Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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II

An diesem Montag war der Zulauf zur Grotte unerhört groß. Es war der letzte Tag, den die nationale Pilgerfahrt in Lourdes verbringen sollte, und der Pater Fourcade hatte in seiner am Morgen gegebenen Verhaltungsvorschrift gesagt, man müßte die höchste Kraft des Eifers und Glaubens aufwenden, um vom Himmel alles zu erlangen, was er wohl an Gnaden und wunderbaren Heilungen würde gewähren wollen. Deshalb waren auch seit zwei Uhr nachmittags zwanzigtausend fiebernde und von den glühendsten Hoffnungen erregte Pilger am Platze. Der Menschenstrom wuchs fortwährend, von Minute zu Minute und in einem solchen Grade, daß der Baron Suire erschreckt aus der Grotte heraustrat, um Berthaud wiederholt zu sagen:

»Mein Freund, wir werden gleich überrannt werden, ganz gewiß. Verdoppeln Sie Ihre Mannschaft und bringen Sie Ihre Leute näher heran.« Die Pflegerschaft von Notre-Dame de Salut war allein mit der Aufrechterhaltung der guten Ordnung beauftragt, denn es gab weder Aufseher noch Polizisten irgendwelcher Art. Das war auch der Grund, weshalb sich der Präsident des Vereins derart beunruhigte. Berthaud jedoch war, wenn es Ernst galt, ein Vorsteher, auf den man hörte, und zeigte eine Tatkraft, die Mut einflößte.

»Haben Sie keine Sorge«, erwiderte er, »ich hafte für alles. Ich werde hier nicht von der Stelle weichen, bis die Vieruhrprozession vorübergezogen ist.«

Inzwischen rief er Gérard mit einem Zeichen zu sich.

»Gib deinen Leuten die strengste Weisung!« sagte er. »Sie dürfen einzig und allein die Personen passieren lassen, die mit Karten versehen sind. Und halte sie nahe beieinander, sage ihnen, sie sollen das Seil kräftig festhalten!«

Unter den Efeuranken, die den Felsen bekleideten, öffnete sich die Grotte und glänzte in der ewigen Glut ihrer Kerzen. Von ferne zeigte sie sich etwas gedrückt, unregelmäßig, eng und bescheiden, ungeachtet des Hauches der Unendlichkeit, der von ihr ausging, jedes Angesicht bleicher machte und alle Häupter beugte. Die Statue der Jungfrau war nur noch ein weißer Flecken, der sich in der zitternden, von den kleinen gelben Flammen erhitzten Luft zu bewegen schien. Man mußte sich aufrichten, dann erkannte man hinter dem Gitter die verschwommenen Umrisse des silbernen Altars und des Harmoniums, die Blumensträuße und die Weihbilder, die die rauchigen Wände schmückten. Es war ein wunderbar schöner Tag. Noch niemals hatte sich ein reinerer Himmel über der unermeßlichen Menschenmenge ausgebreitet. Hauptsächlich erquickend war der milde Wind nach dem nächtlichen Gewitter, das die allzu drückende Hitze der ersten zwei Tage zum Sinken gebracht hatte.

Gérard mußte von den Ellenbogen Gebrauch machen, um seine Befehle zu wiederholen. Schon gab es hier und da Stöße.

»Noch zwei Mann hierher! Stellen Sie sich in Reihen zu vier auf, wenn es nötig ist, und spannen Sie das Seil fest an!«

In der Menge offenbarte sich ein unüberwindlicher Trieb: die zwanzigtausend Personen, die am Platze waren, wurden von der Grotte gleichsam angezogen. Sie gingen zu ihr, wie von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, in der sich brennende Neugier mit dem Durst nach dem Wunder vermischte. Alle Augen richteten sich auf einen und denselben Punkt, jeder Mund, alle Hände und alle Leiber wurden dem bleichen Flammenglanz der Kerzen, dem weißen, beweglichen Fleck entgegengetragen, den die Marmorstatue der Jungfrau bildete. Und damit der breite, den Kranken vorbehaltene Raum vor dem Gitter von dem wachsenden Menschengewühl nicht überschwemmt wurde, hatte man ihn mit einem dicken Seil umgeben müssen, das die Sänftenträger in Zwischenräumen von zwei oder drei Meter mit beiden Händen festhielten. Sie hatten den Befehl, nur die Kranken eintreten zu lassen, die eine von der Pflegerschaft ausgestellte Karte bei sich führten, oder aber die wenigen Personen, die mit einer besonderen Ermächtigung versehen waren. Sie ließen es dabei bewenden, das Seil aufzuheben und es hinter den Auserwählten wieder fallen zu lassen, ohne irgendwelchen anderen Bitten Gehör zu schenken. Sie zeigten sich sogar ein wenig barsch, da sie unbewußt Vergnügen daran fanden, die Macht und Gewalt auszuüben, mit der sie nur für einen Tag bekleidet waren. Man stieß sie wirklich heftig herum, und sie mußten, sich gegenseitig stützend, mit der ganzen Festigkeit ihres Rückgrats Widerstand leisten, um nicht mit Gewalt fortgerissen zu werden.

Während sich sodann die Bänke vor der Grotte und der weite, abgesonderte Platz mit Kranken, kleinen Wagen und Tragbahren anfüllte, trieb sich die Menge, die unermeßliche Menge, in der Umgebung herum. Man ging vom Platz der Rosenkranzkirche aus und verlor sich in der Tiefe des den Gave entlangführenden Spazierwegs. Auf seiner ganzen Länge war der Bürgersteig schwarz von Leuten, schwarz von einer so dichten Menschenwelle, daß der Verkehr gehemmt wurde. Auf der Brustwehr saßen Frauen in endloser Reihe, einige standen sogar darauf, um besser zu sehen, und ließen die helle, festlich heitere Seide ihrer Sonnenschirme im Licht der Sonne schimmern. Man hatte eine Allee freibehalten wollen, um die Kranken heranzuführen. Aber sie wurde fortwährend von der Menge überlaufen und versperrt, so daß die Wagen und Tragbahren überflutet und verloren auf dem Weg steckenblieben, bis ein Sänftenträger ihnen Platz machte. Die große, umhertrampelnde Herde zeigte sich jedoch folgsam und willig und als eine Menge von unschädlichen, lammfrommen Leuten. Niemals war ein Unfall vorgekommen, trotz der nach und nach sich steigernden Aufregung, die die Leute in ein zügelloses Delirium versetzte.

Der Baron Suire bahnte sich abermals einen Durchgang.

»Berthaud!« rief er, »Berthaud! Geben Sie doch darauf acht, daß der Vorbeimarsch langsamer vor sich geht! Man erdrückt ja Frauen und Kinder im Gedränge!«

Dieses Mal machte Berthaud eine Gebärde der Ungeduld.

»Zum Donnerwetter!« sagte er, »ich kann nicht überall sein! Schließen Sie doch einen Augenblick das Gitter, wenn es nötig ist!«

Es handelte sich um den Zug, den man während des ganzen Nachmittags die Grotte passieren ließ. Die Gläubigen traten zur linken Tür ein und durch die rechte wieder heraus.

»Das Gitter schließen!« schrie der Baron. »Aber dann wird es noch schlimmer, die Leute werden daran zerschellen.«

Auch Gérard war da, der sich vergaß und einen Augenblick mit Raymonde auf der andern Seite des Seils plauderte. Sie hielt eine Schale mit Milch in der Hand, die sie einer alten, gichtbrüchigen Frau brachte. Berthaud befahl ihm, zwei Mann an die Eingangstür des Gitters zu stellen und ihnen die Weisung zu geben, die Pilger nur noch in Abteilungen von zehn zu zehn eintreten zu lassen. Als Gérard diesen Befehl ausgeführt hatte und zurückkam, sah er Berthaud mit Raymonde lachen und scherzen. Sie entfernte sich, und die zwei Männer betrachteten sie, während sie der Gichtbrüchigen zu trinken gab.

»Sie ist reizend, und du heiratest sie. Das ist entschieden, nicht wahr?«

»Ich werde diesen Abend meinen Antrag bei ihrer Mutter machen. Ich rechne darauf, daß du mich begleitest.«

»Ganz ohne Zweifel. Du weißt, was ich dir gesagt habe, nichts ist vernünftiger. Der Onkel wird dich unterbringen, ehe ein halbes Jahr vergangen ist.

Ein Stoß brachte sie auseinander. Berthaud ging, um sich durch eigenen Augenschein zu vergewissern, ob der Zug jetzt in Ordnung und ohne Gedränge vor sich gehe. Seit Stunden bestand er noch immer aus dem nämlichen ununterbrochenen Strom von Frauen, Männern und Kindern, einem Strom von all denen, die etwas wünschten und die, aus der ganzen Welt zusammengekommen, hier vorüberschritten. Auch die Standesklassen fanden sich in eigentümlicher Weise vermischt: Bettler in Lumpen gingen an der Seite behäbiger Bürger, Bäuerinnen neben wohlgekleideten Damen, Mägde in bloßen Haaren und barfüßige Mädchen neben gepflegten jungen Damen. Der Eintritt war frei. Das Geheimnis öffnete sich für alle, dem Ungläubigen wie dem Gläubigen, denen, die nur die Neugierde antrieb, und denen, die hier mit einem vor Hingabe schwachen Herzen eindrangen. Man mußte sehen, wie sie alle fast im gleichen Grade gerührt waren und wie sie im schwülen Wachsgeruch ein wenig atemlos infolge der schweren Tabernakelluft, die sich unter dem Felsen ansammelte, auf ihre Füße niederblickten, aus Furcht, auf den eisernen Gitterflechten auszuglitschen. Viele waren verwirrt, verbeugten sich nicht einmal, sondern prüften die Dinge mit der heimlichen Unruhe von Gleichgültigen, die sich in das furchtbare, unbekannte Innere eines Heiligtums verirrten. Die Frommen aber bekreuzigten sich, warfen manchmal Briefe, legten Kerzen und Sträuße nieder, küßten den Felsen zu Füßen der Jungfrau, oder aber sie rieben an dieser Stelle Rosenkränze, Medaillen und kleine fromme Gegenstände, denn die Berührung allein genügte, um die Sachen zu weihen. Und der Zug setzte sich fort, er nahm kein Ende, er dauerte tagelang, monate- und jahrelang. Die ganze Erde schien das Innere dieses Felsenwinkels zu durchschreiten: alles Elend und alle menschlichen Leiden schienen der Reihe nach vorüber zu kommen und Glück und Heilung zu suchen.

Als Berthaud festgestellt hatte, daß die Dinge sich überall gut anließen, ging er als einfacher Zuschauer herum und überwachte seine Leute. Nur die Prozession, in der das heilige Sakrament mitgetragen wurde, verursachte ihm noch Sorgen, denn dann brach jedes Mal ein so rasender Wahnwitz aus, daß stets Unfälle zu befürchten waren. Und dieser letzte Tag kündigte sich durch den Schauer eines überspannten Glaubens, den er schon aus der Menge aufsteigen fühlte, als besonders schwer an. Die Begeisterung steigerte sich bis zum höchsten Punkt, denn das Fieber der Reise, die Plage der endlos wiederholten, stets gleichen Gesänge, das eigensinnige Verharren bei den gleichen religiösen Übungen, die fortwährenden Unterhaltungen über die Wunder und die stets auf den göttlichen Flammenglanz der Grotte geheftete fixe Idee, das alles trug zu ihrem Ausbruch bei. Viele Pilger schliefen seit drei Nächten nicht und kamen deshalb in einem Zustand visionären Wachens an. Sie wandelten in einem Traum, der ihre Aufregung nur noch steigerte. Es wurde ihnen keine Ruhe gelassen, die unausgesetzten Gebete hatten gleichsam die Wirkung einer Peitsche, die ihre Seelen geißelte. Keinen Augenblick hörten die Rufe zur Heiligen Jungfrau auf, Priester auf Priester bestieg die Kanzel, rief das allgemeine Weh aus und leitete die verzweifelten, dringenden Bitten der Menge während der ganzen Zeit, da die Kranken vor der bleichen Marmorstatue verweilten, die mit gefalteten Händen und zum Himmel erhobenen Augen leise lächelte.

In diesem Augenblick war die Kanzel aus weißem Stein, die rechts vor der Grotte am Felsen stand, von einem Priester aus Toulouse besetzt. Berthaud kannte ihn und hörte ihm einen Augenblick befriedigt zu. Es war ein dicker Mann mit fetter Stimme, berühmt durch seine rednerischen Erfolge. Übrigens bestand hier seine ganze Beredsamkeit in einer ausdauernden Lungengymnastik und einer ungestümen Art, den Satz, den Schrei, den das gesamte Volk wiederholen mußte, aus der Brust zu stoßen. Denn seine ganze Predigt war fast nur ein von Ave und Vaterunser unterbrochenes Geschrei.

Der Priester hatte den Rosenkranz zu Ende gebetet. Nun mühte er sich ab, sich auf seinen kurzen Beinen größer zu machen, und stieß den ersten Ruf einer Litanei aus, die er selbst erdachte und nach der Eingebung, die ihn erfaßt hatte, fortsetzte.

»Marie, wir lieben dich!«

Und das Volk wiederholte mit leiser, verworrener und gebrochener Stimme:

»Marie, wir lieben dich!«

Von da an hörte es nicht mehr auf. Die Stimme des Priesters erklang laut und mächtig, und das Volk sprach die Worte mit schmerzlichem Stammeln nach:

»Marie, du bist unsere einzige Hoffnung!«

»Marie, du bist unsere einzige Hoffnung!«

»Reine Jungfrau, mache uns reiner unter den Reinen!«

»Reine Jungfrau, mache uns reiner unter den Reinen!«

»Mächtige Jungfrau, rette unsere Kranken!«

»Mächtige Jungfrau, rette unsere Kranken!«

Oft, wenn seine Einbildungskraft nicht nachkam, oder wenn er wünschte, daß ein Ruf noch tieferen Eindruck machte, wiederholte er ihn sogar dreimal, während die gehorsame Menge, zitternd unter der Ermattung dieses hartnäckig fortgesetzten, sein Fieber erhöhendes Klagegeschreis, ihm alles dreimal nachsprach.

Die Litanei dauerte fort, und Berthaud kehrte nach der Grotte zurück. Denen, die im Innern vorüberzogen, bot sich, sobald sie der Kranken ansichtig wurden, ein außerordentliches Schauspiel. Der ganze weite Raum zwischen den Seilen war von den tausend bis zwölfhundert Kranken angefüllt, die die nationale Pilgerfahrt hergebracht hatte. Sie bildeten unter dem hohen, reinen Himmel und an diesem strahlenden Tage das herzzerreißendste Durcheinander, das man sehen konnte. Die drei Spitäler hatten ihre schrecklichen Säle geleert. Am weitesten weg hatte man zuerst die Kräftigen, die noch sitzen konnten, auf den Bänken zusammengehäuft. Aber es waren viele von ihnen zwischen Polsterkissen eingekeilt, andere lehnten sich mit den Achseln aneinander, die Starken stützten die Schwachen. Vorn, vor der Grotte selbst, lagen die Schwerkranken ausgestreckt. Die Steinfliesen des Pflasters verschwanden unter dieser kläglichen Flut, unter diesem breiten, stillstehenden Pfuhl des Schreckens. Es war ein Durcheinander von Wagen, Tragbahren und Matratzen, das sich nicht beschreiben läßt. Gewisse Kranke hoben sich in ihren kleinen Wagen und Dachrinnen, die Särgen glichen, in die Höhe und ragten über die anderen hinweg, während die meisten fast auf dem Boden zu liegen schienen. Es gab darunter Angekleidete, die einfach auf der gewürfelten Leinwand der Matratzen lagen. Andere hatte man in ihrem Bettzeug hergebracht. Man sah außerhalb der Tücher nur ihren Kopf und ihre bleichen Hände. Nur wenige von den elenden Betten waren reinlich. Wenige Kopfkissen zeigten eine blendende Weiße, sie waren als letzter Beweis von Gefallsucht mit einer Stickerei verziert und stachen gegen die schmierige Armseligkeit der anderen, gegen die ausgepackten Lumpen, abgenützten Decken und mit Schmutzflecken besudelten Leintücher auffallend ab. Und alle Kranken waren zusammengeschoben, aneinander gedrängt und aufgestapelt, wie man sie auf gut Glück hierhergebracht hatte: Weiber, Männer und Kinder, Priester, entkleidete und bekleidete Leute lagen im bunten Gemisch im hellen, blendenden Tageslicht.

Im schrecklichen Zug, der täglich zweimal aus den Spitälern kam, um das entsetzte Lourdes zu durchqueren, waren alle Krankheiten vertreten. Da gab es vom Ausschlag angefressene Köpfe, von den Röteln bekränzte Stirnen, Nasen und Mäuler, die die Elefantiasis zu unförmlichen Rüsseln verwandelt hatte. Dann sah man Wassersüchtige, aufgebläht wie Schläuche, Rheumatische mit verkrümmten und geschwollenen Füßen, die mit Lumpen vollgestopften Säcken glichen, und eine Wasserköpfige, deren übermäßig großer, viel zu schwerer Schädel nach hinten auf den Rücken fiel. Dann zeigten sich vor Fieber zitternde und von Dysenterie erschöpfte Schwindsüchtige, mit bleigrauer Haut und von skelettartiger Magerkeit, alle Verunstaltungen der Starrheit und Steifheit, verkrümmter Wuchs, umgedrehte Arme, schief gestellte Hälse, arme, zerbrochene und zermalmte Wesen, die in der Stellung von tragischen Hampelmännern unbeweglich geblieben waren. Weiter gab es armselige rhachitische Mädchen, die ihren wachsbleichen Teint und ihren dünnen, von Skrofeln angenagten Nacken zur Schau stellten, gelbe, blödsinnige Weiber in der schmerzhaften Betäubung der Elenden, die der Krebs verzehrt. Wieder andere waren blaß vor Angst und wagten sich nicht zu rühren aus Furcht vor einem Zusammenstoß der Geschwülste, deren beschwerliche Beklemmung sie zu ersticken drohte. Auf den Bänken saßen Taube, die nichts hörten und trotzdem mitsangen, und Blinde, die den hoch gehobenen, aufrecht gerichteten Kopf stundenlang der Statue der Heiligen Jungfrau zuwandten, die sie nicht sehen konnten. Auch die vom Blödsinn befallene Närrin befand sich da, deren Nase von irgendeinem venerischen Geschwür weggefressen war. Sie lachte mit ihrem leeren schwarzen Mund, aber es war ein schreckliches Lachen. Ebenso sah man auch die Epileptische: von einem neuen Anfall war sie noch totenblaß und hatte Schaum in den Mundwinkeln.

Aber weder Krankheit noch Leiden kümmerte sie, seitdem sie alle da saßen und lagen und die Augen auf die Grotte hefteten. Die armen, abgezehrten, erdfarbigen Gesichter verklärten sich und begannen vor Hoffnung zu brennen. Steife Hände falteten sich, allzu schwere Lider fanden die Kraft, sich zu heben, und erloschene Stimmen belebten sich wieder bei den Rufen des Priesters. Zuerst war es nur ein unbestimmtes Stammeln, einem leisen Windhauch ähnlich, der sich da und dort über der Menge erhob. Dann schwoll der Ruf an, dehnte sich aus und riß die Volksmasse selbst von einem Ende des ungeheuren Platzes bis zum andern mit sich fort.

»Marie, ohne Sünden empfangen, bitt' für uns!« rief der Priester mit seiner donnernden Stimme.

Die Kranken und die Pilger wiederholten immer lauter:

»Marie, ohne Sünden empfangen, bitt' für uns!«

Das spielte sich dann in immer schnellerem Tempo ab:

»Reinste Mutter, keuscheste Mutter! Deine Kinder befinden sich zu deinen Füßen!«

»Reinste Mutter, keuscheste Mutter! Deine Kinder befinden sich zu deinen Füßen!«

»Königin der Engel! Sprich ein Wort, und unsere Kranken werden geheilt sein!«

»Königin der Engel! Sprich ein Wort, und unsere Kranken werden geheilt sein!«

Herr Sabathier befand sich auf der Kanzelseite in der zweiten Reihe. Er hatte sich zu früher Stunde herbringen lassen, da er sich seinen Platz auswählen wollte und als alter Besucher der Grotte die guten Ecken kannte. Dann schien es ihm auch von größtem Interesse, so nahe wie möglich unter den Augen der Jungfrau selbst zu sein, als ob sie nötig gehabt hätte, ihre Getreuen zu sehen, um sie nicht zu vergessen. Seit den sechs Jahren, die er hierherkam, nährte er übrigens nur den einen Wunsch, sich ihr eines Tages bemerkbar zu machen und sie endlich zu rühren, um seine Heilung, wenn nicht nach der Wahl, so doch nach der Altersordnung zu erlangen. Dazu brauchte er nur Geduld, und die Festigkeit seines Glaubens wurde dadurch nicht im geringsten erschüttert. Nur gestattete er sich als armer, in sein Schicksal ergebener und durch die immerwährende Hinausschiebung der Heilung ein wenig ermüdeter Mann manchmal Zerstreuungen. Er hatte es durchgesetzt, seine Frau bei sich behalten zu dürfen. Sie saß auf einem Feldstuhl, und er liebte es, mit ihr zu plaudern und ihr seine Betrachtungen mitzuteilen.

»Liebste!« sagte er, »hebe mich ein wenig empor! Ich gleite herunter und sitze sehr schlecht!«

Er war mit Hosen und Jacke aus grober Wolle bekleidet, saß auf seiner Matratze und lehnte den Rücken an einen umgekehrten Stuhl.

»Sitzest du jetzt besser?« fragte Frau Sabathier.

»Ja, danke...«

Dann interessierte er sich für den Bruder Isidor, den man endlich hergebracht hatte. Er lag auf der nächsten Matratze und hatte das Bettuch bis an das Kinn hinauf gezogen. Nur die auf der Decke gefalteten Hände befanden sich außerhalb des Bettes.

»Ach, der arme Mensch! Das ist sehr unklug! Aber die Heilige Jungfrau ist so mächtig, wenn sie nur will!«

Er nahm seinen Rosenkranz wieder vor, unterbrach sich aber aufs neue, da er Frau Maze bemerkte, die so dünn und verschwiegen in den reservierten Raum hineinglitt, daß sie zweifellos unter den Seilen durchgekommen war, ohne daß man sie gewahrte. Sie hatte sich auf das äußerste Ende einer Bank gesetzt und nahm dort nicht mehr Platz ein als ein kleines, recht artiges, unbewegliches Mädchen. Ihr langes Gesicht, die abgespannten Züge atmeten eine schrankenlose Trauer, eine unendliche Verlassenheit aus.

»Diese Dame dort betet um die Bekehrung ihres Gatten«, begann Herr Sabathier wieder, indem er sich an seine Frau wandte. »Du bist ihr diesen Morgen in einem Laden begegnet.«

»Ja, ja«, antwortete Frau Sabathier. »Und dann habe ich mit einer andern Dame, die sie kennt, von ihr gesprochen. Ihr Mann ist Reisender. Er lebt seit einem halben Jahr von ihr getrennt und geht mit liederlichen Frauen um. Oh, er ist ein sehr lustiger und netter Kerl, der es ihr nicht an Geld fehlen läßt. Aber sie betet ihn an, kann sich nicht in ihre Verlassenheit fügen und bittet nun die Heilige Jungfrau, ihn ihr wiederzugeben. In diesem Augenblick scheint er gerade mit zwei Damen in Luchon zu sein, den Schwestern ...«

Herr Sabathier unterbrach seine Frau mit einer Handbewegung. Er betrachtete die Grotte, und es erwachte in ihm wieder der Verstandesmensch, der alte Professor, den die Fragen der Kunst früher leidenschaftlich beschäftigt hatten.

»Sieh!« sagte er, »sie wollten die Grotte zu schön machen, und damit haben sie sie verdorben. Ich bin überzeugt, daß sie sich in ihrer einstigen scheuen Wildheit viel besser ausnehmen würde. Sie hat ihren eigentlichen Charakter eingebüßt. Und welch abscheuliche Bude haben sie da an der linken Seite angeklebt!«

Plötzlich kamen ihm aber Gewissensbisse wegen seiner Zerstreuung. Zeichnete die Heilige Jungfrau während dieser Zeit nicht einen aus seiner Nachbarschaft aus, der inbrünstiger war und sich besser benahm als er? Er wurde unruhig, fiel in seine Demut und Geduld zurück und erwartete gedankenlos, mit erloschenen Augen, was dem Himmel zu tun gefallen würde.

Übrigens versetzte ihn auch der laute Ruf einer neuen Stimme in diesen Zustand der Selbstdemütigung vor Gott, in dem der gelehrte Denker, der er einmal gewesen war, in ihm erstarb. Denn ein anderer Prediger, diesmal ein Kapuziner, war auf die Kanzel gestiegen und sein aus tiefer Kehle hervordringender, beharrlich wiederholter Ruf erschütterte das Volk aufs äußerste.

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, sei gebenedeit!«

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, sei gebenedeit!«

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, wende dein Angesicht nicht ab von deinen Kindern!«

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, wende dein Angesicht nicht ab von deinen Kindern!«

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, hauche du unsere Wunden an, und unsere Wunden werden vertrocknen!«

»Heilige Jungfrau der Jungfrauen, hauche du unsere Wunden an, und unsere Wunden werden vertrocknen!«

Die Familie Vigneron hatte es zuwege gebracht, sich auf dem Ende der ersten Bank, zunächst der mittleren, von Menschen versperrten Allee niederzulassen. Sie nahm das ganze Bankende ein, denn alle waren da: der kleine Gustave, der sich entkräftet niedergesetzt hatte und seine Krücke zwischen den Beinen hielt, an seiner Seite die Mutter, die als richtige Bürgersfrau die Gebete begleitete, auf der andern Seite die Tante, Frau Chaise, die, in diese Menge eingekeilt, zu ersticken drohte, und Herr Vigneron, der sie seit einer Weile schweigsam und mit Aufmerksamkeit betrachtete.

»Was fehlt Ihnen denn, meine Liebe?« fragte er endlich. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Sie atmete mit Anstrengung.

»Ich weiß gar nicht. Ich fühle meine Glieder nicht mehr, und ich bekomme keine Luft.«

Sofort kam ihm der Gedanke, daß die mit einer Pilgerfahrt verbundene Aufregung, das Fieber und das Gedränge einer Herzkranken kaum zuträglich sein konnten. Gewiß wünschte er niemandem den Tod, und nie hatte er von der Heiligen Jungfrau etwas Ähnliches begehrt. Wenn sie trotzdem seinen Wunsch nach Beförderung durch den jähen Tod seines Vorgesetzten erhört hatte, so geschah das gewiß aus dem Grunde, weil dieser nach den Ratschlüssen des Himmels zum Sterben verurteilt war. Und wenn Frau Chaise auch zuerst sterben und ihr Vermögen seinem Gustave hinterlassen sollte, so hatte er sich nur vor dem Willen Gottes zu beugen, der die bejahrten Leute gewöhnlich vor den jungen abberuft. Seine Hoffnung war nichtsdestoweniger, ihm unbewußt, so lebhaft, daß er sich nicht enthalten konnte, einen Blick mit seiner Frau auszutauschen, die mit den nämlichen, unfreiwilligen Gedanken beschäftigt war.

»Setz dich zurück, Gustave!« rief er, »du belästigst deine Tante!«

Und als Raymonde vorbeiging, sagte er:

»Könnten Sie uns nicht ein Glas Wasser reichen? Wir haben da eine Verwandte, die das Bewußtsein verliert.«

Frau Chaise lehnte jedoch mit einer Gebärde ab. Sie erholte sich und schöpfte wieder Atem.

»Nein, nichts, ich danke ... Ich fühle mich schon wieder besser. Ach, ich glaubte, diesmal müßte ich ersticken!«

Sie zitterte nach der überstandenen Furcht, und ihre Augen blickten verstört aus dem bleichen Gesicht. Sie faltete aufs neue die Hände und flehte zur Heiligen Jungfrau, sie möchte sie vor weiteren Anfällen bewahren und gesund werden lassen, während die Vignerons, Mann und Frau, die sonst ganz brave Leute waren, wieder auf ihren geheimen Wunsch verfielen, den sie in Lourdes dem Himmel vortrugen: ein glückliches, durch zwanzigjährige Ehrbarkeit wohl verdientes Alter und ein ausreichendes Vermögen, das sie am Abend ihres Lebens auf dem Lande zu verzehren gedachten. Der kleine Gustave hatte mit seinen lebhaften Augen und seinem durch das Leiden geschärften Verstand alles gesehen, alles wahrgenommen. Er betete nicht, sondern sah mit verlorenem, rätselhaften Lächeln ins Leere hinaus. Was nützte es zu beten? Er wußte, daß die Heilige Jungfrau ihn nicht gesund machen würde und daß er sterben mußte.

Aber Herr Vigneron konnte es nicht lange aushalten, ohne sich mit seinen Nachbarn zu beschäftigen. Im Gedränge der von Menschen überfüllten mittleren Allee hatte man die zu spät gekommene Frau Dieulafay niedergestellt, und er verwunderte sich über den Luxus, über den Sarg aus weißer Seide, in dem die junge Frau lag, die ein rosafarbenes, mit Valenciennespitzen besetztes Hauskleid trug. Der Gatte im Gehrock und die Schwester in schwarzer Toilette von einfacher, wunderbarer Eleganz standen neben ihr, während der Abbé Judaine bei der Kranken auf den Knien lag und gerade ein inbrünstiges Gebet beendete.

Als sich der Priester wieder erhob, räumte ihm Herr Vigneron an seiner Seite einen kleinen Platz auf der Bank ein. Dann gestattete er sich, ihn auszufragen.

»Nun, Herr Kurat«, begann er, »geht es der armen jungen Frau etwas besser?«

Der Abbé Judaine machte eine Gebärde voll unendlicher Traurigkeit.

»Ach nein!« antwortete er; »und ich war von so großer Hoffnung erfüllt! Ich war's, der die Familie hierherzukommen bestimmt hat. Die Heilige Jungfrau hatte mir vor zwei Jahren durch die Heilung meiner armen, schon verloren gegebenen Augen eine so außerordentliche Gnade erwiesen, daß ich von ihr noch eine Gunst zu erlangen hoffte. Ich will aber nicht verzweifeln. Es hat noch Zeit bis morgen.«

Herr Vigneron betrachtete aufmerksam das Frauenangesicht, dessen reines Oval und bewunderungswürdige Augen man noch entdecken konnte, während es vernichtet, bleifarben und einer Totenmaske ähnlich, mitten in den Spitzen lag.

»Das ist wirklich sehr traurig«, murmelte er.

»Wenn Sie die Frau noch im letzten Sommer gesehen hätten!« fuhr der Priester fort. »Sie haben ihr Schloß in meinem Kirchspiel, in Saligny, und ich speiste oft bei ihnen zu Mittag. Ich kann die ältere Schwester, Frau Jousseur, die Dame in Schwarz, die dort steht, nicht ohne Betrübnis betrachten, denn sie hat viel Ähnlichkeit mit ihr, und die Kranke war noch hübscher, ja sie war eine Schönheit von Paris. Ziehen Sie nun einen Vergleich und sehen Sie jetzt diesen Glanz, die höchste Grazie an der Seite dieses armseligen, jämmerlichen Wesens. So etwas schnürt das Herz zusammen. Welch schreckliche Lehre!«

Er schwieg einen Augenblick. Als frommer Mann, ohne irgendwelche Leidenschaften und ohne lebhaften Verstand, der ihn in seinem Glauben gestört hätte, zeigte er eine naive Bewunderung für die Schönheit, den Reichtum und die Macht, die er jedoch niemals zu besitzen gewünscht hatte. Aber er wagte einen Zweifel, einen Gewissensskrupel auszudrücken, der seinen gewohnten Gleichmut störte.

»Ich hätte gewünscht«, sagte er, »daß sie einfacher und ohne all diese Prachtentfaltung hierhergekommen wäre, weil die Heilige Jungfrau die Demütigen vorzieht. Aber ich begreife sehr wohl, daß es gesellschaftliche Notwendigkeiten gibt. Und wie wird sie von ihrem Gatten und ihrer Schwester geliebt! Denken Sie, daß er sich darein gefügt hat, seine Geschäfte, und sie, ihre Vergnügungen im Stich zu lassen. Im Gedanken, sie zu verlieren, sind sie so bestürzt, daß sie stets die feuchten Augen und die verstörte Miene haben, die Sie an ihnen sehen. Man muß sie daher entschuldigen, wenn sie ihr die Freude machen, bis zur letzten Stunde schön zu sein.«

Herr Vigneron billigte das mit einer Neigung des Kopfes. Ach, nicht die reichen Leute hatten das meiste Glück bei der Grotte! Dienstmädchen, Bäuerinnen und arme Weiber wurden gesund, während die feinen Damen, nach wie vor mit ihren Krankheiten behaftet, ohne Erleichterung von ihr zurückkehrten trotz ihrer Geschenke und der dicken Kerzen, die sie verbrennen ließen. Und wider seinen Willen betrachtete er Frau Chaise, die sich erholt hatte und mit glückseliger Miene ausruhte.

Aber jetzt ging eine Bewegung durch die Volksmenge, und der Abbé Judaine sagte:

»Pater Massias steigt auf die Kanzel. Das ist ein Heiliger, hören Sie nur!«

Man kannte ihn. Er konnte sich nicht zeigen, ohne daß alle Seelen von einer plötzlichen Hoffnung erregt wurden, denn es wurde erzählt, seine große Inbrunst fördere die Wunder. Er galt für einen Mann, der eine von der Jungfrau geliebte zärtliche und machtvolle Stimme besaß.

Alle Köpfe hatten sich erhoben, und die seelische Erregung wuchs noch, als man den Pater Fourcade bemerkte, der bis an den Fuß der Kanzel gekommen war, indem er sich auf die Schulter seines vielgeliebten, unter allen bevorzugten Bruders stützte. Er blieb dort, um ihn gleichfalls zu hören. Sein gichtkranker Fuß verursachte ihm seit dem Morgen noch größere Schmerzen, und er bedurfte großen Mutes, um aufrecht stehenzubleiben und zu lächeln. Die sich steigernde Schwärmerei des Volkes machte ihn glücklich, er sah wunderbare, aufsehenerregende Heilungsfälle voraus, zum Ruhme Mariens und Jesus.

Der Pater Massias auf der Kanzel sprach nicht sofort. Er schien sehr groß, mager und blaß, und sein farbloser Bart machte das aszetische Gesicht noch länger. Plötzlich funkelten seine Augen, und sein großer, beredter Mund stieß leidenschaftlich die Worte heraus:

»Herr! Rette uns, denn wir gehen zugrunde!« Und das hingerissene Volk wiederholte in von Minute zu Minute wachsendem Fieber:

»Herr! Rette uns, denn wir gehen zugrunde!«

Er öffnete die Arme und schleuderte seinen Flammenruf herab, als ob er ihn aus seinem brennenden Herzen gerissen hätte:

»Herr! Wenn du willst, kannst du mich heilen!«

»Herr! Wenn du willst, kannst du mich heilen!«

»Herr! Ich bin nicht würdig, daß du eingehst in mein Haus, aber sprich nur ein Wort, und ich werde gesunden!«

»Herr! Ich bin nicht würdig, daß du eingehst in mein Haus, aber sprich nur ein Wort, und ich werde gesunden!«

Martha, die Schwester des Bruders Isidor, hatte mit Frau Sabathier, neben der sie sich endlich niedergesetzt hatte, ganz leise zu plaudern begonnen. Die beiden hatten sich im Hospital kennengelernt, und in der Annäherung, die so viele gemeinsame Leiden zuwege bringen, erzählte das einfache Mädchen der Bürgersfrau zutraulich, wie sehr sie um ihren Bruder in Sorge wäre. Denn sie sah es wohl: er lag schon in den letzten Zügen. Wenn ihn die Heilige Jungfrau gesund machen wollte, mußte sie sich beeilen. Es war schon ein Wunder, daß man ihn noch lebend bis zur Grotte gebracht hatte.

Als armes, einfaches Geschöpf hatte sie sich in den Willen Gottes ergeben, sie weinte nicht. Aber ihr Herz war so voll, daß die wenigen Worte, die sie sagte, sie beinahe erstickten. Dann kam es über sie wie ein Strom der Erinnerung an vergangene Zeiten, und sie erleichterte ihr Herz.

»Wir waren vierzehn zu Hause, in Saint-Jacut bei Vannes. Er ist stets kränklich gewesen, so groß er auch war, und deshalb blieb er auch bei unserem Kuraten, der ihn endlich in den ›Christlichen Schulen‹ unterbrachte. Die älteren Brüder nahmen das Gut in Besitz, und ich zog es vor, in einen Dienst zu treten. Ja, eine Dame hat mich schon vor fünf Jahren mit nach Paris genommen. Ach, wie mühselig ist das Leben. Alle Welt hat so viel Mühsal!«

»Sie haben sehr recht, mein Kind«, antwortete Frau Sabathier, indem sie ihren Gatten betrachtete, der jeden Satz des Paters Massias andächtig nachsprach.

»Da habe ich letzten Monat erfahren«, fuhr Martha fort, »daß Isidor aus den heißen Ländern, in denen er als Missionar war, zurückgekommen sei und von da drüben eine schlimme Krankheit mitgebracht habe. Als ich ihn dann sofort besuchte, sagte er mir, er würde sterben, wenn er nicht nach Lourdes ginge, aber es wäre ihm unmöglich, die Reise zu machen, weil er niemand zu seiner Begleitung hätte. Ich hatte mir achtzig Frank erspart, verließ meinen Dienst, und wir sind zusammen gereist. Sehen Sie, gnädige Frau, wenn ich ihn sehr hebe, so hat das seinen Grund darin, daß er mir, als ich klein war, Johannisbeeren aus dem Pfarrhof mitbrachte, während alle anderen mich schlugen.«

Sie fiel wieder in ihr Stillschweigen zurück. Das Gesicht war geschwollen vor Gram, ohne daß ihren traurigen, von den Nachtwachen entzündeten Augen die Tränen entströmen konnten. Sie stammelte nur noch Worte ohne Zusammenhang.

»Betrachten Sie ihn doch! Es ist zum Erbarmen. Ach, mein Gott! Seine armen Wangen, sein armes Kinn, sein armes Gesicht –«

In der Tat bot er einen kläglichen Anblick. Frau Sabathier drehte sich das Herz um, als sie den Bruder Isidor gelb, erdfarbig und erstarrt liegen sah. Er zeigte außerhalb des Bettes nur seine gefalteten Hände und sein von spärlichen langen Haaren eingerahmtes Gesicht. Aber wenn auch die wachsbleichen Hände die eines Toten zu sein schienen, und wenn sich in seinem langen, schmerzdurchwühlten Gesicht auch kein Zug mehr bewegte, die Augen lebten noch, Augen, in denen eine unauslöschliche Liebe brannte, deren Flamme hinreichte, sein ganzes, einem am Kreuze sterbenden Christus ähnliches Antlitz zu erleuchten. Nie hatte sich der Gegensatz zwischen der niederen Stirne und der beschränkten, tierischen Miene des Bauers einerseits und dem göttlichen Glanz andererseits so deutlich zu erkennen gegeben. Denn ein wirklicher, göttlicher Glanz ging von dieser armen, verwüsteten, durch das Leiden geheiligten menschlichen Fratze aus, die in der letzten Stunde, in der leidenschaftlichen Entflammung des Glaubens erhaben geworden war. Das Fleisch hatte sich gleichsam aufgelöst und sogar der Atem sich verflüchtigt. Der Kranke war nur noch ein Blick, ein Blitzstrahl.

Seitdem man den Bruder Isidor dort niedergelassen, hatte er die Augen nicht mehr von der Statue der Jungfrau abgewandt. Für ihn gab es nichts anderes in seiner Umgebung. Er sah nicht die ungeheure Menschenmasse und hörte nicht einmal das rasende Geschrei der Priester, die unaufhörlichen Rufe, die das bebende Volk erschütterten. Seine von unendlicher Zärtlichkeit brennenden Augen, die sich fest auf die Jungfrau hefteten, um sich nie mehr von ihr abzuwenden, lebten allein. Sie sogen sie in sich bis in den Tod, sein letzter Wille war, in ihr aufzugehen, in ihr zu verlöschen. Einen Augenblick öffnete sich der Mund ein wenig, der Ausdruck einer himmlischen Glückseligkeit machte das Gesicht freundlicher. Dann rührte sich nichts mehr, und die weit offenen Augen blieben starr auf die weiße Statue geheftet.

So verflossen einige Minuten. Martha hatte einen kalten Hauch gefühlt, der ihre Haarwurzeln eisig berührte.

»Um Gottes willen«, flüsterte sie, »sehen Sie nur!«

Ängstlich stellte sich Frau Sabathier, als ob sie nicht begriffe.

»Was denn, mein Kind?«

»Mein Bruder, betrachten Sie ihn nur. Er rührt sich nicht mehr. Er hat den Mund geöffnet und sich dann nicht mehr bewegt.«

Nun zitterten alle beide in der Gewißheit, daß er gestorben war. Er war ohne Röcheln und ohne einen Atemzug verschieden, als ob das Leben in seinem Blick, durch seine großen Augen, voll von Liebe und unersättlicher Leidenschaft entflohen wäre. Er hatte den Geist aufgegeben, während er die Jungfrau betrachtete. Mit dieser Süßigkeit war nichts zu vergleichen, und er betrachtete sie noch fortwährend unter unaussprechlichen Wonnen mit seinen erstorbenen Augen.

»Versuchen Sie, ihm die Augen zu schließen!« flüsterte Frau Sabathier. »Wir werden es dann wohl wissen.«

Martha hatte sich erhoben, sie beugte sich nieder, um nicht gesehen zu werden, und gab sich alle Mühe, die Augen mit zitterndem Finger zu schließen. Aber jedesmal öffneten sie sich wieder und betrachteten hartnäckig immer wieder die Jungfrau. Er war tot, und sie mußte die in unendlicher Verzückung versunkenen Augen weit offenstehen lassen.

»Ach, es ist vorbei«, stammelte sie, »es ist alles vorbei mit ihm, gnädige Frau!«

Zwei Tränen flossen aus den schweren Lidern auf ihre Wangen herab, während Frau Sabathier das Mädchen bei der Hand faßte, um es zum Schweigen zu bringen. Denn ein Geflüster ging herum, und schon verbreitete sich eine unruhige Bewegung. Aber was sollte man tun? Inmitten eines solchen Gewühls und während der Gebete konnte man den Leichnam doch nicht fortschaffen, ohne Gefahr zu laufen, einen unheilvollen Eindruck hervorzubringen. Das beste war, ihn da zu lassen und einen günstigen Augenblick abzuwarten. Er gereichte niemand zum Ärgernis und schien nicht weniger lebendig zu sein als zehn Minuten vorher. Ja, alle Welt konnte der Meinung sein, daß seine flammenden Augen in ihrer brünstigen Berufung an die göttliche Zärtlichkeit der Heiligen Jungfrau noch immer lebten.

Nur in der näheren Umgebung wußten einige Personen von der Sache.

Herr Sabathier hatte bestürzt seine Frau durch ein Zeichen befragt. Als er durch eine lange, stumme Bejahung vom Geschehenen unterrichtet war, fing er, ohne sich aufzulehnen, wieder zu beten an, indem er vor der geheimnisvollen Allmacht erblaßte, die den Tod sandte, während man das Leben von ihr begehrte. Die durch den Vorfall außerordentlich gefesselten Vignerons beugten sich gegeneinander und zischelten wie über einen Straßenunfall oder eine jener kleinen Geschichten, die der Vater manchmal von seinem Büro erzählte und über die dann den ganzen Abend gesprochen wurde. Frau Jousseur hatte sich umgedreht und Herrn Dieulafay ein einziges Wort ins Ohr geflüstert. Darauf waren beide in die herzzerreißende Betrachtung ihrer teuren Kranken zurückgefallen, während der von Herrn Vigneron benachrichtigte Abbé Judaine niederkniete und, sehr bewegt, mit leiser Stimme die Totengebete betete.

War er kein Heiliger, dieser Missionar, der mit seiner Todeswunde in der Seite aus den mörderischen Ländern zurückgekommen war, um hier unter dem lächelnden Blick der Heiligen Jungfrau zu sterben? Frau Maze hatte Geschmack am Tode gefunden. Sie war entschlossen, den Himmel inständig zu bitten, auch sie auf solche Art hinwegzunehmen, wenn er sie nicht erhören und ihr den Gatten nicht wiedergeben wollte.

Aber der Ruf des Paters Massias stieg wieder empor, er erscholl mit der Kraft einer schrecklichen Verzweiflung und unter herzzerreißendem Schluchzen.

»Jesu, du Sohn Davids, ich gehe zugrunde, rette mich!«

Nach ihm schluchzte das Volk und schrie:

»Jesu, du Sohn Davids, ich gehe zugrunde, rette mich!«

Und Schlag auf Schlag, stets lauter und lauter erhoben sich die Rufe und trugen hartnäckig das erbitterte Elend der Welt in die Lüfte.

»Jesu, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit deinen kranken Kindern!«

»Jesu, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit deinen kranken Kindern!«

»Jesu, du Sohn Davids, komm und heile sie, auf daß sie leben!«

»Jesu, du Sohn Davids, komm und heile sie, auf daß sie leben!«

Es war reiner Wahnsinn. Der Pater Fourcade hatte am Fuß der Kanzel, überwältigt von der außerordentlichen Leidenschaft, die aus den Herzen überströmte, die Arme emporgehoben. Auch er schrie mit donnernder Stimme, wie um den Himmel mit Gewalt zu bestürmen. Die elende Menschheit schrie auf aus dem tiefen Abgrund ihrer Leiden, das Geschrei wehte wie ein Schauer über alle Nacken hin, es war nur noch ein von Todesangst befallenes Volk, das sich zu sterben weigerte und Gott zwingen wollte, in seinem Ratschluß das ewige Leben zu beschließen. Ach, das Leben! Alle diese Unglücklichen, die aus so weiter Ferne und mit Überwindung so vieler Hindernisse zusammengeströmten Sterbenden wünschten nur dieses eine und flehten nur darum, in dem zügellosen Bedürfnis weiter und immer weiter zu leben. O Herr! Wie groß auch unser Elend, wie schrecklich die Qual unseres Lebens sein mag, heile uns! Laß uns aufs neue zu leben beginnen, damit wir aufs neue das leiden, was wir gelitten haben. So unglücklich wir auch sein mögen, wir wollen sein. Nicht um den Himmel bitten wir dich, die Erde ist's, die wir so spät wie möglich, ja, die wir niemals zu verlassen begehren, wenn deine Macht geruhen sollte, uns so weit zu willfahren. Und selbst wenn wir dich nicht um eine körperliche Heilung, sondern um eine moralische Hilfe anflehen, so ist es wiederum das Glück, um das wir bitten, das Glück, nach dem uns bis zum Verschmachten dürstet. O Herr! Laß uns glücklich und gesund werden! Laß uns leben! Laß uns leben!

Dieser wahnsinnige Ruf, der Aufschrei einer rasenden Lebensbegierde, den der Pater Mässias ausstieß, brach sich in der Volksmenge und stieg in Tränen aus jeder Brust empor.

»O Herr, Sohn Davids! Heile unsere Kranken!«

»O Herr, Sohn Davids! Heile unsere Kranken!«

Zweimal hatte Berthaud herbeistürzen müssen, um zu verhindern, daß die Seile durch das unwillkürliche Drängen der Menge zerrissen wurden. Von der Menschenflut überschwemmt, machte der Baron Suire verzweifelte Gebärden, durch die er bat, man möchte ihm zu Hilfe kommen, denn die Pilger waren mit Gewalt in die Grotte eingedrungen. Der Zug war nur noch das Getrampel einer Herde, die sich in ihrer Leidenschaft herumstieß. Vergeblich verließ Gérard Raymonde wieder und stellte sich persönlich an die Eingangstür des Gitters, um den Befehl, nur Abteilungen von zehn zu zehn Personen eintreten zu lassen, wieder zur Geltung zu bringen. Er wurde fortgedrängt und auf die Seite gefegt. Das fiebernde, bis zur Schwärmerei aufgeregte Volk trat ein, stürmte wie ein Gießbach durch den funkelnden Glanz der Kerzen, warf der Heiligen Jungfrau Blumensträuße und Briefe zu und küßte den Felsen, den der heiße Mund von Millionen Pilgern geglättet hatte. Der Glaube war entfesselt und zur höheren Gewalt geworden, der nichts mehr Einhalt tun konnte.

Ans Gitter gedrückt, hörte Gérard, wie zwei Bäuerinnen, die der Strom fortriß, über den Anblick der vor ihren Augen liegenden Kranken aufschrien. Die eine war gerade durch das bleiche Antlitz des Bruders Isidor mit seinen übermäßig weit geöffneten, auf die Statue der Jungfrau gehefteten Augen befremdet worden. Sie bekreuzigte sich und murmelte, von frommer Bewunderung erfüllt:

»Oh, sieh doch den da an, wie er von ganzem Herzen betet und wie er Unsere Liebe Frau von Lourdes betrachtet!«

Und die andere Bäuerin antwortete:

»Ganz gewiß, sie wird ihn heilen, er ist zu schön!«

So rührte der Tote mit seiner Liebe und seinem Glauben, den er in seinem Nichtmehrsein fortsetzte und durch die unbegrenzte Stetigkeit seines Blickes alle Herzen und bildete die tiefe Erbauung dieses Volkes, dessen Vorbeimarsch kein Ende nahm.


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