten zu wollen schien. Der junge Mann, kräftig und wohlgebaut, von blühender Gesichtsfarbe, blauen Augen und schwarzen, lockigen Haaren, trug vollkommen das edle Gepräge des Menschenschlages vom Ober-Engadin. Er mochte kaum dem Ende der zwanziger Jahre nahe sein, seine schöne Begleiterin aber dieselben kaum erst begonnen haben. Der Adel ihrer Gestalt und Haltung, das kindlich Zarte ihres Antlitzes, der schwärmerische Blick ihrer blauen Augen unter den schwarzbraunen Locken, und dabei ein um die Lippen spielendes schelmisches Lächeln, waren wie geschaffen, Jeden zu erobern, der ihr nahte. Doch selten nur erschienen Beide am Gesundbrunnen, der vom Dorfe St. Moriz etwa vierhundert Schritt entfernt, neben einem alten, hölzernen Gebäude gelegen war. Gewöhnlich sah man sie, Arm in Arm, durch Wiesen und Wälder allein umherstreifen. Es erhob sich sogar unter den neugierigen Kurgästen Streit darüber, wer von Beiden den Preis der Schönheit verdiene? Und als die Damen sich zu Gunsten des Herrn, die Herren sich zu Gunsten der Dame erklärt hatten, blieb nur noch zu enträthseln, wer das Pärchen eigentlich sei?

Es wurde bald erforscht. Man erfuhr, es seien nichts weniger, als junge Eheleute, sondern Bruder und Schwester, Kinder längst verstorbener, wenig bemittelter Eltern aus dem angrenzenden Thale Bregell, jenseit des wilden Maloggiagebirges; durch eine unerwartete Erbschaft aus England Beide plötzlich reich geworden. Er sei ein Schützenhauptmann, Namens Flavian Prevost; sie eine Frau von Schauenstein, die ihren siechen Gemahl hieher begleitet habe, welcher aber kaum das Zimmer verlassen könne.

Die edle Neugierde oder Wißbegierde war also befriedigt; doch nicht ganz zum Vortheil des vielbesprocheuen Pärchens. Man hatte nämlich zugleich erfahren, der Schützenhauptmann Prevost sei der Vertraute des französischen Residenten Florent Guiot, Freund der Tscharner, Planta, Joste und anderer Patrioten, das ist, Franzosenfreunde, »Revoluzionär und Landesverräther«. Von Stunde an wich man ihnen, wie von Pest Befallenen, mit Scheu aus. Die sonst gar höflichen Herren erwiederten dem jungen Manne, im Begegnen, kaum den Gruß; und auf die liebenswürdige Schwester schielten sie von nun an nur ganz verstohlen. Die Damen aber ließen selbst der unschuldigen jungen Frau keine Gnade mehr widerfahren; die Eine fand sie frech und gefallsüchtig; die Andere linkisch und bäuerisch; die Dritte äußerst geschmacklos und vernachlässigt in der Wahl des Putzes. Sie wendeten das Gesicht ab, wenn sie der Zufall ihr entgegenführte, und erlaubten sich höchstens, einen mitleidigen Blick über die Gestalt des Begleiters hinfliegen zu lassen.


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