Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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V

Gegen elf Uhr abends kam Pierre, der Herrn von Guersaint in seinem Zimmer im Hotel des Apparitions zurückließ, auf den Gedanken, einen Augenblick nach dem Hospital Notre-Dame des Douleurs zurückzukehren, ehe er sich selbst schlafen legte. Er hatte Marie so hoffnungslos, so stumm und in scheues Schweigen versunken, verlassen, daß er voll Unruhe war. Nachdem er Frau von Jonquière an die Tür des Saales Sainte-Honorine hatte rufen lassen, kam noch mehr Sorge über ihn, denn die Nachrichten lauteten nicht gut. Die Vorsteherin teilte ihm mit, das junge Mädchen habe die Lippen noch immer nicht geöffnet, gebe niemandem eine Antwort und weigere sich sogar zu essen. Sie wünschte ebenfalls dringend, daß Pierre eintreten möchte. Die Frauensäle waren zwar den Männern bei Nachtzeit verboten, aber ein Priester ist ja kein Mann.

»Sie liebt nur Sie«, sagte die Vorsteherin; »sie wird nur auf Sie hören. Ich bitte Sie darum, treten Sie ein und setzen Sie sich an ihr Bett. Erwarten Sie den Abbé Judaine, der gegen ein Uhr morgens kommen muß, um den Kränksten, die sich nicht von der Stelle rühren können und die essen, sobald es Tag wird, die Kommunion zu reichen, Sie können ihm behilflich sein.«

Pierre begleitete hierauf Frau von Jonquière, die ihn zu Häupten Mariens niedersetzen ließ.

»Liebes Kind!« sagte sie, »ich bringe Ihnen jemand, der Sie sehr liebhat. Nicht wahr, Sie werden plaudern und vernünftig sein?«

Aber als die Kranke Pierre erkannte, betrachtete sie ihn mit einer Miene verbitterten Leids, ihr Antlitz war düster und hart vor seelischer Empörung.

»Wollen Sie, daß er Ihnen etwas vorliest? Wünschen Sie eine jener schönen, tröstenden Vorlesungen, wie er uns eine im Eisenbahnwagen hielt? Nein, das würde Sie nicht unterhalten, Sie haben keine Freude daran. Nun gut! Wir werden später sehen. Ich lasse Sie allein mit ihm und bin überzeugt, daß Sie sofort sehr brav sein werden.«

Vergeblich sprach Pierre zu ihr und sagte ihr alles, was seine Zärtlichkeit Gutes und Schmeichelhaftes fand, indem er sie anflehte, nicht derart in Verzweiflung zu versinken. Wenn die Heilige Jungfrau sie nicht den ersten Tag geheilt hatte, so geschähe es wohl nur deshalb, weil sie sie für irgendein glänzendes Wunder vorbehielte. Sie hatte aber den Kopf abgewandt, sie schien ihn nicht einmal mehr zu hören. Ihr Mund zeigte einen bitteren Zug, ihre erzürnten Augen verloren sich ins Leere. Er mußte schweigen und betrachtete den Saal rings um sich.

Dieser Saal bot ein abscheuliches Schauspiel. Noch niemals war ihm so schlimm zumute gewesen wie bei dieser von Erbarmen und Schrecken hervorgerufenen Übelkeit. Man hatte seit langem zu Nacht gegessen, aber die aus der Küche heraufgetragenen Portionen lagen trotzdem noch auf den Betten herum. Es gab Kranke, die die ganze Nacht hindurch aßen, während andere ohne Ruhe wimmerten und inständig baten, man möchte sie umdrehen oder auf das Nachtgeschirr setzen. In dem Maße, wie die Nacht vorschritt, überfiel alle eine Art unbestimmten Deliriums. Sehr wenige schliefen ruhig. Einige lagen entkleidet unter den Decken, die größte Zahl einfach darauf ausgestreckt, da sie so schwer zu entkleiden waren, daß sie während der fünf Tage der Pilgerfahrt nicht einmal die Wäsche wechselten. Die Überfüllung des Saales schien in dem Halbdunkel noch schlimmer: man unterschied die fünfzehn längs der Wände in Reihen aufgestellten Betten, die sieben Matratzen, die den mittleren Gang verstopften und zu denen man noch einige andere hinzugefügt hatte, dann eine Anhäufung von zahllosen Lumpen, unter denen die Gepäckstücke, die alten Körbe, Kisten und Reisesäcke herumlagen. Man wußte nicht mehr, wohin man den Fuß setzen sollte. Zwei rauchende Laternen erhellten nur spärlich dieses Feldlager von todkranken Frauen. Der Geruch war entsetzlich trotz der zwei halb offenen Fenster, durch die die schwüle Hitze der Augustnacht hereinzog. Schatten huschten vorüber, vom Alpdrücken erpreßte Schreie wurden laut und bevölkerten diese Hölle der nächtlichen Qualen.

Jetzt sah Pierre Raymonde, die nach Beendigung ihres Dienstes ihre Mutter begrüßen wollte, ehe sie hinaufstieg, um in einer den Schwestern vorbehaltenen Mansarde sich ins Bett zu legen. Frau von Jonquière selbst, die ihr Vorsteherinnenamt sehr ernst nahm, schloß drei Nächte lang die Augen nicht. Sie hatte wohl einen Sessel, um sich darauf auszustrecken, aber sie konnte keinen Augenblick darin sitzen, ohne gestört zu werden. Im übrigen wurde sie von der kleinen Frau Desagneaux unterstützt, die einen so übermäßigen Eifer bewies, daß Schwester Hyacinthe lächelnd zu ihr gesagt hatte: »Aber warum werden Sie denn keine barmherzige Schwester?« – »Nein!« antwortete sie, »ich kann ja nicht, ich bin verheiratet und bete meinen Mann an!« – Frau Volmar hatte sich nicht einmal gezeigt. Man sagte, Frau von Jonquière habe sie zu Bett geschickt, weil sie über eine heftige Migräne klagte. Das hatte Frau Desagneaux außer sich gebracht, denn sie rief laut, mit welchem Recht man hierherkäme, um die Kranken zu pflegen, wenn man selber nicht kräftig sei. Trotzdem begann auch sie, ihre Arme und Beine zu fühlen, wenn sie es auch nicht zugestehen wollte, auf die geringste Klage herbeilief und stets zu Helfen bereit war. Sie, die in Paris eher einem Bedienten geklingelt als einen Leuchter von der Stelle gerückt hätte, ging mit den Geschirren und Waschbecken hin und her, leerte die Nachtstühle und hob die Kranken mit der vollen Kraft ihrer Arme in die Höhe, während Frau von Jonquière ihnen die Kopfkissen hinter den Rücken schob. Aber als es elf Uhr schlug, da war sie wie zerschlagen. Sie hatte die Unklugheit begangen, sich einen Augenblick, von Müdigkeit übermannt, im Sessel auszustrecken. Sie schlief auf der Stelle ein. Ihr hübscher Kopf inmitten der verblüffend reichen Flut ihrer wunderbaren blonden Haare war auf die eine Schulter gesunken, und nichts mehr vermochte sie zu wecken.

Frau von Jonquière war behutsam wiedergekommen und sagte dem jungen Priester:

»Ich hatte wohl daran gedacht, Herrn Ferrand holen zu lassen, Sie wissen, den internen Arzt, der uns begleitet, er hätte dem armen Fräulein irgend etwas gereicht, um sie zu beruhigen. Aber er ist unten im Saal der Haushaltungen beim Bruder Isidor beschäftigt. Und dann wissen Sie, wir lassen hier niemand ärztlich behandeln. Wir kommen nur, um unsere lieben Kranken in die Hände der Heiligen Jungfrau zu legen.«

Schwester Hyacinthe, die entschlossen war, die Nacht bei der Vorsteherin zuzubringen, näherte sich.

»Ich komme aus dem Saal der Haushaltungen herauf«, sagte sie, »wohin ich Herrn Sabathier Orangen zu bringen versprochen hatte. Dort habe ich Herrn Ferrand gesehen, dem es gelungen ist, den Bruder Isidor wieder zu beleben. Wünschen Sie, daß ich noch einmal hinuntergehe, um ihn zu holen?«

Aber Pierre widersetzte sich dem.

»Nein, nein! Marie wird schon vernünftig werden. Ich werde ihr gleich einige schöne Geschichten vorlesen, das wird sie beruhigen.«

Marie blieb immer noch stumm. An der Wand befand sich eine von den zwei Laternen, und Pierre sah ganz deutlich ihr schmales Antlitz, das unbeweglich war wie Stein. Drüben im nächsten Bett sah er den Kopf der in tiefen Schlaf versunkenen Elise Rouquet. Sie hatte kein Tuch um und streckte ihr abscheuliches Gesicht, dessen fürchterliche Wunde doch etwas blasser geworden war, in die Luft. Zu seiner Linken hatte er die entkräftete, für unheilbar erklärte Frau Vêtu; sie konnte keinen Augenblick Schlaf finden, da sie von einem ununterbrochenen Röcheln erschüttert wurde. Er sagte ihr einige freundliche Worte, und sie dankte ihm mit einer Bewegung des Kopfes. Endlich sagte sie, indem sie ihre letzten Kräfte zusammennahm, ganz leise:

»Es fanden heute mehrere Heilungen statt, ich war sehr erfreut darüber.«

In der Tat hörte die auf einer Matratze zu Füßen des nämlichen Bettes liegende Grivotte nicht auf, sich in außerordentlicher Regsamkeit in die Höhe zu richten, um jedem, der kam, ihren Ruf zu wiederholen:

»Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!«

Und sie erzählte, sie, die seit Monaten nicht mehr aß, hätte ein halbes Huhn verzehrt. Dann hatte sie während zweier Stunden die Fackelprozession begleitet. Sicherlich hätte sie auch bis zum Morgen getanzt, wenn die Heilige Jungfrau einen Ball gegeben hätte.

»Ich bin geheilt, ja, geheilt! Ganz und gar geheilt!«

Darauf konnte Frau Vêtu, in kindlicher Heiterkeit und mit vollkommener Selbstverleugnung, wieder sagen:

»Die Heilige Jungfrau hat recht getan, dieses Geschöpf da zu heilen, weil sie arm ist. Das macht mir mehr Vergnügen, als wenn ich es wäre. Denn ich habe noch meinen kleinen Uhrenladen und kann warten. Es kommt jeder an die Reihe.«

Alle zeigten eine solche Freude, ein unglaubliches Glück über die Heilung anderer. Selten waren sie eifersüchtig, sie überließen sich einer Art seliger Epidemie, der ansteckenden Hoffnung, selbst gesund zu werden, wenn die Heilige Jungfrau es wollte. Man mußte sie nur nicht ungehalten machen und sich nicht allzu ungeduldig zeigen. Denn gewiß hatte sie ihre Gründe und wußte, warum sie mit der Heilung der einen früher begann als mit der der anderen. Darum beteten auch in dieser brüderlichen Gemeinschaft des Leidens und der Hoffnung die am schwersten betroffenen Kranken für ihre Nachbarinnen. Keine verzweifelte jemals, jedes neue Wunder war eine Bürgschaft für das nächste. Ihr Glaube blieb unerschütterlich. Man erzählte die Geschichte einer gelähmten Pächterstochter, die mit außerordentlicher Willenskraft in der Grotte einige Schritte gemacht hatte. Ins Hospital zurückgekehrt, verlangte sie dann, man sollte sie wieder hinab und nach der Grotte führen. Aber auf halbem Wege war sie getaumelt und ganz weiß geworden. Nachdem man sie auf einer Tragbahre zurückgebracht hatte, war sie gestorben, geheilt, sagten ihre Saalnachbarinnen. Jede kommt an die Reihe, die Heilige Jungfrau vergißt keine ihrer geliebten Töchter, wofern sie nicht die Absicht hat, einer ihrer Auserwählten auf der Stelle die Gnade des Paradieses zu gewähren.

Im Augenblick, da Pierre sich zu Marie hinneigte, brach diese plötzlich in wildes Schluchzen aus. Sie hatte ihren Kopf auf die Schulter des Freundes gelegt und erzählte ihm mit leiser, schrecklicher Stimme inmitten der verschwommenen Schatten dieses entsetzlichen Saales von ihrer innerlichen Empörung. Bei ihr vollzog sich, wie dies nur selten vorkam, ein Untergang des Glaubens, ein jäher Mangel an Mut, sie zeigte die ganze Wut des leidenden Geschöpfes, das nicht mehr warten konnte. Sie ging bis zur Lästerung.

»Nein, nein!« stieß sie leise hervor, »sie ist böse, sie ist ungerecht, weil sie mich nicht gleich geheilt hat. Ich war so gewiß, daß sie mich heute erhören würde, und hatte so sehr darum gefleht! Ich werde niemals geheilt werden, da dieser erste Tag jetzt zu Ende geht. Es war heute Samstag, und ich war überzeugt, daß sie mich an einem Samstag heilen würde. Ich wollte nicht mehr sprechen, verhindern Sie mich am Sprechen, denn mein Herz ist übervoll, und ich würde zuviel darüber reden.«

Er hatte ihren Kopf in brüderlicher Umarmung lebhaft an sich gedrückt und machte den Versuch, den Schrei ihrer Empörung zu ersticken.

»Marie«, flüsterte er, »schweigen Sie, ich bitte Sie! Man darf Sie nicht hören ... Sie sind doch sonst so gottesfürchtig! Wollen Sie denn allen diesen Seelen Ärgernis geben?«

Aber trotz seiner Bemühungen konnte sie nicht schweigen.

»Ich würde ersticken, ich muß reden ... Ich liebe sie nicht mehr, ich glaube nicht mehr an sie. Lüge ist alles, was man hier erzählt. Es ist alles nur Wahn, und sie existiert nicht einmal, da sie nicht hört, wenn man zu ihr spricht und wenn man weint. Wenn Sie alles wüßten, was ich zu ihr gesagt habe! Ich will augenblicklich von hier fortgehen. Bringen Sie mich weg! Tragen Sie mich auf der Stelle in Ihren Armen davon, damit ich auf der Straße sterbe, wo wenigstens die Vorübergehenden mit meinem Leiden Mitleid haben werden.«

Sie wurde schwächer und sank auf den Rücken zurück, dann stammelte sie wie ein Kind:

»Und dann liebt mich auch niemand. Selbst mein Vater war nicht da. Auch Sie, mein armer Freund, haben mich aufgegeben. Als ich sah, daß ein anderer mich zum Weiher brachte, da fühlte ich, wie mich Kälte zu erfassen begann. Ja, eine Kälte des Zweifels, die ich oft in Paris empfand. Soviel ist sicher: wenn sie mich nicht geheilt hat, so geschah es, weil ich zweifelte. Ich werde schlecht gebetet haben und bin nicht gottgefällig genug ...«

Sie lästerte schon nicht mehr, sie fand Entschuldigung für den Himmel. Aber ihr Angesicht blieb heftig erregt in diesem Streit gegen die höhere Gewalt, die sie so sehr geliebt und so inständig angefleht und die ihr den Willen nicht getan hatte. Wenn manchmal ein Wutanfall ausbrach und es dabei in den Betten zu einer Auflehnung, zu Ausbrüchen von Verzweiflung, zu heftigem Schluchzen, ja sogar zu Flüchen kam, so begnügten sich die erschrockenen Schwestern damit, die Vorhänge zuzumachen. Die Gnade hatte sich zurückgezogen, man mußte warten, bis sie wiederkam. Dann trat eine allmähliche Beruhigung ein, und nach Stunden war alles in tiefem, traurigen Schweigen erstorben.

Als Pierre sah, daß Marie von einer andern Krise, dem Zweifel an sich selbst und der Befürchtung, der Gnade unwürdig zu sein, ergriffen wurde, wiederholte er sehr liebevoll:

»Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum.«

Schwester Hyacinthe hatte sich wieder genähert.

»Mein liebes Kind«, sagte sie, »Sie werden nachher nicht die Kommunion empfangen können, wenn Sie in solchem Zustande sind ... Da wir den Herrn Abbé ermächtigen, Ihnen etwas vorzulesen, warum nehmen Sie es nicht an?«

Sie machte eine müde Gebärde, um ihre Einwilligung auszudrücken, und Pierre beeilte sich, aus der Reisetasche zu Füßen des Bettes das kleine Buch mit blauer Decke zu nehmen, worin die Geschichte der Bernadette in naiver Weise erzählt war. Aber wie in der vorigen Nacht in dem dahin rollenden Zug hielt er sich nicht an den abgekürzten Text der Broschüre. Er improvisierte und gab die Tatsachen in seiner Weise wieder, um die einfachen Frauen, die ihm zuhörten, zu ergötzen. Aber der Denker in ihm konnte sich nicht enthalten, ganz leise die Wahrheit wiederherzustellen, und arbeitete für ihn allein diese Legende, deren fortwährendes Wunder die Heilung der Kranken unterstützte, zu einer menschlichen Geschichte um. Binnen kurzem richteten sich Frauen in allen benachbarten Betten auf. Sie wollten die Fortsetzung der Geschichte kennenlernen, denn die leidenschaftliche Erwartung der Kommunion hinderte sie fast alle am Schlaf. Pierre saß im blassen Schein der an der Wand aufgehängten Laterne. Um vom ganzen Saal gehört zu werden, erhob er nach und nach seine Stimme. Er sprach:

»Gleich nach den ersten Wundern nahmen die Verfolgungen ihren Anfang. Bernadette wurde wie eine Lügnerin und Närrin behandelt, man drohte ihr, sie würde ins Gefängnis geworfen werden. Der Abbé Peyramale, Kurat von Lourdes, und Monsignore Laurence, Bischof von Tarbes und der ganze Klerus hielten sich abseits und warteten mit größter Vorsicht die Dinge ab, während die Zivilbehörden, der Präfekt, der Staatsanwalt, der Bürgermeister, der Polizeikommissar sich in ihrem Eifer beklagenswerten Ausschreitungen gegen die Religion überließen –«

Während Pierre fortfuhr, sah er, wie sich die wahre Geschichte mit unbezwinglicher Gewalt vor ihm erhob. Er kam ein wenig auf schon Erzähltes zurück und fand Bernadette im Augenblick der ersten Erscheinungen wieder. Sie war ohne Falsch, reizend in ihrer Unwissenheit, ihrem guten Glauben, und ihrem Leiden. Und sie war die Seherin, die Heilige, deren Antlitz während der ekstatischen Krise den Ausdruck einer überirdischen Schönheit annahm: die Stirn strahlte, die Züge schienen sich aufzufrischen, die Augen schwammen im Licht, während der halb geöffnete Mund vor Liebe brannte. Ihre ganze Person war voller Majestät, sie machte hoheitsvolle, ganz langsame Zeichen des Kreuzes, die den Eindruck hervorriefen, als sollten sie den Horizont umfassen. Die benachbarten Täler, die Dörfer und Städte sprachen nur von Bernadette. Obwohl die Jungfrau sich noch nicht genannt hatte, erkannte man sie. Man sagte: »Sie ist es, die Heilige Jungfrau ist es.« Am ersten Markttage waren so viel Leute da, daß Lourdes gleichsam überfloß. Alle wollten das gebenedeite Mädchen sehen, die Auserwählte der Königin der Engel, die so schön wurde, wenn sich ihren verzückten Augen die Himmel auftaten. Jeden Morgen wurde die Menge am Ufer des Gave zahlreicher, und endlich kamen Tausende von Personen, um sich dort niederzulassen. Sie stießen einander herum, um nichts von dem Schauspiel zu verlieren. Sobald Bernadette erschien, lief ein Murmeln der Inbrunst durch die Menge: »Hier ist sie, die Heilige, die Heilige, die Heilige!« Man stürzte sich auf sie, um ihre Gewänder zu küssen. Sie war der Messias, der ewige Messias, den die Völker erwarten und nach dem sie sich über alle Generationen hinweg stets von neuem sehnen. Es war immer das gleiche Ereignis: die Jungfrau erschien einer Hirtin, eine Stimme ermahnte die Welt zur Buße, eine Quelle sprudelte empor, und Wunder wurden kund, die die immer zahlreicher herbeidrängenden, riesigen Volksmassen in Erstaunen und Entzücken versetzten.

Ach, diese ersten Wunder von Lourdes! Welche Frühlingsblütenpracht des Trostes und der Hoffnung erweckten sie in den Herzen der Elenden, die von Armut und Krankheit verzehrt wurden! Das geheilte Auge des alten Bouriette, das im eisigen Wasser auferstandene Kind Bouhohorts, Taube, die ihr Gehör, Hinkende, die ihren geraden Gang wieder erlangten, und so viele andere, wie Blaise Maumus, Bernade Soubies, Auguste Bordes, Blaisette Soupenne, Benoite Cazeaux, die von den schlimmsten Leiden erlöst worden waren, wurden zu Gegenständen endloser Gespräche und erhitzten die Einbildungskraft aller Menschen, die in ihrem Herzen oder in ihrem Fleisch litten. Am Donnerstag, dem vierten März, dem letzten Tag der von der Heiligen Jungfrau verlangten fünfzehn Besuche, befanden sich mehr denn zwanzigtausend Personen vor der Grotte. Und diese unermeßliche Menge fand das, wonach sie hungerte: die Nahrung aus Göttlichem, ein Festmahl voller Wunder, genug des Unmöglichen, um ihren Glauben an eine höhere Gewalt zu befriedigen, an eine Macht, die die Gnade hatte, sich mit den armen Menschen abzugeben, und die auf glänzende Weise einschritt, um in den kläglichen Zuständen auf Erden wieder ein wenig Gerechtigkeit und Güte herzustellen. Der Ruf der göttlichen Liebe erscholl, die unsichtbare hilfreiche Hand streckte sich endlich aus, um die ewige Wunde des Menschengeschlechts zu verbinden! Ach, dieser Traum, den jede Generation aufs neue träumte, mit welch unzerstörbarer Kraft trieb er Blätter und Blüten bei den Enterbten, sobald er ein günstiges, durch die Umstände vorbereitetes Erdreich gefunden hatte! Vielleicht waren seit Jahrhunderten nicht alle Bedingungen so zusammengetroffen, um den mystischen Herd des Glaubens zu entflammen wie in Lourdes.

Eine neue Religion begann sich zu gründen, und sofort brachen auch die Verfolgungen los, denn die Religionen gedeihen nur unter Martern und Empörungen. Wie ehemals in Jerusalem, als sich das Gerücht von den beim Vorüberziehen des erwarteten Erlösers emporblühenden Wundern verbreitete, so gerieten auch hier die Zivilbehörden in Leidenschaft und setzten sich in Bewegung: der Staatsanwalt, der Friedensrichter, der Bürgermeister und vor allem der Präfekt von Tarbes. Gerade der Präfekt war ein aufrichtiger, strenger Katholik von unbedingter Rechtschaffenheit. Aber er besaß den harten Kopf eines Verwaltungsbeamten und war ein leidenschaftlicher Verteidiger der guten Ordnung, erklärter Gegner des Fanatismus, aus dem Aufruhr und religiöses Verderbnis entspringen. Natürlich hatte er in Lourdes einen Polizeikommissar unter seinen Befehlen, einen durchaus verständigen und folgsamen, überdies sehr korrekten Mann, der rechtmäßigerweise in der Sache der Erscheinungen eine Gelegenheit erblickte, seine Begabung als gewandter, scharfsinniger Beamter zu erproben. Und so begann der Kampf. Am ersten Fastensonntag, gleich nach den ersten Visionen ließ der Polizeikommissar Bernadette in sein Kabinett kommen, um sie zu verhören. Vergeblich zeigte er sich freundlich, dann aufbrausend und drohend: er brachte immer nur die nämlichen Antworten aus dem Mädchen heraus. Die Geschichte, die es erzählte mit ihren langsam erweiterten Einzelheiten, hatte sich in seinem kindlichen Kopf nach und nach unwiderruflich festgesetzt. Und bei diesem armen, duldenden, an Hysterie leidenden Geschöpf war die Erzählung keine Lüge. Sie entstand aus der unbewußten, oftmaligen Beschäftigung damit, und aus dem unheilbaren Mangel an Willenskraft, sich die erste Halluzination aus dem Sinn zu schlagen. Sie verstand nicht zu wollen, konnte nicht wollen und besaß nicht den Willen zum Wollen. Ach, das unglückliche Kind, das teure, liebenswürdige, sanfte, eines bösen Gedankens unfähige Mädchen! Schon damals war sie für das Leben verloren. Sie wurde gekreuzigt von ihrer fixen Idee, von der man sie nur durch einen Wechsel ihrer Umgebung hätte losreißen können, wenn man sie in die weite freie Luft, in irgendeine Gegend voll hellen Lichts und zärtlicher Menschenliebe gebracht hätte. Aber sie war die Auserwählte, sie hatte die Jungfrau gesehen, und darunter sollte ihr ganzes Dasein leiden, daran sollte sie zugrunde gehen.

Pierre, der Bernadette gut kannte und ihrem Andenken ein brüderliches Mitleid, die Glut, die man für eine irdische Heilige, für ein einfaches, gerades und in der Qual seines Glaubens noch reizendes Geschöpf fühlt, bewahrte – Pierre konnte seine Bewegung nicht verbergen: seine Augen waren feucht, seine Stimme zitterte. Da wurde er unterbrochen. Marie, die bisher mit einem vor Empörung hart gewordenen Angesicht starr dalag, löste ihre verschlungenen Hände und machte eine unbestimmte Gebärde des Mitleids.

»Ach!« flüsterte sie, »die arme Kleine stand so allein diesen Beamten gegenüber und war so unschuldig, so kühn und unwandelbar in der Wahrheit!«

Von allen Betten stieg das gleiche leidende Mitgefühl auf. Die Hölle dieses Saals in seiner nächtlichen Pein, mit der verpesteten Luft, den aneinander gedrängten Schmerzenslagern und mit dem gespenstischen Hinundhergehen der von Müdigkeit zerschlagenen Damen und Nonnen, schien von einem Glanz göttlicher Liebe erhellt zu werden. War das nicht das ewige Gaukelbild vom Glück, das sich hier in den Tränen und selbst in der unbewußten Lüge aussprach? Arme, arme Bernadette! Alle entrüsteten sich über die Verfolgungen, die sie um der Verteidigung ihres Glaubens willen erduldet hatte.

Hierauf fuhr Pierre in seiner Geschichte fort und erzählte, was das Kind alles auszustehen hatte. Nach dem Verhör des Kommissars mußte sie noch vor Gericht erscheinen. Das gesamte Gericht war darauf versessen, einen Widerruf von ihr zu erpressen. Aber das starrsinnige Festhalten an ihrem Traum erwies sich stärker als die Vernunftgründe der vereinigten Behörden. Zwei vom Präfekten zu einer aufmerksamen Untersuchung der Kranken bestellte Doktoren schlossen ehrlich, wie dies jeder Arzt getan hätte, auf nervöse Störungen. Das Asthma war ein sicheres Merkmal dafür, und unter gewissen Umständen konnten sie den Ausschlag zur Erweckung von Visionen gegeben haben. Daraufhin mußte man sie fortbringen und in einem Krankenhaus zu Tarbes internieren. Man fürchtete die Erbitterung des Volks. Ein Bischof war gekommen, um sich vor ihr auf die Knie zu werfen. Damen wollten Gnaden von ihr erflehen und sie mit Gold aufwiegen. Stets wachsende Ströme von Gläubigen erdrückten sie mit Besuchen. Sie hatte sich zu den Schwestern von Nevers geflüchtet, die die Krankenpflege im Hospiz der Stadt versehen. Mit Mühe lernte sie dort lesen und schreiben. Da die Heilige Jungfrau sie nur für das Glück anderer auserwählt zu haben schien und weil sie Bernadette selber gar nicht von ihren chronischen Erstickungsanfällen heilte, so entschloß man sich, sie nach den ohnehin nahen Bädern von Cauterets zu bringen, die ihr übrigens nicht gut taten. Und gleich bei ihrer Rückkehr nach Lourdes begann die Marter der gerichtlichen Verhöre und der Verehrung eines ganzen Volks aufs neue. Die Qual wurde noch ärger und flößte ihr immer mehr Abscheu vor der Welt ein. Sie durfte kein fröhliches Kind sein, kein junges Mädchen werden, das von einem Gatten träumt, keine junge Frau, die Küsse auf die Wangen praller Kinder drückt. Sie hatte die Jungfrau geschaut: sie war die Auserwählte und die Märtyrerin. Die Jungfrau, sagten die Gläubigen, hatte ihr drei Geheimnisse anvertraut und sie so mit dreifacher Rüstung bewehrt, um sie aufrechtzuerhalten.

Lange hatte sich der Klerus, der selber voller Zweifel und Unruhe war, enthalten, eine Ansicht auszusprechen. Der Abbé Peyramale, Kurat von Lourdes, war ein rauher Mann, aber von unendlicher Güte und von bewunderungswürdiger Geradheit und Energie, wenn er sich auf dem rechten Weg glaubte. Als er das erstemal den Besuch Bernadettes empfing, trat er diesem in Bartrès erzogenen Kinde fast ebenso rauh entgegen wie der Polizeikommissar. Er weigerte sich, an seine Geschichte zu glauben, und befahl ihm mit einiger Ironie, die Dame zu bitten, sie solle vor allem den wilden Rosenstock, der sich zu ihren Füßen befand, zum Blühen bringen, was die Dame übrigens nicht tat. Wenn er später als guter Hirt, der seine Herde verteidigt, das Kind unter seinen Schutz nahm, so geschah dies, weil man davon sprach, dieses kränklich aussehende Mädchen mit den hellen, freimütigen Augen und der Geschichte, die sie sich in ihrer bescheidenen Sanftmut in den Kopf gesetzt hatte, ins Gefängnis zu werfen. Warum hätte er fortfahren sollen, das Wunder in Abrede zu stellen, nachdem er als kluger Pfarrer, der wenig Lust zeigte, die Religion mit einem zweideutigen Abenteuer in Berührung zu bringen, einfach daran gezweifelt hatte? Die heiligen Bücher sind voll von Wundern. Das ganze Dogma ist auf ein Mysterium gegründet. Sonach widersetzte sich in den Augen eines Priesters nichts mehr der Annahme, daß die Heilige Jungfrau dieses fromme Kind mit einer Botschaft an ihn beauftragt habe, indem sie ihm sagen ließ, er solle eine Kirche bauen, zu der sich die Gläubigen in Prozession begeben könnten. Und so geschah es, daß er dazu kam, Bernadette wegen ihrer bezaubernden Anmut zu lieben und zu verteidigen, wenn er sich auch sonst abseits hielt, um die Entscheidung seines Bischofs abzuwarten.

Dieser Bischof, Monsignore Laurence, schien sich in der Tiefe seines Palastes zu Tarbes hinter dreifachen Riegeln eingesperrt zu haben. Er bewahrte das tiefste Stillschweigen, als ob in Lourdes nichts vorginge, was geeignet wäre, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er hatte seinem Klerus strenge Befehle gegeben, und nicht ein Priester hatte sich unter den großen Volksmassen blicken lassen, die ganze Tage vor der Grotte verbrachten. Er wartete, er ließ den Präfekten in Rundschreiben benachrichtigen, daß die bürgerliche Gewalt mit der religiösen Obrigkeit einig ginge. Im Grunde brauchte er nicht an die Erscheinungen in der Grotte von Massabielle zu glauben, zweifellos sah er darin nur die Halluzination eines kranken Mädchens. Das Ereignis, das das Land in Aufregung brachte, war von hinreichend großer Wichtigkeit, daß er es sorgfältig von Tag zu Tag erforschen ließ, und die Art, auf die er ihm so lange sein Interesse vorenthielt, beweist, wie wenig er das behauptete Wunder gelten ließ. Er hatte nur die einzige Sorge, die Kirche nicht in eine Geschichte zu verwickeln, die bestimmt war, ein schlechtes Ende zu nehmen. Monsignore Laurence, sehr fromm und von kühlem, praktischen Verstande, hatte viel gesunde Vernunft zur Regierung seines Bistums mitgebracht. Die Ungeduldigen und Eiferer gaben ihm damals den Beinamen »Ungläubiger Thomas«, weil er in seinem Zweifel verharrte bis zu dem Tage, da er durch die Tatsachen zum Nachgeben gezwungen wurde. Er hatte ein taubes Ohr und war fest entschlossen, nicht nachzugeben, außer wenn die Religion nichts dabei verlieren konnte.

Aber die Verfolgungen sollten sich verschärfen. Der Kultusminister in Paris war gewonnen worden und forderte, daß alle Unordnung aufhöre. So ließ denn der Präfekt die Zugänge zu der Grotte militärisch besetzen. Schon hatte der Eifer der Gläubigen und die Dankbarkeit der Geheilten sie mit Blumenvasen ausgeschmückt. Man warf Geldstücke in die Grotte, Geschenke für die Heilige Jungfrau strömten in Menge herbei. Es waren auch primitive Einrichtungen vorhanden, die sich von selbst entwickelten: Steinbrecher hatten eine Art Behälter ausgehauen, um das wunderbare Wasser aufzufangen, andere brachten die großen Felsblöcke hinweg und legten einen Weg auf den Hügel. Angesichts der anschwellenden Menschenflut faßte der Präfekt, nachdem er auf Bernadettes Verhaftung verzichtet hatte, den bedenklichen Entschluß, die Annäherung an die Grotte zu verbieten, und sperrte sie mittelst eines Zaunes aus starken Pfählen ab. Da hatten sich ärgerliche Dinge zugetragen: Kinder behaupteten, den Teufel gesehen zu haben, die einen machten sich einer bewußten Lüge schuldig, andere gaben damit nur wahrhaft krankhaften Anfällen nach, hervorgerufen durch die Nervenstörung, die wie eine Pest alles ergriffen hatte. Aber was für Dinge brachte erst die Ausräumung der Grotte mit sich! Erst gegen Abend konnte der Kommissar ein Mädchen auffinden, das einwilligte, ihm einen Karren zu vermieten. Zwei Stunden später fiel dieses Mädchen und brach sich eine Rippe. Auf dieselbe Art wurde einem Mann, der eine Axt dazu hergeliehen hatte, am Tag darauf durch einen abstürzenden Stein der Fuß zerschmettert. Der Kommissar nahm unter Spott und Hohn nichts mit fort als die Blumentöpfe, die brennenden Kerzen, die Sousstücke und die silbernen Herzen, die im Sand herumlagen. Man ballte die Fäuste, man nannte ihn Dieb und Meuchelmörder. Dann wurden die Pfähle des Zaunes aufgerichtet, die Bretter hingenagelt, lauter Arbeiten, die das Mysterium verschlossen, das Unbekannte absperrten und das Wunder in Gefangenschaft hielten. Und die bürgerlichen Behörden besaßen die Naivität, zu glauben, nun wäre alles zu Ende, die paar Bretter würden die armen, nach Einbildung und Hoffnung lechzenden Leute aufhalten!

Sobald die neue Religion geächtet und vom Gesetz wie ein Verbrechen verboten war, loderte sie im Grunde aller Herzen als unauslöschliche Flamme auf. Die Gläubigen kamen trotzdem in noch größerer Zahl, knieten in einer gewissen Entfernung nieder und schluchzten angesichts des ihnen verwehrten Himmels. Und die Kranken, namentlich die armen Kranken, denen ein barbarischer amtlicher Beschluß die Heilung untersagte, stießen sich trotz der Verbote herum, schlichen sich durch die Löcher hinein und kletterten über die Hindernisse, von dem einzigen heißen Begehren getrieben, Wasser zu stehlen. Wie! Es gab da ein wunderbares Wasser, das den Blinden das Gesicht wiedergab, die Krüppel wieder aufrichtete und alle Übel augenblicklich erleichterte, und es hatten sich Beamte gefunden, die grausam genug waren, dies Wasser unter Verschluß zu legen, damit es aufhörte, die armen Leute zu heilen? Aber das war ja abscheulich! Ein Schrei der Verwünschung erhob sich aus dem niederen Volk, aus den Reihen der Enterbten, die das Wunder ebenso notwendig hatten wie das liebe Brot zum Leben. Dem amtlichen Beschluß zufolge mußten Protokolle über die Verbrecher aufgenommen werden, und so konnte man denn vor Gericht eine jämmerliche Reihe alter Weiber und krüppelhafter Männer vorbeiziehen sehen, die schuldig waren, am Lebensbrunnen Wasser geschöpft zu haben. Sie stammelten und flehten, und als man sie mit einer Geldbuße belegte, begriffen sie es nicht. Draußen aber murrte die Menge. Ein wütender Volksunwille stieg auf gegen diese Beamten, die so hart waren gegen das menschliche Elend, gegen diese Herren ohne Erbarmen, die erst allen Reichtum an sich gerissen hatten und nun den Armen nicht einmal den Traum des Jenseits lassen wollten, den Glauben, daß eine höhere Macht sich mütterlich um sie kümmere, indem sie ihnen den Frieden der Seele und die Gesundheit des Leibes wiedergäbe. Ein ganzer Haufen von Elenden und Kranken suchte den Bürgermeister auf. Sie knieten im Hof nieder, beschworen ihn unter Schluchzen, die Grotte wieder öffnen zu lassen, und was sie vorbrachten, war so zum Erbarmen, daß alle Welt weinte. Eine Mutter zeigte ihr halbtotes Kind vor: würde man es so in ihren Armen absterben lassen, da doch eine Quelle da war, die die Kinder anderer Mütter gerettet hatte? Ein Blinder wies auf seine trüben Augen, ein bleicher, skrofulöser Knabe ließ die Wunden seiner Beine sehen, eine gichtbrüchige Frau mühte sich ab, ihre kläglichen, verkrümmten Hände zu falten. Wollte man sie zugrunde gehen lassen? Verweigerte man ihnen den letzten göttlichen Glücksfall, ihr Leben zu erhalten, nachdem die Wissenschaft der Menschen sie aufgegeben hatte? Ebensogroß war die Betrübnis der Gläubigen, die überzeugt waren, daß eine Ecke des Himmels sich halb aufgetan hatte in der Nacht ihres finstern Daseins, und die sich empörten, daß man ihnen diese erträumte Freude entriß, diesen letzten Trost ihres menschlichen und sozialen Leids, zu glauben, daß die Heilige Jungfrau herabgestiegen sei, um ihnen die unendliche Süßigkeit ihrer Fürsprache zu bringen. Der Bürgermeister konnte nichts versprechen, und die Menge hatte sich weinend zurückgezogen, bereit zur Empörung, wie unter dem Eindruck einer großen Ungerechtigkeit, einer dummen Grausamkeit gegen die Geringen und Einfältigen, derentwegen der Himmel sich rächen würde.

Mehrere Monate lang dauerte dieser Kampf. Es war ein außerordentliches Schauspiel, diese Leute von gesundem Verstand zu sehen, den Minister, den Präfekten, den Polizeikommissar, die gewiß von den besten Absichten beseelt waren, wie sie sich vergeblich gegen die stets wachsende Menge von Verzweifelten abmarterten, die nicht wollte, daß man ihr die Pforte des Traums, den mystischen Eingang zur künftigen Glückseligkeit, die sie über ihr gegenwärtiges Elend trösten sollte, verschließe. Die Behörden verlangten Ordnung, die Achtung vor einer weisen Religion und den Triumph der Vernunft, während das Volk durch das Bedürfnis nach Glück zur überspannten Begierde und Heilung in dieser und der andern Welt fortgerissen wurde. Oh, nicht mehr zu leiden haben, die Gleichheit des Wohlbefindens gewinnen, nur mehr unter dem Schutz einer gerechten und gütigen Mutter wandeln und nur sterben, um im Himmel wieder zu erwachen! Und notgedrungen mußte dieser glühende Wunsch der großen Volkshaufen, dieser heilige Wahn allgemeiner Freude das starre und finstere Gefüge einer wohlgeregelten Gesellschaft wegfegen – einer Gesellschaft, in der die krankhaften Krisen religiöser Wahnvorstellungen als Attentate gegen die gute Ordnung der gesunden Geister verurteilt werden.

Jetzt empörte sich selbst der Saal Sainte-Honorine. Pierre mußte seine Vorlesung aufs neue einen Augenblick unterbrechen wegen der halb erstickten Rufe, mit denen der Polizeikommissar als Satan und Herodes bezeichnet wurde.

Die Grivotte hatte sich auf ihrer Matratze in die Höhe gerichtet, sie rief stotternd:

»Ach, die Ungeheuer ... Die gute Heilige Jungfrau, die mich geheilt hat!«

Und auch Frau Vêtu, die in ihrer geheimnisvollen Gewißheit, daß sie bald sterben würde, wieder von Hoffnung getragen wurde, ärgerte sich bei dem Gedanken, daß die Grotte nicht da wäre, wenn der Präfekt sie hinweggeschafft hätte.

»Dann gäbe es also keine Pilgerfahrten? Wir wären nicht da und würden nicht jedes Jahr zu Hunderten geheilt?«

Sie wurde von einem Erstickungsanfall erfaßt, und Schwester Hyacinthe mußte kommen, um sie aufrecht zu setzen. Frau von Jonquière benützte die Unterbrechung, um einer jungen, von einer Knochenmarkkrankheit befallenen Frau den Nachtstuhl hinzutragen. Zwei andere Frauen, die nicht auf ihrem Bett bleiben konnten, so unerträglich war die Hitze, gingen mit kleinen, leisen Schritten hin und her: sie sahen im schwärzlichen Schatten ganz weiß aus. Vom Ende des Saales her drang aus der Dunkelheit ein mühsamer Atem hervor, der nicht aufgehört und die Vorlesung wie mit einem Röcheln begleitet hatte. Nur Elise Rouquet schlief friedlich und stellte, auf dem Rücken ausgestreckt, ihre schreckliche Wunde zur Schau.

Es war ein Viertel nach zwölf Uhr, und von einem Augenblick zum andern konnte der Abbé Judaine kommen, um die Kommunion zu reichen. Die Gnade kehrte wieder ein in Maries Herzen, sie war jetzt überzeugt, daß, wenn die Heilige Jungfrau abgelehnt hatte, sie zu heilen, die Schuld daran sicherlich an ihr lag, weil sich Zweifel in ihr regten, als sie in den Weiher eintrat. Sie bereute ihre Empörung wie ein Verbrechen. Konnte sie jemals Vergebung erlangen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie betrachtete Pierre mit trauriger Bestürzung.

»Oh, mein Freund!« sagte sie, »wie bin ich schlecht gewesen! Beim Anhören der aus Stolz begangenen Verbrechen dieses Präfekten und seiner Beamten habe ich meine Schuld begriffen... Glauben muß man, lieber Freund! Es gibt kein Glück außer dem Glauben und der Liebe.«

Als Pierre hier mit seiner Vorlesung aufhören wollte, schrien alle auf und verlangten die Fortsetzung. Er mußte versprechen, bis zum Sieg der Grotte zu erzählen.

Der Zaun versperrte sie noch immer, und man mußte heimlich in der Nacht kommen, wenn man beten und eine Flasche gestohlenen Wassers mitnehmen wollte. Inzwischen nahm die Furcht vor einer Empörung zu: man erzählte, es würden ganze Dörfer vom Gebirge herabkommen, um Gott zu befreien. Es war ein Massenaufstand der Niedrigen, ein so unwiderstehlicher Vorstoß der nach dem Wunder lechzenden Leute, daß der einfache, gesunde Menschenverstand, die einfache gute Ordnung daran waren, wie Stroh weggekehrt zu werden. Monsignore Laurence in seinem bischöflichen Palast zu Tarbes war der erste, der sich ergeben sollte. All seine Klugheit, all seine Zweifel fanden sich ohnmächtig gegenüber dieser Volksbewegung. Er hatte es fünf lange Monate vermocht, sich abseits zu halten, seinen Klerus zu verhindern, die Gläubigen nach der Grotte zu begleiten und die Kirche gegen diesen entfesselten Sturm des Aberglaubens zu verteidigen. Aber wozu nützte es, weiter zu kämpfen? Er fühlte, das Elend des leidenden Volkes, dessen Wächter er war, war so groß, daß er sich darein fügte, ihm den Götzendienst zu gestatten, den es mit Heißhunger begehrte. Trotzdem entschloß er sich infolge eines Restes von Klugheit einfach dazu, eine Verordnung zu erlassen, durch die eine Kommission ernannt wurde mit dem Auftrag, zu einer Untersuchung zu schreiten. Dies bedeutete die Annahme der Wunder auf längere oder kürzere Sicht.

Wenn Monsignore Laurence ein Mann von gesunder Bildung und kalter Vernunft war, kann man sich dann nicht vorstellen, welche Herzensangst ihn am Morgen des Tages befiel, da er diese Verordnung unterzeichnete? Er mußte in seinem Betzimmer niederknien und Gott, den Beherrscher der Welt, demütigst bitten, ihm vorzuschreiben, wie er sich zu benehmen habe. Er glaubte nicht an die Erscheinungen, er hatte eine höhere, verständigere Idee von den Offenbarungen der Gottheit. Aber war es nicht mitleidig und barmherzig, die Skrupel seiner Vernunft und seine edlen Anschauungen über den Gottesdienst zum Schweigen zu bringen angesichts der Notwendigkeit, das Brot der Lüge zu reichen, dessen die arme Menschheit bedarf, um glücklich zu leben. »O mein Gott! Verzeih mir, wenn ich dich herabsteigen lasse von dem Thron deiner ewigen Macht, wenn ich dich erniedrige zu diesem kindischen Spiel mit den unnützen Wundern! Man beschimpft dich durch den Glauben, daß du dich in das klägliche Abenteuer einlassen solltest, bei dem es nur Krankheit und Unvernunft gibt. Aber, mein Gott! Sie leiden so sehr, sie sind so hungrig nach dem Wunderbaren und nach Feenmärchen, um den Schmerz darüber, daß sie leben, zu zerstreuen! Wenn sie deine Schafe wären, würdest du selbst helfen, sie zu täuschen. Laß sie getröstet werden, wenn auch die Idee deiner Göttlichkeit dadurch zu Schaden kommt!« So hatte der in Tränen aufgelöste Bischof der aufwallenden Hirtenliebe zu seiner beklagenswerten menschlichen Herde das Opfer seines Gottes gebracht ...

Dann ergab sich der Kaiser. Er war damals in Biarritz, und man unterrichtete ihn täglich über die Angelegenheit dieser Erscheinungen, mit denen sich in Paris die ganze Presse beschäftigte. Der Kaiser bewahrte, während sein Minister, sein Präfekt und der Polizeikommissar für den gesunden Verstand und die gute Ordnung sich schlugen, jenes tiefe Schweigen eines wachen Träumers, das niemand je ergründete. Täglich liefen Bittschriften ein, er schwieg. Bischöfe waren gekommen und hohe Persönlichkeiten, große Damen seiner Umgebung lauerten ihm auf und führten ihn auf die Seite, aber er schwieg. Um seine Entscheidung wurde ein ganzer Kampf ohne Waffenstillstand ausgefochten. Auf der einen Seite standen die Gläubigen, die durch das Wunder in Leidenschaft versetzt wurden, auf der andern die Ungläubigen, die Männer der Regierung, die der unruhigen Einbildungskraft nicht trauten, aber er schwieg. Plötzlich kam er zu einem verzagten Entschluß: er sprach. Es ging das Gerücht, er hätte sich durch die flehentlichen Bitten der Kaiserin zu einem Beschluß bestimmen lassen. Ohne Zweifel war diese als Vermittlerin eingeschritten, aber mehr noch war es bei dem Kaiser ein Wiedererwachen seines alten Traums, die Rückkehr seines wahrhaften Erbarmens mit den Enterbten. Wie der Bischof wollte auch er den Elenden die Pforte der Illusion nicht dadurch verschließen, daß er die unpopuläre Verordnung des Präfekten schützte, die den verzweifelten Kranken verbot, am heiligen Brunnen das Leben zu trinken. Er sandte eine Depesche mit dem kurzen Befehl, den Zaun niederzureißen, damit die Grotte frei würde.

Das war ein Hosianna, das war ein Triumph! Unter Trommelwirbel und Trompetentusch wurde die neue Verordnung in Lourdes verlesen: der Polizeikommissar in Person mußte zur Entfernung des Zaunes schreiten. Er wurde ebenso wie der Präfekt versetzt. Die Völker kamen von allen Seiten herbei, und in der Grotte wurde der Gottesdienst eingerichtet. Ein Schrei göttlicher Freude stieg auf: »Gott hat gesiegt!« – Gott? Ach nein, sondern das menschliche Elend, das ewige Bedürfnis des Trugs, jener Hunger nach dem Wunderbaren, jene Hoffnung des Verdammten, der sich, um Rettung zu finden, den Händen einer unsichtbaren Allmacht übergibt, die stärker ist als die Natur und allein deren unerbittliche Gesetze zu brechen vermag, wenn sie es nur will. Und was außerdem gesiegt hatte, das war das erhabene Mitleid der Führer der Herde. Bischof und Kaiser ließen in ihrer Barmherzigkeit den großen kranken Kindern den Fetisch, der die einen tröstete und die anderen manchmal sogar heilte.

Gleich Mitte November kam die bischöfliche Kommission nach Lourdes, um die Untersuchung vorzunehmen, mit der sie beauftragt war. Sie verhörte Bernadette noch einmal und studierte eine große Anzahl von Wundern. Gleichwohl hielt sie nur dreißig Heilungen, die von unbedingter Augenscheinlichkeit waren, für erwiesen. Monsignore Laurence erklärte sich nun für überzeugt. Trotzdem legte er einen letzten Beweis seiner Klugheit dadurch ab, daß er noch drei Jahre wartete, ehe er in einer bischöflichen Verordnung den Ausspruch tat, die Heilige Jungfrau sei tatsächlich in der Grotte von Massabielle erschienen, und es hätten sich hierauf zahlreiche Wunder begeben. Er hatte von der Stadt Lourdes die Grotte selbst mit dem ganzen sie umgebenden Platz im Namen des Bistums gekauft. Dann wurden Arbeiten ausgeführt, zuerst in bescheidenem Umfang, bald aber von immer größerer Bedeutung, in dem Maß, wie das Geld aus der ganzen Christenheit herbeifloß. Man richtete die Grotte ein und verschloß sie mit einem Gitter. Der Gave wurde rückwärts in ein neues Bett umgeleitet, um breite Zufahrten, Rasenplätze, Alleen und Promenaden anzulegen. Schließlich begann sich die Basilika, die von der Heiligen Jungfrau verlangte Kirche, auf dem Gipfel des Felsens selbst zu erheben. Vom ersten Spatenstich an leitete der Kurat von Lourdes, Abbé Peyramale, alles mit außerordentlichem Eifer, denn der Kampf hatte den glühendsten Gläubigen, den aufrichtigsten Förderer des Werkes aus ihm gemacht. Er hatte begonnen, Bernadette mit etwas rauher, väterlicher Zuneigung zu verehren. Er machte die Sendung des Kindes zu der seinigen und ergab sich mit Leib und Seele der Verwirklichung der Befehle, die er durch den Mund dieser Unschuldigen vom Himmel erhalten hatte. Er strengte sich in der Leitung der Arbeiten bis zur Erschöpfung an, er wollte, daß alles sehr schön, sehr erhaben und der Engelskönigin würdig werde, die die Gnade hatte, diesen Bergwinkel zu besuchen. Die erste religiöse Zeremonie fand erst sechs Jahre nach den Erscheinungen statt: man errichtete in der Grotte unter großer Prachtentfaltung eine Marmorstatue der Jungfrau an der Stelle, an der sie zuerst erschienen war. An diesem Tag hatte sich Lourdes bei herrlichem Wetter in Flaggenschmuck geworfen, und alle Glocken läuteten. Fünf Jahre später, im Jahre 1869, wurde die erste Messe in der Basilika gelesen, deren Turmspitze noch nicht vollendet war. Die Geschenke vermehrten sich ohne Unterlaß, ein Goldstrom wälzte sich der Grotte zu, und eine ganze Stadt stand im Begriff, aus dem Boden emporzuwachsen. So vollendete sich die Gründung der neuen Religion. Der Wunsch, gesund zu werden, heilte, der Durst nach dem Wunder bewirkte das Wunder. Ein Gott des Erbarmens und der Hoffnung ging hervor aus dem menschlichen Leid, aus jenem Bedürfnis des Truges und des Trostes, das in allen Zeitaltern des Menschengeschlechts die wunderbaren Paradiese des Jenseits geschaffen hat, in denen ein allmächtiges Wesen Gerechtigkeit übt und das ewige Glück austeilt.

Auch die Kranken des Saales Sainte-Honorine erblickten im Sieg der Grotte nur den Triumph ihrer Hoffnungen auf Genesung. Und alle freuten sich, als Pierre, dessen Herz beim Anblick all dieser armen, nach Gewißheit schmachtenden und gegen ihn gekehrten Gesichter bewegt wurde, wiederholte:

»Gott hatte gesiegt, und von jenem Tag an hörten die Wunder nicht auf. Den demütigsten Geschöpfen wird der größte Beistand zuteil.«

Er legte das Buch weg. Der Abbé Judaine trat ein, die Kommunion sollte beginnen. Aber Marie, neuerdings vom Fieber des Glaubens ergriffen, beugte sich zu ihm, ihre Hände brannten.

»Mein lieber Freund«, flüsterte sie, »erweisen Sie mir den großen Dienst, mein Schuldbekenntnis anzuhören und mir die Absolution zu erteilen. Ich habe gelästert und befinde mich im Zustande der Todsünde. Wenn Sie mir nicht zu Hilfe kommen, werde ich die heilige Hostie nicht empfangen können, und ich bedarf doch so sehr des Trostes und der Stärkung!«

Der junge Priester machte eine Gebärde der Weigerung. Nie hatte er die Beichte dieser Freundin hören wollen, der einzigen Frau, die er in den gesunden und lachenden Jugendjahren geliebt und begehrt hatte.

Aber Marie bestand darauf.

»Ich bitte Sie inständig darum«, sagte sie, »Sie werden das Wunder meiner Heilung unterstützen.«

Da gab er denn nach, er empfing das Geständnis ihres Fehlers, der ruchlosen Empörung ihres Leidens gegen die Heilige Jungfrau, die für ihre Gebete taub geblieben war. Darauf erteilte er ihr die Absolution.

Der Abbé Judaine hatte schon das Ciborium auf einem kleinen Tisch zwischen zwei angezündeten Wachskerzen niedergestellt, die im Halbdunkel des Saales zwei trüben Sternen glichen. Der Geruch der kranken Leiber und der aufgehäuften Lumpen war so unerträglich geworden, daß man sich soeben entschlossen hatte, eines von den auf den Hof gehenden Fenstern ganz zu öffnen, aber es kam keine frische Luft herein. Der enge, in nächtliche Finsternis getauchte Hof war einem geheizten Schacht ähnlich.

Pierre erbot sich zum Meßdiener und sprach das »Confiteor«. Dann erhob der mit dem Chorhemd bekleidete Geistliche, nachdem er mit dem »Misereatur« und dem »Indulgentiam« geantwortet hatte, das Hostiengefäß, indem er sprach:

»Sehet an das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!«

Und alle die in Schmerzen sich windenden Frauen, die die Kommunion mit der Ungeduld erwarteten, mit der ein Todkranker das Leben von einem neuen Trank erhofft, auf den man ihn warten läßt, wiederholten dreimal mit geschlossenem Munde den Spruch der Demütigung:

»O Herr! Ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach, sprich aber nur ein Wort, und meine Seele wird gesunden.«

Der Abbé Judaine hatte, begleitet von Pierre, den Gang zu den Krankenbetten angetreten, während Frau von Jonquière und Schwester Hyacinthe, jede mit einer Wachskerze in der Hand, ihnen folgten. Die Schwester bezeichnete die Kranken, die kommunizieren sollten, und der Priester beugte sich vor und legte, indem er die lateinischen Worte dazu murmelte, ein wenig aufs Geratewohl die Hostien auf ihre Zungen. Beinahe alle warteten mit weitgeöffneten, leuchtenden Augen inmitten der durch die allzu hastige Einrichtung des Saals entstandenen Unordnung. Allerdings mußte man zwei von ihnen, die tief eingeschlafen waren, wecken. Viele ächzten, ohne sich dessen bewußt zu sein, und fuhren fort zu ächzen, nachdem sie Gott empfangen hatten. Im Hintergrund des Saales hielt das Röcheln der Kranken, die man nicht sehen konnte, noch immer an. Man konnte sich nichts Traurigeres denken als diesen kleinen Zug in dem Halbdunkel, durch das die zwei gelben Lichter der brennenden Wachskerzen gleich Sternen schimmerten.

Das Antlitz Mariens aber, die in Verzückung versunken war, bot eine göttliche Erscheinung. Man hatte der Grivotte, die nach dem Brot des Lebens hungerte, die Kommunion verweigert, weil sie sie am Morgen in der Rosenkranzkirche empfangen sollte. Frau Vêtu erhielt die Hostie stumm während eines Schluchzens auf ihre schwarze Zunge gelegt.

Jetzt war Marie an der Reihe, so schön im blassen Schein der Kerzen, inmitten ihrer blonden Haare, mit den erweiterten Augen und ihren vom Glauben verklärten Zügen, daß alle sie bewunderten. Sie kommunizierte mit großer Inbrunst; der Himmel stieg sichtbar in sie hinab, in ihren armen, jugendlichen, gepeinigten Körper. Einen Augenblick hielt sie Pierre mit der Hand fest.

»Oh, lieber Freund! Sie wird mich heilen, sie sagte mir's soeben ... Gehen Sie zur Ruhe! Ich werde einschlafen!«

Als Pierre sich mit dem Abbé Judaine zurückzog, bemerkte er die kleine Frau Desagneaux im Sessel, auf den die Ermüdung sie gleichsam hingeworfen hatte. Nichts konnte sie erwecken. Es war halb zwei Uhr morgens. Frau von Jonquière, von Schwester Hyacinthe unterstützt, wandelte fortwährend hin und her, drehte die Kranken um, säuberte und verband sie. Mittlerweile beruhigte sich der Saal und verfiel, seitdem Bernadette mit ihrem Zauberreiz hindurchgeschritten war, in eine freundlichere dunkle Schwere. Das Schattenbild der kleinen Seherin irrte jetzt zwischen den Betten umher. Sie triumphierte, denn sie hatte ihr Werk getan und jeder Verzweifelten, jeder Enterbten dieser Erde ein wenig vom Himmelreich mitgebracht. Und während alle in Schlaf versanken, sahen sie die armselige und kranke Bernadette, wie sie sich über sie beugte und sie lächelnd küßte.


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