Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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II

Es war acht Uhr, Marie hielt es vor Ungeduld in ihrem Zimmer nicht mehr aus, sondern kehrte unaufhörlich wieder ans Fenster zurück, als wenn sie mit einem Atemzuge den ganzen freien Raum, den ganzen weiten Himmel in sich hineintrinken wollte. Ach, welche Wonne, so durch die Straßen, über die Plätze zu laufen, da und dort und immer wieder wo anders hin zu gehen, so weit fort, wie ihr Verlangen sie tragen würde! Und dabei zu beweisen, wie stark sie war, der Eitelkeit nachzugeben, vor der Welt meilenweite Wege zu machen, jetzt, da die Heilige Jungfrau sie geheilt hatte! Es war ein unwiderstehliches Streben, ein Aufflug ihres ganzen Wesens, ihres Blutes, ihres Herzens.

Aber im Augenblick des Aufbruchs entschied sie sich doch dafür, daß ihr erster Besuch mit ihrem Vater der Grotte gelten sollte, in der sie alle beide Unserer Lieben Frau von Lourdes zu danken hatten. Dann würde man frei sein, zwei lange Stunden vor sich haben und spazierengehen können, wohin man wollte, bevor man zum Frühstück ins Hospital zurückkehrte und dort sein kleines Bündel schnürte.

»Nun, sind wir so weit?« wiederholte Herr von Guersaint, »gehen wir?«

Pierre nahm seinen Hut, und alle drei gingen unter lautem Sprechen und Lachen und mit der Fröhlichkeit von Schülern, die in die Ferien ziehen, die Treppe hinunter. Sie hatten bereits die Straße erreicht, als Frau Majesté unter dem Torweg hervorgestürzt kam. Sie mußte wohl auf ihren Ausgang gewartet haben.

»Gnädiges Fräulein, meine Herren, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch darbringe. Wir haben von der außerordentlichen Gnade gehört, die Ihnen widerfahren ist. Wir sind so glücklich, so geschmeichelt, daß die Heilige Jungfrau einen unserer Gäste ausgezeichnet hat.«

Ihr trockenes und hartes Gesicht zerschmolz vor Liebenswürdigkeit, und sie betrachtete das junge Mädchen, an dem sich das Wunder vollzogen hatte, mit zärtlichen Augen. Dann rief sie eilig ihren Gatten, der gerade vorbeiging.

»Sieh doch, mein Lieber, da ist das Fräulein, das Fräulein –«

Das in gelbem Fett schwimmende Gesicht Majestés nahm einen Ausdruck der Freude und Dankbarkeit an.

»Wahrhaftig, gnädiges Fräulein, ich kann Ihnen nicht sagen, wie geehrt wir uns fühlen, wir werden nie vergessen, daß Ihr Herr Vater bei uns abgestiegen ist, schon das macht viele neidisch.«

Während dieser Zeit hielt Frau Majesté die anderen Reisenden, die ausgingen, an, rief mit einer Bewegung die Familien, die sich bereits im Speisesaale niedergelassen hatten, herbei, und würde, wenn man ihr die Muße dazu gelassen hätte, die ganze Straße hereingeholt haben, um zu zeigen, daß sie da war, bei ihr, das wunderbare Mädchen, über das ganz Lourdes seit dem gestrigen Tage in Bewunderung verging. Schließlich sammelte sich eine Menge Leute an, nach und nach entstand ein ganzer Auflauf, und Frau Majesté zischelte einem jeden ins Ohr:

»Sehen Sie, das ist sie, die junge Person, Sie wissen doch, die junge Person –«

Plötzlich rief sie aus:

»Ich werde Appoline aus dem Geschäft holen, Appoline muß das gnädige Fräulein sehen.«

Aber mit würdiger Miene hielt sie nun Majesté zurück:

»Nein, laß Appoline, sie hat schon drei Damen zu bedienen. Das gnädige Fräulein und die Herren werden Lourdes gewiß nicht verlassen, ohne einige Einkäufe zu machen. Die kleinen Andenken, die man mitnimmt, betrachtet man später mit großem Behagen. Und unsere Kunden wollen nie etwas wo anders kaufen als bei uns, in dem Geschäft, das wir mit dem Hotel vereinigt haben.«

»Ich habe schon meine Dienste angeboten«, erklärte Frau Majesté; »Appoline wird glücklich sein, dem Fräulein das Schönste zu zeigen, was wir haben, und zu wahrhaft unglaublich billigen Preisen! Oh, entzückende Sachen, entzückende Sachen!«

Marie fing an, ungeduldig zu werden, daß sie zurückgehalten wurde, und Pierre litt unter der erwachten, immer größer werdenden Neugier. Was Herrn von Guersaint anbetraf, so empfand er Vergnügen an dieser Popularität, an diesem Triumph seiner Tochter.

»Gewiß werden wir einige kleine Nippsachen kaufen, als Andenken für uns und um Geschenke mitzubringen. Aber später, wenn wir zurückkehren.«

Endlich entschlüpften sie und gingen die Avenue de la Grotte hinunter. Das Wetter war nach den Stürmen der beiden vorhergehenden Nächte wieder herrlich. Die erfrischende Morgenluft duftete in der vollen Fröhlichkeit der klaren Sonne. Eine geschäftige, lebensfreudige Menge drängte sich bereits auf den Bürgersteigen. Welches Entzücken für Marie, der alles neu, reizend, unschätzbar erschien. Am Morgen hatte sie einwilligen müssen, daß Raymonde ihr ein Paar Schuhe lieh, denn aus Aberglauben, in der Befürchtung, sie brächten ihr Unglück, hatte sie sich wohl gehütet, Schuhe in ihren Koffer zu legen. Die Schuhe saßen ihr zum Entzücken, und sie hörte mit kindlicher Freude, wie die kleinen Hacken fröhlich klapperten.

Sie erinnerte sich nicht, je so weiße Häuser, so grüne Bäume und so fröhliche Spaziergänger gesehen zu haben. Alle ihre wunderbar zarten Sinne schienen in Festesstimmung zu sein: sie hörte Musik, roch feine Düfte und kostete die Luft mit Behagen wie eine süße Frucht. Was sie aber besonders reizend, köstlich fand, war die Freude, am Arme ihres Vaters spazierenzugehen. Noch nie war ihr das vorgekommen, seit Jahren träumte sie davon, wie von einer großen, unmöglichen Glückseligkeit, mit der man sich während einer Krankheit beschäftigt. Der Traum verwirklichte sich, ihr Herz schlug voller Fröhlichkeit. Sie schmiegte sich fest an ihren Vater und bemühte sich, recht gerade, recht schön zu gehen, um ihm Ehre zu machen. Auch er war ebenso stolz und glücklich wie sie, zeigte sie, stellte sie förmlich zur Schau und strömte über von der Freude, sie, sein Blut, sein Fleisch, seine Tochter, die von nun an in Jugend und Schönheit strahlte, bei sich zu fühlen.

Als alle drei das Plateau de la Merlasse betraten, das von der Schar der Kerzen- und Blumenstraußhändlerinnen, die sich an die Fersen der Pilger hefteten, versperrt war, rief Herr von Guersaint:

»Wir wollen doch sicher nicht mit leeren Händen zur Grotte gehen !«

Pierre, der an Maries anderer Seite ging, blieb vor der lachenden Fröhlichkeit, in der er sie sah, ergriffen stehen. Sofort wurden sie von einem Schwarm von Händlerinnen umringt und umzingelt, die ihnen mit ihren gierigen Händen die Ware fast ins Gesicht stießen.

»Mein schönes Fräulein, meine guten Herren, kaufen Sie mir etwas ab!«

Sie mußten sich wehren, sich losreißen. Herr von Guersaint kaufte schließlich den größten Strauß aus weißen Astern, rund und hart wie ein Kohlkopf, einem sehr schönen, üppigen blonden Mädchen von höchstens zwanzig Jahren ab, das in seiner Frechheit so wenig bekleidet war, daß man die freie Rundung seiner Brust unter der halb aufgeknöpften Jacke sah. Der Strauß kostete übrigens nur einen Frank, und er ärgerte sich, ihn aus seiner schmalen Börse zu bezahlen, und war etwas verwirrt von den Manieren des großen Mädchens, dachte sich auch im stillen, daß sie sicher einen andern Handel betrieb, wenn die Heilige Jungfrau feierte.

Pierre bezahlte dann die drei Kerzen, die Marie einer alten Frau abgenommen hatte, Kerzen für zwei Frank, sehr preiswert, wie sie sagte. Die alte Frau, eine eckige Gestalt mit einer Raubvogelnase und gierigen Augen, erschöpfte sich in honigsüßen Danksagungen.

»Unsere Liebe Frau von Lourdes segne Sie, mein schönes Fräulein! Sie heile Sie von Ihren Krankheiten, Sie und die Ihrigen!«

Das ergötzte sie wieder, und lachend gingen sie alle drei davon, wie die Kinder von dem Gedanken belustigt, daß der Wunsch der guten Frau eine vollendete Tatsache war.

In der Grotte wollte Marie sich sofort dem Vorbeimarsch anschließen, um sogar noch, bevor sie niederkniete, den Blumenstrauß und die Kerzen selber darzubringen. Es waren noch nicht viele Leute da, sie stellten sich hinten an und gingen nach drei bis vier Minuten vorüber. Oh, mit welch verzückten Blicken sie alles betrachtete: den Altar aus Silber, das Harmonium, die Weihebilder, die von Wachs triefenden Leuchter, die im hellen Tageslichte flammten! Die Grotte, die sie bis dahin nur von fern, von ihrem Leidenswägelchen aus gesehen hatte, betrat sie jetzt aus eigener Kraft, sie atmete darin wie im Paradies selbst, in einer lauen Wärme, in einem guten Geruch gebadet, der sie mit seinem göttlichen Dufte fast betäubte! Als sie die Kerzen in den großen Korb gelegt hatte und sich groß genug fühlte, um den Strauß an einer Stange des Gitters zu befestigen, küßte sie lange Zeit den Felsen unter der Heiligen Jungfrau an der Stelle, den schon Millionen Lippen geglättet hatten. Und dieser dem Stein gegebene Kuß war ein Kuß der Liebe, in den sie die ganze Flamme ihrer Dankbarkeit legte, es war ein Kuß, in dem ihr Herz zerschmolz.

Dann warf sich Marie draußen nieder und versank in ein Gebet unendlicher Danksagungen. Ihr Vater war ebenfalls neben ihr niedergekniet und vereinte die Glut seiner Dankbarkeit mit der ihrigen. Aber er konnte sich einer Sache nicht lange Zeit hingeben. Nach und nach wurde er unruhig und beugte sich schließlich zu dem Ohr seiner Tochter nieder, um ihr zu sagen, daß er eine Besorgung zu machen habe, an die er sich eben erst erinnere. Es wäre gewiß das beste, sie bliebe da im Gebet und erwartete ihn.

Während sie ihre Andacht vollendete, würde er sich beeilen und seine Besorgung ausführen. Dann würde man nach Belieben spazierengehen, wohin man wollte. Sie verstand ihn nicht, hörte ihn nicht einmal. Sie begnügte sich, mit dem Kopfe zu nicken, versprach, sich nicht zu rühren, denn sie war wieder von einer so gläubigen Bewegung erfaßt, daß ihre auf die weiße Statue der Jungfrau gerichteten Augen sich mit Tränen füllten.

Als Herr von Guersaint Pierre, der ein wenig abseits geblieben war, erreicht hatte, sprach er sich ihm gegenüber aus.

»Mein Lieber, ich habe eine Gewissenssache abzumachen. Dem Kutscher, der uns nach Gavarnie führte, habe ich das ausdrückliche Versprechen gegeben, seinen Herrn aufzusuchen und ihm die wirklichen Ursachen der Verzögerung mitzuteilen. Sie wissen, es ist der Barbier von der Place du Marcadal. Und dann muß ich mich auch rasieren lassen.«

Ungern mußte Pierre auf den Schwur hin, daß er in einer Viertelstunde zurück sein würde, nachgeben. Da der Weg ihm aber weit erschien, so bestand er darauf, einen Wagen zu nehmen, der unten an dem Plateau de la Merlasse hielt. Dieser Wagen war eine Art Kabriolett, dessen Kutscher, ein dicker, etwa dreißigjähriger Mensch mit einer Baskenmütze, eine Zigarette rauchte. Schräg, mit ausgebreiteten Knien auf dem Bock sitzend, lenkte er mit der ruhigen Unbekümmertheit eines Mannes, der sich als Herr der Straße fühlte, seinen Wagen.

»Wir behalten Sie«, sagte Pierre beim Aussteigen, als sie auf der Place du Marcadal angelangt waren.

»Gut, gut, Herr Abbé, ich erwarte Sie«, entgegnete der Kutscher.

Dann ließ er sein mageres Pferd in der vollen Sonne stehen und unterhielt sich lachend mit einem starken, hochbusigen Mädchen mit fliegenden Haaren, die im Becken des nahen Springbrunnens einen Hund wusch.

Cazaban stand gerade auf der Schwelle seines Ladens, dessen hohe Spiegelscheiben und hellgrüne Farbe dem düstern, öde daliegenden Platze ein heiteres Ansehen verliehen. Wenn die Arbeit nicht drängte, so liebte er es, zwischen seinen beiden Schaufenstern zu triumphieren.

Sogleich erkannte er die Herren.

»Sehr geschmeichelt, sehr geehrt, wollen Sie eintreten, bitte !«

Bei den ersten Worten, die Herr von Guersaint an ihn zu richten geruhte, um den Mann, der ihn nach Gavarnie gefahren hatte, zu entschuldigen, zeigte er sich äußerst wohlwollend. Gewiß war es nicht seine Schuld, er hatte nicht die Kraft, zu verhindern, daß die Räder brachen oder daß die Stürme herniederbrausten. Sofern die Reisenden sich nicht beklagten, wäre alles gut.

»Ach«, rief Herr von Guersaint, »ein wunderbares, unvergeßliches Land.«

»Da unser Land Ihnen gefällt, so werden Sie uns wieder besuchen, und mehr verlangen wir nicht.«

Als dann der Architekt sich auf einen der Stühle setzte und rasiert zu werden wünschte, zeigte er sich voller Eifer. Sein Gehilfe war noch abwesend, er hatte Aufträge zu besorgen für die Pilger, die er beherbergte, für eine ganze Familie, die einen Kasten mit Rosenkränzen, mit gipsernen Heiligen Jungfrauen, mit Kupferstichen unter Glas mitnahm. Man vernahm aus dem ersten Stock Getrampel, heftige Stimmen, das Gepolter inmitten der einzupackenden Gegenstände, ein wirres Durcheinander von Leuten, die die nahe Abreise aufregte. In dem benachbarten Speisesaal, dessen Tür offengeblieben war, leckten zwei Kinder die Schokoladetassen aus und warfen das Tischzeug durcheinander. Das ganze Haus war vermietet, es waren die letzten Stunden dieses Fremdenzudrangs, der den Friseur und seine Frau zwang, sich in das Erdgeschoß zu flüchten, einen engen Keller, in dem sie auf einem Gurtbett schliefen.

Während Cazaban ihn einseifte, stellte Herr von Guersaint an ihn Fragen.

»Nun, sind Sie mit dem Geschäft zufrieden?«

»Gewiß, ich habe mich nicht zu beklagen. Meine Mieter reisen zwar heute ab, aber ich erwarte morgen früh andere, wir haben kaum Zeit, ein wenig rein zu machen, das wird so weitergehen bis zum Oktober.«

Als er sah, daß Pierre stehenblieb, im Laden hin und her ging und mit ungeduldiger Miene die Wände betrachtete, wandte er sich höflich um:

»Setzen Sie sich doch, Herr Abbé, nehmen Sie sich eine Zeitung, es wird nicht lange dauern.«

Als der Priester mit einer Handbewegung gedankt hatte und es ablehnte, sich zu setzen, fuhr der Friseur in seiner gewohnten Redseligkeit fort:

»Oh, bei mir geht's immer, mein Haus ist wegen seiner reinlichen Betten und seiner guten Küche bekannt. Nur die Stadt ist nicht zufrieden, nein! Ich kann sogar sagen, daß ich nie eine solche Unzufriedenheit miterlebt habe.«

Er schwieg eine Minute, rasierte die linke Wange und erklärte plötzlich in einem Aufschrei, der ihm die Wahrheit entriß:

»Die Väter von der Grotte spielen mit dem Feuer, das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Nun war der Bann gebrochen, und er sprach, er sprach, sprach immer weiter. Seine großen Augen rollten in seinem langen Gesicht mit den hervorstehenden Backenknochen und dem sonnverbrannten Teint von schmutzigem Rot, während sein ganzer kleiner, nervöser Körper von dem Übermaß an Bewegungen und Worten zitterte. Er kam auf seine Anklage zurück und erzählte die zahllosen Beschwerden, die die alte Stadt gegen die Väter hatte. Die Hotelbesitzer beklagten sich, die Händler in religiösen Gegenständen erzielten nicht die Hälfte der Einnahme, die sie hätten erzielen müssen, kurz und gut, die neue Stadt belegte das Geld und die Pilger mit Beschlag. Nur für die möblierten Häuser, die Hotels und die in der Nähe der Grotte eröffneten Geschäfte war noch ein Verdienst möglich. Es war ein mitleidsloser Kampf, eine von Tag zu Tag wachsende mörderische Feindseligkeit, denn die alte Stadt büßte in jeder Saison etwas von ihrem Leben ein, sie war sicher dazu bestimmt, zu verschwinden und von der neuen Stadt erdrückt und ermordet zu werden. Ach, diese elende, schmutzige Grotte! Er würde sich lieber die Füße abschneiden lassen, als einen Schritt in die Grotte tun! War es nicht empörend, daß sie neben der Grotte nun auch einen Nippsachenladen aufgemacht hatten? Eine wahre Schande, über die sich ein Bischof so empört gezeigt hatte, daß er deswegen an den Papst schrieb. Er sei Freidenker und Republikaner, der schon unter dem Kaiserreich für die Kandidaten der Oppositionspartei gestimmt hätte, er glaube nicht an ihre schmutzige Grotte und pfiffe darauf!

»Sehen Sie, ich will Ihnen eine Tatsache erzählen. Mein Bruder ist Stadtrat, von ihm weiß ich die Geschichte. Zuerst muß ich Ihnen sagen, daß wir jetzt einen republikanischen Gemeinderat haben, der über die Entsittlichung der Stadt sehr betrübt ist. Abends kann man nicht mehr ausgehen, ohne auf der Straße Dirnen zu begegnen, die anscheinend mit Kerzen handeln. Sie geben sich mit den Kutschern ab, die die Saison uns zuführt, eine unsichere und verdächtige Gesellschaft, die wer weiß woher gekommen ist. Ich muß Ihnen auch die Stellung der Patres gegenüber der Stadt erklären. Als sie die Grundstücke bei der Grotte gekauft haben, unterzeichneten sie einen Vertrag, in dem ihnen ausdrücklich jeder Handel untersagt wurde. Nun, trotz ihrer Unterschrift haben sie dort einen Laden eröffnet. Nicht wahr, das ist eine unlautere, unwürdige Konkurrenz? Der neue Gemeinderat hat sich denn auch entschlossen, die Aufrechterhaltung des Vertrages von ihnen zu fordern und sie zu ersuchen, augenblicklich den Laden zu schließen. Wissen Sie, was sie geantwortet haben? Nun, was sie schon zwanzigmal geantwortet haben und was sie immer zur Antwort geben werden, wenn man sie an ihre Verpflichtungen erinnert: ›Es ist gut, wir sind geneigt, den Vertrag zu halten, aber wir sind die Herren in unserem Hause, und wir schließen die Grotte.‹«

Er hatte sich erhoben und wiederholte mit weit aufgerissenen Augen:

»Wir schließen die Grotte.«

Pierre, der seinen langsamen Spaziergang fortsetzte, blieb plötzlich stehen und sagte ihm ins Gesicht:

»Dann brauchte der Gemeinderat nur zu antworten: ›Schließt sie!‹«

Cazaban wäre beinahe erstickt. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, er geriet außer sich und stotterte:

»Die Grotte schließen, die Grotte schließen!«

»Aber gewiß, da sie Sie ärgert und anekelt, diese Grotte! Da sie eine beständige Ursache zum Kriege, zur Ungerechtigkeit, zur Verderbtheit ist! Dann wäre alles zu Ende, man würde nichts mehr davon hören. Das wäre in der Tat eine ausgezeichnete Lösung, und wenn man etwas Macht besäße, so würde man Ihnen den Dienst erweisen, die Patres zur Ausführung ihrer Drohung zu zwingen.«

Je länger Pierre sprach, desto mehr verlor Cazaban seinen Zorn. Er wurde ganz ruhig und ein wenig blaß. Im Grunde seiner großen Augen sah der Priester eine gewisse Unruhe aufsteigen. War er nicht in seiner Leidenschaft gegen die Patres zu weit gegangen? Viele Geistliche liebten sie nicht, vielleicht befand sich dieser junge Priester nur in Lourdes, um einen Kampf gegen sie zu führen. Wer konnte das wissen? Die Schließung der Grotte war dann immerhin möglich. Man lebte aber doch nur von ihr. Wenn die alte Stadt auch aus Wut darüber schrie, daß sie nur noch kleine Bissen erhaschte, so war sie über das, was ihr zufiel, doch immer noch glücklich, und selbst die Freidenker, die wie alle Welt den Pilgern ihr Geld abnahmen, schwiegen erschreckt und unangenehm berührt, sobald man wegen der häßlichen Seiten des neuen Lourdes allzusehr ihrer Meinung war. Es hieß eben klug sein.

Cazaban wandte sich wieder an Herrn von Guersaint. Er fing an, die andere Seite zu rasieren und flüsterte dabei mit zerstreuter Miene:

»Oh, was ich da von der Grotte sage, geschieht im Grunde genommen nicht, weil sie mir hinderlich ist. Außerdem muß doch auch alle Welt leben.«

Im Speisesaal hatten die Kinder eben unter betäubendem Geschrei eine Tasse zerbrochen. Pierre bemerkte von neuem die frommen Kupferstiche und die Heilige Jungfrau aus Gips, mit denen der Friseur das Zimmer ausgestattet hatte, um seinen Mietern angenehm zu sein. Eine Stimme schrie aus dem ersten Stock, daß der Koffer geschlossen wäre und der Gehilfe möchte so freundlich sein, ihn zur Bahn zu schaffen, wenn er nach Hause käme.

Cazaban blieb den beiden Herren gegenüber, die er im Grunde genommen gar nicht kannte, mißtrauisch und verstört, und in seinem Gehirn spukten beunruhigende Vermutungen. Es brachte ihn in Verzweiflung, sie so fortgehen zu lassen, nachdem er sich selbst bloßgestellt hatte. Wenn er seine allzu heftigen Worte gegen die Patres wenigstens noch hätte zurücknehmen können. Daher gab er auch seinem Verlangen, die Unterhaltung zu erneuern, nach, als Herr von Guersaint aufstand, um sich das Kinn zu waschen.

»Haben Sie von dem gestrigen Wunder gehört? Die Stadt ist außer sich darüber, mehr als zwanzig Personen haben es mir schon erzählt. Ja, es scheint ihnen ein außerordentliches Wunder gelungen zu sein. Eine gelähmte junge Dame ist aufgestanden und hat ihr Krankenwägelchen bis in den Chor der Basilika gezogen.«

Herr von Guersaint, der im Begriff war sich wieder zu setzen, nachdem er sich abgetrocknet hatte, ließ ein wohlgefälliges Lachen hören.

»Diese junge Dame ist meine Tochter.«

Bei diesem plötzlichen, glücklichen Lichtstrahl strahlte Cazaban. Beruhigt vollendete er die Frisur unter einem Schwall von Worten und Bewegungen, die er plötzlich wiedergefunden hatte.

»Ich sage Ihnen meinen aufrichtigsten Glückwunsch, ich bin geschmeichelt, Sie bedient zu haben. Wenn die Tochter geheilt wird, das genügt einem Vaterherzen, nicht wahr?«

Und nun fand er auch für Pierre ein liebenswürdiges Wort. Als er sich entschloß, sie gehen zu lassen, sah er den Priester mit gerührter Miene an und sagte als verständiger Mann, der wünscht, über die Wunder ein endgültiges Urteil zu fällen:

»Es kommen für alle Welt glückliche Wunder vor, Herr Abbé. Von Zeit zu Zeit brauchen wir ein solches Wunder.«

Draußen mußte Herr von Guersaint den Kutscher suchen, der noch immer mit dem Mädchen scherzte, dessen von Wasser triefender Hund sich in der Sonne schüttelte. Übrigens führte sie der Wagen in fünf Minuten an den Fuß des Plateau de la Merlasse zurück. Der Gang hatte doch eine halbe Stunde in Anspruch genommen, und Pierre wollte den Wagen behalten in der Absicht, Marie die Stadt zu zeigen, ohne sie allzusehr zu ermüden. Während der Vater nach der Grotte eilte, um seine Tochter abzuholen, wartete er hier unter den Bäumen.

Sofort knüpfte der Kutscher mit dem Priester eine Unterhaltung an. Er hatte sich eine andere Zigarette angesteckt und zeigte sich sehr vertraulich. Er war aus einem Dorfe aus der Umgegend von Toulouse und konnte sich nicht beklagen, denn er verdiente in Lourdes schönes Geld. Man aß hier gut, amüsierte sich, man konnte die Stadt eine gute Gegend nennen. Er sagte diese Dinge mit der Sorglosigkeit eines Mannes, den seine religiösen Bedenken nicht besonders störten, ohne die Achtung zu vergessen, die er einem Geistlichen schuldig war.

Endlich ließ er von seinem Bock aus, halb liegend, während eins seiner Beine herabhing, langsam die Worte fallen:

»Ach ja, Herr Abbé, Lourdes hat ganz gut angefangen, aber die Hauptsache ist, ob es lange dauern wird.«

Von dem Worte höchst betroffen, überlegte Pierre dessen unwillkürliche, tiefe Bedeutung, als Herr von Guersaint, der Marie führte, wieder erschien. Er hatte sie noch an demselben Platze, in dasselbe Dankgebet versunken zu den Füßen der Heiligen Jungfrau gefunden, und es schien, als habe sie die ganze Flammenglut der Grotte in ihren Augen mit fortgetragen, so leuchteten sie in der göttlichen Freude über ihre Heilung. Sie war unter keinen Umständen dafür, den Wagen zu behalten, nein, nein! Sie zog vor, zu gehen, es kam ihr wenig darauf an, die Stadt zu sehen, wenn sie nur noch eine Stunde lang am Arm ihres Vaters durch die Gärten, die Straßen, die Plätze oder wohin man sonst wollte, gehen würde! Und als Pierre den Kutscher bezahlt hatte, war sie ganz entzückt, mit kleinen Schritten am Rande der mit Blumenbeeten geschmückten Rasenplätze unter den großen Bäumen spazierenzugehen.

Es war alles schön und frisch, die Gräser, Blätter, die einsamen schattigen Alleen, in denen man das ewige Rieseln des Gave vernahm. Dann wünschte sie, in die Straßen, unter die Menge zurückzukehren, um hier die Bewegung, das Leben, den Lärm wiederzufinden, nach dem sich ihr ganzes Wesen sehnte.

Als Pierre in der Rue Saint-Josoph das Panorama bemerkte, in dem man noch die alte Grotte mit der knienden Bernadette am Tage des Kerzenwunders sah, hatte er die Idee einzutreten. Marie war glücklich darüber wie ein Kind, und selbst Herr von Guersaint bezeugte die unschuldigste Freude, besonders, als er bemerkte, daß unter der Schar der Pilger, die sich mit ihnen in dem dunklen Gange drängten, mehrere in seiner Tochter das junge Mädchen wiedererkannt hatten, an der sich am vorigen Tage das Wunder vollzogen hatte und deren Namen bereits glorreich von Mund zu Mund flog. Oben auf der runden Estrade, als man in das matte Licht trat, das durch eine Art Schleier einfiel, wurde Marie eine Ovation bereitet. Es erhob sich ein zartes Flüstern, die Leute richteten. verklärte Blicke auf sie und empfanden eine ekstatische Verzückung, ihr zu folgen, sie zu berühren. Es war, als ob ein Heiligenschein sie umgäbe. Um sie ein wenig in Vergessenheit zu bringen, mußte der mit der Erklärung beauftragte Beamte sich an die Spitze der kleinen Truppe der Besucher stellen. Er führte sie herum und erzählte die Episode, die die ungeheure, kreisförmige Leinwand von hundertundsechsundzwanzig Meter Länge darstellte. Es handelte sich um die siebzehnte Erscheinung der Heiligen Jungfrau vor Bernadette, an dem Morgen, da sie, vor der Grotte kniend, aus Versehen während der Vision die Hand auf der Flamme der Kerze gelassen hatte, ohne sich zu verbrennen. Die ganze alte Landschaft der ursprünglichen Grotte fand sich dort wieder, die ganze Szene war wiederhergestellt mit den historischen Personen, dem Arzt, der im Begriffe ist, das Wunder festzustellen, dem Bürgermeister, dem Polizeikommissar, dem Staatsanwalt, deren Namen der Beamte dem verblüfften Publikum nannte.

Nun erinnerte sich Pierre infolge einer unbewußten Gedankenverbindung an das Wort, das der Kutscher eben zu ihm gesprochen hatte: »Lourdes hat gut angefangen, aber die Hauptsache ist, ob es lange dauern wird.« Das war in der Tat die Frage.

Wie viele geweihte Heiligtümer waren bereits auf diese Weise auf die Stimme unschuldiger Kinder hin erbaut worden, die unter allen begnadet gewesen waren und denen die Heilige Jungfrau sich gezeigt hatte! Immer wieder war es dieselbe Geschichte: eine Erscheinung, eine Schäferin, die man verfolgte, die man als Lügnerin behandelte, dann ein dumpfer Drang des menschlichen Elends, der nach Täuschung dürstete, dann die Propaganda, der Triumph des wie ein Leuchtturm strahlenden Heiligtums und schließlich der Verfall, die Vergessenheit, wenn ein anderes Heiligtum anderswo aus dem verzückten Traum einer andern Seherin entstand. La Salette hatte die antiken heilenden Jungfrauen aus Holz oder Stein entthront, Lourdes hatte La Salette entthront, um wieder von Unserer Lieben Frau des nächsten Gnadenortes entthront zu werden, deren sanftes, trostreiches Gesicht sich einem reinen Kinde zeigen wird, das noch geboren werden muß. Wenn Lourdes ein so rasch aufblühendes, wunderbares Glück gehabt hatte, so verdankte es dies sicher nur der kleinen, aufrichtigen Seele, dem köstlichen Zauber der Bernadette. Hier war keine Heuchelei, keine Lüge. Es war einzig und allein die Blume des Leidens, ein verkrüppeltes, krankes Mädchen, das dem Volke der Kranken ihren Traum von Gerechtigkeit, von Gleichheit in dem Wunder brachte. Sie war nur die ewige Hoffnung, der ewige Trost. Außerdem schienen alle sozialen und historischen Umstände zusammengetroffen zu sein, um am Ende eines schrecklichen Jahrhunderts wissenschaftlicher Forschung das Bedürfnis dieser mystischen Erhebung zu verstärken, und darum würde Lourdes zweifellos noch lange in seinem Triumphe bestehen, bevor es nur zu einer Legende, einer toten Religion mit mächtigem, aber verflogenen Dufte wurde.

O dieses alte Lourdes, diese Stadt des Friedens und des Glaubens, die einzig mögliche Wiege, in dem die Legende erstehen konnte! Wie leicht stellte Pierre es sich vor, als er das weite Gemälde des Panoramas umschritt! Das sagte alles, es lieferte den besten Aufschluß über die Dinge, den man erhalten konnte. Die eintönigen Erklärungen des Führers wurden nicht gehört, die Landschaft sprach von selbst. Da war in erster Reihe die Grotte, das Felsenloch am Ufer des Gaves, ein wilder Ort der Träumerei, dann buschige Abhänge, Steingeröll ohne einen geebneten Weg. Es war noch nichts geschehen, keine Verschönerungen waren angebracht worden, kein Monumentalquai, keine englischen Gartenalleen, die sich zwischen den beschnittenen Gebüschen hinschlängelten, waren angelegt, es war noch keine hergerichtete, verunstaltete, mit einem Gitter geschlossene Grotte da, und vor allem noch kein Laden mit religiösen Gegenständen, noch nicht die Bude der Simonie, die das Ärgernis der frommen Seelen bildete. Die Jungfrau hätte in der Weise keinen reizenderen Winkel wählen können, um sich der Auserkorenen ihres Herzens, dem armen Mädchen zu zeigen, das hier den Traum seiner qualvollen Nächte umherführte, indem es abgefallenes Holz aufhob. Dann sah er auf der andern Seite des Gaves, hinter den Felsen des Schlosses, das alte, vertrauensvolle und schlafende Lourdes. Ein anderes Zeitalter erstand vor ihm, eine kleine Stadt mit ihren engen gepflasterten Straßen, ihren schwarzen Häusern, mit den marmornen Einfassungen ihrer alten, halb spanischen Kirche voll antiker Skulpturen, die mit goldenen Erscheinungen und gemalten Figuren bevölkert war.

Nur zweimal am Tage kamen die Postwagen von Bagnères und Cauterets, um die steile Chaussee der Rue Basse hinaufzufahren. Der Hauch des Jahrhunderts hatte noch nicht über diese friedlichen Dächer geweht, die eine zurückgebliebene, noch immer kindliche Bevölkerung schützten, und diese fügte sich in die engen Bande einer starken, religiösen Zucht. Es gab keinerlei Ausschweifungen, ein geringer, hundertjähriger Handel genügte für das tägliche Leben, ein ärmliches Leben, dessen Rauheit die Sitten schützte. Nie hatte Pierre besser begriffen, wie Bernadette, die in diesem Lande des Glaubens und der Ehrlichkeit geboren war, hier wie eine natürliche Rose erblühen konnte, die sich an den wilden Stöcken des Wegrandes erschlossen hatte.

»Die Sache ist doch sehenswert«, erklärte Herr von Guersaint, als man sich wieder auf der Straße befand, »ich bereue es nicht, das gesehen zu haben.«

Marie lächelte ebenfalls vergnügt.

»Nicht wahr, Vater, man möchte glauben, man wäre drin. Zeitweise scheint es, als bewegten sich die Personen. Und wie reizend sie ist, die Bernadette, auf den Knien, in der Verzückung, während die Flamme der Kerze ihre Finger beleckt, ohne eine Brandwunde zu hinterlassen.«

»Nun«, fuhr der Architekt fort, »haben wir nur noch eine Stunde und müssen doch daran denken, unsere Einkäufe zu machen, wenn wir überhaupt etwas kaufen wollen. Wollt ihr, daß wir in verschiedene Läden gehen? Wir haben allerdings Majesté versprochen, ihm den Vorzug zu geben, aber das hindert uns doch nicht, uns die Sachen auch anderwärts ein wenig anzusehen. Wie? Pierre, was meinen Sie dazu?«

»Aber gewiß, wie Sie wollen«, versetzte der Priester. »Übrigens werden wir auf diese Weise auch einen Spaziergang machen.«

Mit diesen Worten folgte er dem jungen Mädchen und ihrem Vater, die auf das Plateau de la Merlasse zurückkehrten. Seitdem er das Panorama verlassen hatte, empfand er ein eigentümliches Gefühl, als befände er sich an einem andern Ort. Es war, als wenn man ihn plötzlich von einer Stadt in eine andere gebracht hätte, die Jahrhunderte weit entfernt lag. Er verließ die Einsamkeit, den schlafenden Frieden des alten Lourdes, der durch das tote Licht des Vorhangs noch vermehrt wurde, um plötzlich in das neue, in blendendem Lichte strahlende Lourdes zu geraten, in dem eine lärmende Menge sich drängte. Es hatte eben zehn Uhr geschlagen. Das Treiben auf den Straßen war sehr lebhaft, ein ganzes Volk beeilte sich, seine Einkäufe zu beenden, um dann nur noch an die Abreise zu denken.

Die Tausende von Pilgern der nationalen Pilgerfahrt strömten in einem letzten Durcheinander durch die Straßen und belagerten die Läden. Nach dem Geschrei zu urteilen, konnte man an das lärmende Treiben eines Jahrmarktes glauben, der unter dem ununterbrochenen Rollen der Wagen zu Ende geht. Viele versahen sich mit Vorräten für die Reise, kauften die unter freiem Himmel errichteten Buden vollständig aus, in denen Brote, Wurst und Schinken feilgehalten wurden. Man kaufte Früchte, man kaufte Wein, die Körbe füllten sich mit Flaschen, mit dicken Papieren bis zum Platzen. Ein umherziehender Händler, der Käse auf einem kleinen Wagen führte, sah seine Ware wie vom Winde fortgeweht verschwinden. Besonders aber kaufte die Menge religiöse Gegenstände, und umherziehende Händler, deren kleine Wagen mit Statuetten und frommen Kupferstichen beladen waren, machten glänzende Geschäfte. Die Käufer standen in ganzen Reihen hintereinander vor den Läden, die Frauen hatten ungeheure Rosenkränze umgebunden, hatten Heilige Jungfrauen unter den Armen und schleppten Feldflaschen fort, um sie in dem Wunderbrunnen zu füllen. Diese in der Hand getragenen oder an einem Gurtriemen hängenden Feldflaschen, die ein bis zehn Liter faßten, zum Teil ohne Bilder, zum Teil mit einem blau gemalten Bild Unserer Lieben Frau von Lourdes bekleckst, versetzten mit ihrem neuen Blechglanz und ihrem hellen Geklimper die Menge in Heiterkeit. Das Kauffieber, das Vergnügen, sein Geld auszugeben, mit Taschen voller Photographien und Medaillen heimzukehren, belebten die Gesichter mit festlicher Miene und verwandelten diese lustige Menge in eine Kirchweihmenge mit überschwänglichen und befriedigten Gelüsten.

Auf dem Plateau de la Merlasse fühlte sich Herr von Guersaint einen Augenblick versucht, in einen der schönsten und belebtesten Läden einzutreten, dessen Schild in großen Buchstaben die Worte trug:

»Soubirous, Bruder der Bernadette.«

»Nun, wie wär's, wenn wir unsere Einkäufe hier machten? Die Sache hätte mehr Lokalkolorit, und unsere kleinen Erinnerungen erweckten ein größeres Interesse.«

Dann aber ging er vorüber und wiederholte, man müsse zuerst alles sehen. Pierre hatte den Laden des Bruders der Bernadette mit gepreßtem Herzen betrachtet. Es betrübte ihn, daß der Bruder mit der Heiligen Jungfrau handelte, die die Schwester gesehen hatte. Aber er mußte doch leben, und er glaubte zu wissen, daß die Familie der Seherin neben der triumphierenden Basilika in ihrem Goldglanz kein Vermögen erwarb, so schrecklich war die Konkurrenz. Wenn die Pilger auch in Lourdes Millionen zurückließen, der Händler mit heiligen Gegenständen waren es mehr als zweihundert, die Hoteliers und Wohnungsvermieter, die den größten Teil wegnahmen, ungerechnet, so daß der Gewinn, den man sich in so gieriger Weise streitig machte, schließlich ziemlich mittelmäßig war. Das Plateau entlang, links und rechts vom Bruder der Bernadette, befanden sich andere Läden. Es war eine ununterbrochene Reihe von aneinander gedrängten Läden, die die Abteilungen des hölzernen Barackenbaues, einer Art von der Stadt erbauter Galerie, einnahmen, aus der diese sechzigtausend Frank zog. Das waren richtige Basare, offene Auslagen, die sich bis auf den Bürgersteig drängten und die Leute am Gehen hinderten.

Auf mehr als zweihundert Meter gab es keine anderen Geschäfte: es war wie ein Strom von Rosenkränzen, Medaillen und Statuetten, der unaufhörlich durch die Fenster floß. In ungeheuren Buchstaben verkündeten die Schilder verehrungswürdige Namen, den heiligen Rochus, den heiligen Joseph, Jerusalem, die unbefleckte Jungfrau, das geweihte Herz der Maria, kurz alles, was das Paradies an Schönem enthielt, um die Kundschaft zu fesseln und anzuziehen.

»Wirklich«, erklärte Herr von Guersaint, »ich glaube, es ist überall dasselbe, wir wollen in irgendeinen Laden treten, gleichviel in welchen.«

Er hatte genug, diese unendliche Menge von Auslagen ermüdete ihn.

»Da du versprochen hast, bei Majesté zu kaufen«, sagte Marie, die nicht müde wurde, »so ist es das beste, wir kehren dorthin zurück.«

»Ganz recht, gehen wir wieder zu Majesté.«

Aber in der Avenue de la Grotte fingen die Läden wieder an. Auf beiden Seiten drängten sie sich von neuem. Es gab da auch Juweliere, Modeartikelhändler und Regenschirmverkäufer, die zugleich religiöse Gegenstände feilboten. Sogar ein Konditor war da, der Schachteln mit Lourdeswasserplätzchen verkaufte, deren Deckel ein Bildnis der Jungfrau Maria trug. Die Schaukästen eines Photographen waren voller Ansichten der Grotte und der Basilika, mit Bildnissen von Bischöfen, ehrwürdigen Patres aller Orden, die sich unter die berühmten Aussichten der nahen Berge mischten. Eine Buchhandlung stellte die letzten katholischen Bücher aus, Bände mit frommen Titeln, unter diesen die seit zwanzig Jahren über Lourdes veröffentlichten Werke, von denen einige einen wunderbaren Erfolg erzielt hatten. Auf diesem großen, volkreichen Wege floß die Menge in einem breiten Strome dahin, die Feldflaschen klangen, eine laute Lebensfreude herrschte in der klaren Sonne, die die Straße von einem Ende bis zum andern beschien. Die Statuetten, Medaillen, die Rosenkränze schienen kein Ende nehmen zu wollen, eine Auslage folgte der andern, Kilometerweit ging es so fort durch die Straßen der ganzen Stadt, die ein Basar mit immer gleichen Artikeln geworden zu sein schien. Vor dem Hotel des Apparitions zögerte Herr von Guersaint wieder. »Es ist also abgemacht, wir machen unsere Einkäufe hier?«

»Aber gewiß«, sagte Marie, »sieh doch, wie schön der Laden aussieht.«

Damit trat sie zuerst in den Laden ein, der in der Tat einer der geräumigsten der Straße war und das Erdgeschoß des Hotels auf der linken Seite einnahm. Herr von Guersaint und Pierre folgten ihr. Appoline, die Nichte der Majestés, die mit dem Verkauf betraut war, stand auf einer Trittleiter und war im Begriff, aus einem hohen Schaukasten Weihkessel zu nehmen, um sie einem jungen Manne, einem eleganten Sänftenträger, der wunderbare gelbe Gamaschen trug, zu zeigen. Sie lachte mit einem reizenden Turteltaubengirren, mit den prächtigen Augen in dem etwas viereckigen Gesicht mit der geraden Stirn, den vollen Wangen und den starken roten Lippen.

Pierre sah ganz deutlich, wie die Hand des jungen Mannes den Strumpf eines Beines streichelte, das freiwillig hingehalten zu werden schien. Das war übrigens nur die Vision einer Sekunde. Das junge Mädchen war bereits behende zur Erde gesprungen und fragte:

»Sie glauben also nicht, daß dieser Weihkessel Ihrer Tante gefallen würde?«

»Nein, nein«, erwiderte der Herr und ging, »verschaffen Sie sich das andere Modell, ich reise erst morgen ab und werde wiederkommen.«

Als Appoline erfuhr, Marie sei das junge Mädchen, an dem sich das Wunder vollzogen hatte und von dem Frau Majesté seit dem vorigen Tage sprach, zeigte sie sich sehr geschäftseifrig. Sie betrachtete sie mit ihrem fröhlichen Lächeln, in dem ein wenig Überraschung, leise Ungläubigkeit, gleichsam der geheime Spott eines schönen, in ihren Körper närrisch verliebten Mädchens lag. Aber als gewandte Verkäuferin erschöpfte sie sich sogleich in liebenswürdigen Worten.

Wie glücklich werde ich sein, Ihnen etwas zu verkaufen! Ihr Wunder ist ja so außerordentlich schön. Sehen Sie, das ganze Geschäft steht zu Ihren Diensten. Wir haben die größte Auswahl.«

Marie war in Verlegenheit.

»Ich danke Ihnen, Sie sind sehr liebenswürdig, wir wollen nur Kleinigkeiten kaufen.«

»Wenn Sie gestatten«, sagte Herr von Guersaint, »werden wir unsere Wahl selbst treffen.«

»Bitte, mein Herr, wählen Sie, dann werden wir ja sehen.«

Da jetzt andere Kunden eintraten, vergaß sie Appoline, nahm ihren Beruf als hübsche Verkäuferin wieder auf, und zwar mit schmeichlerischen Worten, verführerischen Bewegungen, namentlich den Männern gegenüber, die sie nur mit allen Taschen voller Einkäufe fortgehen ließ.

Von dem Goldstück, das ihm Blanche, seine älteste Tochter, bei der Abfahrt als Taschengeld zugesteckt hatte, besaß Herr von Guersaint nur noch zwei Frank. Daher wagte er nicht, in seiner Wahl allzu weit zu gehen. Aber Pierre erklärte, man würde ihm wehe tun, wollte man ihm nicht gestatten, seinen Freunden die paar Gegenstände anzubieten, die sie aus Lourdes mitnehmen würden. Nun kam man darüber ein, daß man zuerst ein Geschenk für Blanche wählen wollte und daß dann Marie und ihr Vater jeder das Andenken sich aussuchen sollte, das ihnen am besten gefiele.

»Nur keine Überstürzung«, sagte Herr von Guersaint immer wieder. »Hörst du, Marie? Sieh dich nur recht um. Was würde Blanche wohl am meisten Vergnügen machen?«

Alle drei suchten nun, wühlten und stöberten in den Gegenständen herum. Aber ihre Unentschlossenheit nahm zu, je öfter sie von einem Gegenstande zum andern übergingen. Das große Geschäft mit seinen Ladentischen, seinen Schaufenstern, seinen Kästen, die es von oben bis unten schmückten, war wie ein Meer von zahllosen Fluten, eine Fülle aller möglichen religiösen Gegenstände. Da sah man Rosenkränze, ganze Pakete von Rosenkränzen, die an den Wänden hingen, Haufen von Rosenkränzen in den Schubladen, von den geringen Rosenkränzen zu zwanzig Sous das Dutzend, bis zu den Rosenkränzen aus wohlriechendem Holz, aus Achat, aus Lasursteinen, die mit Gold oder Silber eingefaßt waren. Einzelne, riesig große, die so lang waren, daß man sie doppelt um den Hals und die Hüfte tragen konnte, wiesen sorgfältig bearbeitete Perlen auf, die die Größe von Nüssen hatten und durch Totenköpfe voneinander getrennt waren. Dann gab es Medaillen, eine Regenflut von Medaillen, Medaillen in vollen Schachteln, von allen Größen, aus allen Metallen, die billigsten und die kostbarsten, mit verschiedenen Inschriften, Medaillen, die die Basilika, die Grotte, die Unbefleckte Empfängnis darstellten und die je nach den Börsen der Käufer graviert, ziseliert, emailliert, sorgfältig ausgearbeitet oder in gewöhnlicher Ausführung zu haben waren.

Ferner waren Statuen der Heiligen Jungfrau da, kleine und große, aus Zink, aus Holz, aus Elfenbein, besonders aber aus Gips, die einen ganz weiß, die anderen mit lebhaften Farben bemalt. Sie alle gaben bis ins kleinste die von Bernadette gelieferte Beschreibung wieder, das liebenswürdige und lächelnde Antlitz, den sehr langen Schleier, die blaue Schärpe, die goldenen Rosen an den Füßen. Jedes Modell war aber wieder etwas anders, um durch die Verschiedenartigkeit das Eigentum des Verfertigers zu schützen. Und noch eine andere Flut religiöser Gegenstände war vorhanden, hundert verschiedenartige Skapuliere, Tausende von frommen Bildern, feine Kupferstiche, schlechte Lithographien, die ein Gewimmel kleiner, kolorierter, vergoldeter, lackierter, mit Blumensträußen geschmückter und mit Spitzen gezierter kleiner Bilder förmlich ertränkte. Es gab auch Ringe, Broschen, Armbänder, mit Sternen und Kreuzen geschmückt und mit heiligen Figuren versehen. Und dann herrschte noch der Pariser Artikel vor, der das übrige zurückdrängte: Bleistifthalter, Portemonnaies, Zigarrentaschen, Briefbeschwerer, Papiermesser, kurz, unzählige Gegenstände, auf denen fortwährend die Basilika, die Grotte, die Heilige Jungfrau wiederkehrten, die auf alle Arten, in allen bekannten Herstellungsweisen wiedergegeben waren. In einem Kasten von Fünfzig-Centimes-Artikeln stapelte sich ein Durcheinander von Serviettenringen, von Eierbechern und von Holzpfeifen auf, auf denen die Erscheinung Unserer Lieben Frau von Lourdes in strahlender Schönheit eingeschnitzt war.

Nach und nach war Herr von Guersaint der Sache überdrüssig geworden, es hatte sich seiner eine gewisse Traurigkeit, die Reizbarkeit eines Mannes bemächtigt, der sich einbildete, ein Künstler zu sein.

»Aber das ist ja gräßlich, das ist ja alles gräßlich«, wiederholte er bei jedem neuen Artikel, den er prüfend ansah.

Er machte sich Luft, indem er Pierre an den mißlungenen Versuch erinnerte, den er unternommen hatte, um in den religiösen Bilderhandel einen Umschwung zu bringen. Die Trümmer seines Vermögens waren dabei verlorengegangen, was ihn angesichts der ärmlichen Gegenstände, mit denen das Geschäft überladen war, noch strenger machte. Hatte man je Sachen von so dummer, so verworrener und dabei so anspruchsvoller Häßlichkeit gesehen? Die Gemeinheit der Idee und die Albernheit des Ausdrucks fanden in der handwerksmäßigen Ausführung ein würdiges Seitenstück. Das alles hatte etwas von dem Modenbild, von dem Deckel der Bonbonbüchse, von den Wachspuppen an sich, die sich in den Friseurläden drehen. Es war eine gequält hübsche, gezwungen kindliche Kunst, ohne wirklich menschliches Empfinden, ohne Ausdruck, ohne jede Aufrichtigkeit. Der Architekt, der einmal im Zuge war, hielt nicht mehr inne, er sprach auch von seinem Ekel vor den Bauten des neuen Lourdes, von der beklagenswert häßlichen Herrichtung der Grotte, der Ungeheuerlichkeit der Treppen, der Mißverhältnisse der Rosenkranzkirche und der Basilika, von denen jene zu schwer war und einem Getreideschuppen ähnlich sah.

»Man muß den lieben Gott wahrhaftig sehr lieben«, schloß er seine Worte, »um den Mut zu haben, ihn unter solchen Greueln anzubeten! Sie haben alles falsch gemacht, haben alles verpfuscht, wie zum Vergnügen, ohne daß ein einziger auch nur auf eine Minute die innere Bewegung, die wahre Naivität und den aufrichtigen Glauben besessen hätte, die allein Meisterwerke hervorbringen. Es waren alle nur Schlauköpfe, alle nur Kopisten, kein einziger war mit Leib und Seele dabei. Und was braucht man denn, um sie zu inspirieren, wenn sie selbst hier in dem Lande des Wunders nichts Großes hervorbringen können?«

Pierre antwortete nicht, aber er war von diesen Betrachtungen betroffen und hatte nun endlich eine Erklärung für das Unbehagen, das er seit seiner Ankunft in Lourdes empfand. Dieses Unbehagen hatte seinen Grund in dem Widerspruch zwischen der ganz modernen Umgebung und dem Glauben der vergangenen Jahrhunderte, dessen Wiedererweckung man versuchte. Er beschwor die alten Kathedralen herauf, in denen dieser Glaube der Völker nachzitterte. Er sah wieder die alten Gegenstände des Kultus, die Heiligenbilder, die heiligen Gold- und Silbergefäße, die Heiligen aus Stein und Holz von wunderbarer Kraft und Schönheit des Ausdrucks. In jenen fernen Zeiten waren die Meister, denen man die Arbeiten verdankt, vom Glauben erfüllt. Sie gaben ihre Seele in der ganzen Naivität ihrer Empfindung, wie Herr von Guersaint sagte. Heute aber bauten die Architekten die Kirchen mit der gleichen ruhigen Fertigkeit, mit der sie fünfstöckige Wohnhäuser aufführen. Ebenso wurden die religiösen Gegenstände, die Rosenkränze, die Medaillen, die Statuetten in den volkreichen Vierteln von Paris von leichtfertigen Arbeitern, die die Religionsgebräuche nicht beobachteten, in Massen hergestellt. Daher auch dieser Trödel, dieser Plunder von Waren, über deren Schönheit man weinen, von deren alberner Sentimentalität es einem übel werden konnte. Lourdes war davon überschwemmt, verwüstet und so verunstaltet, daß es die etwas zartfühlenden Personen, die sich in seinen Straßen verirrt hatten, abstieß. Das alles verband sich in brutaler Weise mit der versuchten Wiedererweckung, mit den Legenden, den Zeremonien, den Prozessionen der längst dahingegangenen Zeitalter, und Pierre dachte plötzlich, daß Lourdes historisch und sozial verurteilt war, daß der Glaube bei einem Volke auf ewig tot ist, wenn es ihn nicht mehr in den Kirchen spürt, die es baut, noch bei den Rosenkränzen, die es herstellt.

Marie hatte fortwährend mit kindlicher Ungeduld in den Auslagen gewühlt, sie zögerte und fand nichts, was ihr des großen Traumes der Verzückung, den sie in sich bewahren wollte, würdig erschien.

»Vater, die Zeit wird knapp, du mußt mich ins Hospital zurückbringen. Und um ein Ende zu machen, siehst du, werde ich Blanche diese Medaille mit der silbernen Kette schenken. Das ist noch das einfachste und hübscheste. Ich selbst nehme diese Statuette Unserer Lieben Frau von Lourdes, das kleine Modell, das ziemlich hübsch gemalt ist. Ich werde es in mein Zimmer stellen und mit frischen Blumen umgeben. Nicht wahr, das wird sehr hübsch aussehen?«

Herr von Guersaint stimmte ihr bei. Dann sagte er, auf seine eigene Wahl zurückkommend:

»Mein Gott, in welcher Verlegenheit befinde ich mich!«

Er betrachtete prüfend elfenbeinerne Federhalter, die in Erbsen ähnlichen Kugeln endeten, in denen sich mikroskopische Photographien befanden. Als er, um zu sehen, das Auge an eines der winzigen Löcher legte, stieß er einen Schrei der Bewunderung aus.

»Sieh da, das Panorama von Gavarnie. Ach, das ist wunderbar, alles ist darin, wie kann der Riese darin nur Platz finden? Wahrhaftig, ich nehme diesen Federhalter, er ist hübsch und wird mich an meinen Ausflug erinnern.«

Pierre hatte ganz einfach ein Bild der Bernadette gewählt, die große Photographie, die sie auf den Knien, im schwarzen Kleid, ein Tuch über die Haare geknüpft, darstellt. Wie man sagt, ist das das einzige, das nach der Natur aufgenommen wurde. Er beeilte sich zu bezahlen, und alle drei wollten aufbrechen, als Frau Majesté eintrat, Einspruch erhob und Marie durchaus ein kleines Geschenk machen wollte, indem sie sagte, daß das ihrem Hause Glück bringen würde.

»Ich bitte Sie, nehmen Sie ein Skapulier, hier eines von diesen. Die Heilige Jungfrau, die Sie auserkoren hat, wird es mir schon bezahlen.«

Sie erhob die Stimme und machte so viel Aufhebens, daß die Käufer, die den Laden füllten, aufmerksam wurden und von nun an das junge Mädchen mit gierigen Augen betrachteten. Das war die Popularität, die sich ihrer wieder zu bemächtigen begann und die sich schließlich auch auf der Straße kundgab, als die Hotelbesitzerin auf die Schwelle ihres Ladens trat, den Kaufleuten gegenüber Zeichen machte und die Nachbarschaft in Aufruhr versetzte.

»Gehen wir«, sagte Marie, die immer verlegener wurde. Aber ihr Vater hielt sie noch zurück, als er einen Priester eintreten sah.

»Ah, der Abbé des Hermoises.«

Es war in der Tat der schöne, nach Wohlgerüchen duftende Abbé in feiner Soutane. Sein frisches Gesicht strahlte in sanfter Fröhlichkeit. Er hatte seinen Gefährten vom vorigen Tage nicht gesehen und sich lebhaft Appoline genähert, die er beiseite zog.

Pierre hörte, wie er halblaut sagte:

»Warum haben Sie mir heute morgen nicht meine drei Dutzend Rosenkränze gebracht?«

Appoline hatte wieder mit ihrem Turteltaubengirren zu lachen angefangen, wobei sie ihn, ohne zu antworten, von oben bis unten spöttisch anblickte.

»Sie sind für meine kleinen Beichtkinder in Toulouse bestimmt, ich wollte sie unten in meinen Koffer legen, und Sie hatten mir angeboten, beim Packen meiner Wäsche zu helfen.«

Sie lachte noch immer und sah ihn mit ihren hübschen Augen kokett von der Seite an.

»Jetzt werde ich erst morgen reisen, bringen Sie sie mir heute abend, nicht wahr, wenn Sie frei sind. Ich wohne am Ende der Straße bei der Duchêne, im Parterrezimmer. Seien Sie nett und kommen Sie selbst.«

Mit ihren roten Lippen sagte sie endlich scherzend in einem Tone, der ihn im ungewissen darüber ließ, ob sie ihr Versprechen auch halten würde:

»Gewiß, Herr Abbé, ich werde kommen.«

Sie wurden unterbrochen, denn Herr von Guersaint war vorgetreten, um dem Priester die Hand zu schütteln. Sofort sprachen sie wieder von dem Ausflug nach Gavarnie, ein köstlicher Ausflug, reizende Stunden, die sie niemals vergessen würden. Dann belustigten sie sich auf Kosten ihrer beiden Gefährten, wenig bemittelter Geistlicher, braver Leute, deren Naivität sie riesig amüsiert hatte. Der Architekt erinnerte schließlich seinen neuen Freund daran, daß er versprochen hatte, eine Persönlichkeit aus Toulouse, einen zehnfachen Millionär, für seine Studien über die Lenkbarkeit des Luftschiffes zu interessieren.

»Ein erster Vorschuß von hunderttausend Frank würde genügen«, sagte er.

»Zählen Sie auf mich«, erklärte der Abbé des Hermoises, »Sie sollen nicht umsonst zur Heiligen Jungfrau gebetet haben.«

Pierre, der das Bild der Bernadette in der Hand behalten hatte, war plötzlich ganz betroffen über die außerordentliche Ähnlichkeit Appolines mit der Seherin. Das war dasselbe, etwas plumpe Gesicht, derselbe überstarke Mund, dieselben prächtigen Augen, und er erinnerte sich, daß Frau Majesté ihm bereits von dieser seltsamen Ähnlichkeit erzählt hatte. Er erinnerte sich jetzt um so lebhafter, als Appoline ganz dieselbe armselige Kindheit in Bartrès verlebt hatte, bevor ihre Tante sie zu sich nahm, damit sie ihr im Laden helfe. Bernadette! Appoline! welch seltsame Zusammenstellung, welch unerwartete Wiederverkörperung in dreißigjährigem Abstand! Und plötzlich erstand mit dieser so leichtfertig lachenden Appoline, die Verabredungen annahm und über die die liebenswürdigsten Gerüchte im Umlauf waren, das neue Lourdes vor seinen Augen: die Kutscher, die Kerzenhändlerinnen, die Zimmervermieterinnen, die den Gast am Bahnhof ansprachen, die hundert möblierten Häuser mit den kleinen diskreten Wohnungen, der Schwarm der freien Priester, der leidenschaftlichen Pflegerinnen und der einfachen Reisenden, die hierherkamen, um ihre Gelüste zu befriedigen. Dann stieg auch die Wut des von dem Millionenregen entfesselten Schachers vor ihm auf, er sah die ganze Stadt auf rastloser Jagd nach Gewinn, die Läden, die die Straßen in Basare umwandelten und sich gegenseitig verschlangen, die Gasthöfe, die gefräßig von den Pilgern lebten, bis zu den blauen Schwestern, die Tischgäste aufnahmen, bis zu den Patres von der Grotte, die aus ihrem Gott Kapital schlugen! Welch trauriges und erschreckendes Abenteuer! Die Vision der reinen Bernadette versetzte die Menge in Begeisterung, veranlaßte sie, sich mit Ungestüm der Illusion vom Glück hinzugeben. Sie führte einen Goldstrom herbei und von diesem Tage an verfaulte alles. Das Wehen des Aberglaubens, das Zusammenströmen der Menschen, das Herbeifließen des Geldes hatte genügt, um diesen bisher ehrenhaften Erdenwinkel auf ewig dem Verderben zu weihen. Wo einstmals die reine Lilie geblüht hatte, sproß jetzt in einem neuen Beet der Habgier und des Genusses die Rose der Sinnlichkeit. Aus Bethlehem war Sodom geworden, seitdem ein unschuldiges Kind die Jungfrau gesehen hatte.

»Nun, was habe ich Ihnen gesagt?« rief Frau Majesté, als sie bemerkte, daß Pierre ihre Nichte mit dem Bilde verglich. »Ist es nicht Bernadette, wie sie leibt und lebt?«

Das junge Mädchen trat mit ihrem liebenswürdigen Lächeln näher.

»Sieh, sieh«, sagte der Abbé des Hermoises mit lebhaftem Interesse. Er nahm die Photographie, verglich sie ebenfalls und geriet in Erstaunen. »Das ist sonderbar, dieselben Züge. Ich hatte das noch gar nicht bemerkt, ich bin wirklich entzückt.«

»Aber ich glaube doch«, erklärte schließlich Appoline, »sie hatte eine dickere Nase.«

Nun stieß der Abbé einen Ruf der Bewunderung aus.

»Sie sind hübscher, viel hübscher, das ist klar. Aber das tut nichts, man würde Sie doch für zwei Schwestern halten.«

Pierre konnte sich des Lachens nicht erwehren, so sonderbar fand er das Wort. Ach, die arme Bernadette war tot und hatte keine Schwester. Sie hätte nicht wieder auferstehen können, sie war nicht mehr möglich in diesem Ort des Wirrwarrs und der Leidenschaft, zu dem sie Lourdes gemacht hatte.

Endlich ging Marie am Arme ihres Vaters fort. Es wurde verabredet, daß beide sie aus dem Hospital abholen würden, um sich dann zusammen nach dem Bahnhofe zu begeben. Auf der Straße erwarteten sie mehr als fünfzig Personen, die sich wie in Verzückung befanden. Man begrüßte sie, man folgte ihr, und eine Frau ließ ihr krankes Kind das Kleid des jungen Mädchens berühren, an dem sich das Wunder vollzogen hatte.


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