Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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III

Der gute Abbé Judaine mußte bei der Vieruhrprozession das heilige Sakrament tragen. Seitdem ihn die Heilige Jungfrau von einer Augenkrankheit geheilt hatte, ein Wunder, von dem die katholischen Zeitungen noch widerhallten, gereichte er Lourdes zum Ruhm. Man räumte ihm dort die erste Stelle ein und ehrte ihn durch allerlei Freundlichkeiten.

Um dreieinhalb Uhr erhob er sich und wollte die Grotte verlassen. Aber der außerordentliche Andrang der Menge erschreckte ihn. Wenn es ihm nicht gelang, sich loszumachen, fürchtete er, sich zu verspäten. Zum Glück fand er eine Hilfe.

»Herr Kurat«, erklärte ihm Berthaud, »versuchen Sie ja nicht, nach der Rosenkranzkirche zu gehen, Sie würden auf dem Wege steckenbleiben. Am besten ist es, den Schlangenweg hinaufzugehen. Warten Sie! Folgen Sie mir, ich gehe vor Ihnen her!«

Er machte von seinen Ellenbogen Gebrauch, drängte den dichten Menschenstrom auseinander und öffnete dem Priester einen Weg. Dieser erschöpfte sich in Danksagungen.

»Sie sind zu liebenswürdig. Es ist meine Schuld. Ich habe mich vergessen. Aber guter Gott! Wie werden wir's anfangen, um eben jetzt mit der Prozession durchzukommen?«

Diese Prozession beunruhigte auch Berthaud. Schon an gewöhnlichen Tagen brachte sie bei ihrem Vorüberziehen eine Krise wahnwitziger Schwärmerei zum Ausbruch, die ihn nötigte, besondere Maßregeln zu ergreifen. Was konnte sich nun nicht alles ereignen, wenn sie durch diese zusammengedrängte Masse von dreißigtausend Personen hindurchzog, die von einem solchen Glaubensfieber geschüttelt waren, daß sie jetzt schon daran waren, in göttliche Raserei zu verfallen? Er benutzte denn auch sehr verständig die Gelegenheit, um äußerste Vorsicht zu empfehlen.

»Ach, Herr Kurat«, begann er, »ich bitte Sie, sagen Sie doch gütigst den Herren vom Klerus, keinen Raum zwischen sich zu lassen, sondern dicht hintereinander zu marschieren. Und namentlich soll man die Fahnen festhalten, damit sie nicht umgeschlagen werden. Was Sie betrifft, Herr Kurat, so wachen Sie darüber, daß die Männer, die den Altarhimmel tragen, kräftig sind, und binden Sie das weiße leinene Tuch fest um den Knoten der Monstranz. Scheuen Sie sich nicht, sie mit beiden Händen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Kraft zu tragen.«

Ein wenig erschreckt durch diese Anordnungen, dankte der Priester fortwährend.

»Gewiß, gewiß! Sie sind sehr liebenswürdig. Wie erkenntlich bin ich Ihnen, daß Sie mir aus diesem Gedränge herausgeholfen haben.«

Als er sich endlich losgemacht hatte, beeilte er sich, die Basilika auf dem engen Weg zu erreichen, der in großen Windungen quer über den Hügel hinaufführt, während sein Gefährte im Gewühl verschwand, um seinen Wächterposten wieder einzunehmen.

Im gleichen Augenblick stieß Pierre, der Marie in ihrem kleinen Wagen herbeiführte, auf der andern Seite, auf dem Platz der Rosenkranzkirche, an die undurchdringliche Mauer der Volksmenge. Das Mädchen im Gasthof hatte ihn um drei Uhr geweckt, damit er das junge Mädchen im Hospital abhole. Es eilte nicht, und sie hatten hinlänglich Zeit, noch vor der Prozession zur Grotte zu kommen. Aber diese unermeßliche Menge, die wie eine Mauer Widerstand leistete und die er nirgends zu durchbrechen vermochte, begann ihn einigermaßen zu beunruhigen. Wenn die Leute nicht ein wenig gefällig waren, würde er mit dem von ihm gezogenen kleinen Wagen niemals durchkommen können.

»Bitte schön, meine Damen, ein wenig Platz zu machen! Sie sehen, ich führe eine Kranke!«

Aber die Damen rührten sich nicht von der Stelle, sie waren hypnotisiert durch den Anblick der in der Ferne lodernden Grotte und hoben sich auf den Fußspitzen in die Höhe, um nichts von dem Schauspiel zu verlieren. Übrigens war das Geschrei der Litanei in diesem Augenblick so stark, daß man die flehenden Worte des jungen Priesters nicht einmal hörte.

»Mein Herr! Treten Sie auf die Seite, und lassen Sie mich durch! Ein wenig Platz für eine Kranke! Bitte, hören Sie mich doch!«

Die Männer willigten aber ebensowenig darein, sich vom Platz zu rühren, wie die Frauen. Auch sie waren außer sich und im Zustand der Verzückung, der sie blind und taub machte.

Marie lächelte übrigens mit heiterer Miene, als ob sie nichts von dem Hindernis wüßte, sondern die Gewißheit hätte, daß nichts in der Welt sie hindern könnte, ihrer Genesung entgegenzugehen. Die Lage wurde jedoch schwieriger, als Pierre eine Lücke gefunden und sich in die bewegliche Flut gewagt hatte. Von allen Seiten schlug die wogende See gegen den kleinen, zerbrechlichen Wagen und drohte, ihn auf Augenblicke zu überschwemmen. Noch nie hatte Pierre eine solche Empfindung der Angst vor dem niederen Volke gefühlt. Es hatte nichts Drohendes an sich, sondern war von einer Einfalt und Trägheit, die an eine Herde erinnerte. Aber er empfand einen beunruhigenden Schauer, einen eigentümlichen Hauch, der aus dieser Menge aufstieg und ihn in Bestürzung versetzte. Trotz seiner Liebe zu den Niedrigen verursachten ihm die häßlichen, gemeinen, mit Schweiß bedeckten Gesichter, der schlechte Atem und die alten, nach Armut riechenden Kleider ein Unbehagen, das sich bis zur Übelkeit steigerte.

»Bitte, meine Damen, bitte, meine Herren! Es handelt sich um eine Kranke. Machen Sie ein wenig Platz, ich bitte Sie!«

Der von der Flut überschwemmte, in diesem weiten Meer hin und her geworfene Wagen setzte seinen Weg ruckweise fort und brauchte viele Minuten, um einige Meter vorwärts zu kommen. Einen Augenblick konnte man glauben, er sei verschlungen worden, denn man sah nichts mehr von ihm. Dann erschien er wieder und langte auf der Höhe der Weiher an. Eine zärtliche Teilnahme zeigte sich endlich für das junge, kranke, vom Leiden so verwüstete und doch noch so schöne Mädchen. Wenn die Leute dem unausgesetzten Drängen des Priesters hatten nachgeben müssen und sich nach ihm umwandten, dann wagten sie nicht, sich zu erzürnen. Sie wurden weich gestimmt durch den Anblick dieses mageren Schmerzensgesichts, das im Heiligenschein seiner blonden Haare leuchtete. Worte des Mitleids und der Bewunderung gingen von Mund zu Mund. Ach, das arme Kind! War es nicht grausam, in diesem Alter so krank zu sein? Möchte ihr doch die Heilige Jungfrau Huld erweisen! Andere wurden durch die Ekstase, in der sie das Mädchen sahen, und durch die hellen, dem Jenseits ihrer Hoffnung geöffneten Augen in Verwunderung und Erstaunen versetzt. Sie sah den Himmel, sie würde sicher geheilt werden. Der kleine Wagen ließ in der Flut, die er mit so viel Mühe zerteilte, gleichsam ein Kielwasser zurück, das aus Verwunderung und geschwisterlicher Barmherzigkeit bestand.

Pierre verzweifelte aber und war mit seinen Kräften zu Ende, als ihm Sänftenträger zu Hilfe kamen. Diese bemühten sich, für die Prozession einen Weg zu bahnen, und Berthaud hatte ihnen den Auftrag gegeben, den Weg mit Seilen zu schützen, die sie in Abständen von je zwei Meter festhielten. Von da an zog Pierre Marie ziemlich unbehindert weiter und trat endlich mit ihr in den für die Kranken vorbehaltenen Raum links von der Grotte, in dem sie stillstanden. Man konnte sich dort nicht bewegen, der Menschenwall schien von Minute zu Minute zu wachsen. Nach dem Durchzug, den er soeben mit außerordentlicher Mühe und mit zerschlagenen Gliedern bewerkstelligt hatte, erfaßte ihn angesichts des ungeheuren Zusammenströmens des Volks das Gefühl, als befände er sich mitten im Ozean, dessen Wellen er ohne Ruhe und Rast um sich herum hörte.

Seit ihrem Aufbruch vom Hospital hatte Marie die Lippen nicht geöffnet. Er begriff, daß sie mit ihm zu sprechen wünschte, und beugte sich zu ihr nieder.

»Ist mein Vater da?« fragte sie. »Ist er von seinem Ausflug nicht zurückgekommen?«

Er mußte ihr antworten, daß Herr von Guersaint noch nicht heimgekehrt sei, sondern sich ohne Zweifel gegen seinen Willen verspätet habe. Darauf begnügte sie sich, lächelnd hinzuzufügen:

»Ach, der gute Vater! Wie wird er erfreut sein, wenn er mich geheilt wiederfindet!«

Pierre betrachtete sie mit gerührter Bewunderung. Er erinnerte sich nicht, sie in der langsamen Zerstörung der Krankheit je so anbetungswürdig gesehen zu haben. Das kleiner und feiner gewordene Antlitz hatte einen träumerischen Ausdruck angenommen, die Augen waren in dem vertrauten Gedanken an ihr Leiden verloren, die Züge waren unbeweglich, als sei sie, von einer fixen Idee befangen, eingeschlafen und warte nun darauf, daß die Erschütterung des erhofften Glücks sie erwecke. Der Geist hatte sich gleichsam von ihr losgelöst, um in sie zurückzukehren, sobald Gott es wollte. Und dieses anmutige Kind, dieses kleine Mädchen von fünfundzwanzig Jahren war endlich so weit, den Besuch des Engels zu empfangen und die wunderbare Erschütterung zu erfahren, die es aus seiner Lähmung reißen und wieder auf die Beine stellen sollte. Die am Morgen eingetretene Ekstase Mariens dauerte noch an, sie hielt die Hände gefaltet, ein Aufschwung ihres ganzen Wesens hatte sie der Erde entrückt, seitdem sie das Bild der Heiligen Jungfrau gewahrte. Sie betete und brachte sich der Gottheit zum Opfer dar.

Für Pierre war das eine Stunde großer Beunruhigung. Er fühlte, daß sich das Drama seines Priesterlebens bald abspielen werde, daß sein Glaube sich nie wieder einstellen würde, wenn er ihn nicht in dieser Krise wiederfände. Er hatte keine bösen Gedanken, widerstandslos hegte auch er den glühenden Wunsch, zusammen mit Marie geheilt zu werden. Oh, daß er doch durch ihre Heilung überzeugt würde! Daß sie doch miteinander glauben könnten, miteinander gerettet würden! Er wollte beten wie sie, mit Inbrunst. Aber gegen seinen Willen beschäftigte seinen Geist die Volksmenge, diese endlose Masse, in der es ihn so viel Mühe kostete, sich aufzulösen, zu verschwinden und nur noch ein Blatt im Walde zu sein, das sich im Zittern aller Blätter verliert. Er konnte sich nicht enthalten, die Menge zu erforschen und zu beurteilen. Er wußte, daß sie seit vier Tagen willenlos fortgerissen wurde und unter dem Einfluß einer Suggestion stand: das Fieber der langen Reise, die durch den Anblick fremder Landschaften bewirkte Erregung, die vor der lodernden Grotte verlebten Tage, die schlaflosen Nächte und der erbitterte, nach Täuschung gierige Schmerz hatten diesen Bann hervorgerufen. Dazu kamen noch der Eindruck der beständigen Gebete, die Gesänge und die Litaneien, die sie ohne Unterlaß erschütterten. Auf den Pater Massias war ein anderer Priester gefolgt, und dieser kleine, magere und schwarze Mönch stieß Rufe zur Jungfrau und zu Jesus mit einer gleich Peitschenhieben einschneidenden Stimme aus, während Pater Massias und Pater Fourcade am Fuß der Kanzel stehenblieben und die Rufe der Menge leiteten, deren Wehklage im hellen Sonnenschein sich immer lauter erhob. Die Aufregung war noch gewachsen,, und die Stunde war herangekommen, zu der die dem Himmel angetane Gewalt die Wunder herbeiführte.

Auf einmal erhob sich eine Lahme und schritt, indem sie ihre Krücke in die Luft emporhielt, der Grotte zu! Diese gleich einer Fahne geschwenkte Krücke entlockte den Gläubigen Freudenrufe. Man lauerte auf die Wunder, man erwartete sie mit der Gewißheit, daß sie sich zahllos und in aufsehenerregender Weise vollziehen würden. Die Augen glaubten sie zu sehen, und fieberhaft erregte Stimmen kündigten sie an. Da war wieder eine geheilt! Und da noch eine! Und immer wieder eine andere! Eine Taube hörte, eine Stumme sprach wieder, eine Schwindsüchtige lebte wieder auf! Wie, eine Schwindsüchtige? Gewiß, das war ja etwas Alltägliches! Es war keine Überraschung mehr möglich. Ohne jemand in Erstaunen zu versetzen, hätte man erklären können, daß ein abgeschnittenes Bein wieder gewachsen sei. Das Wunder wurde zu etwas ganz Natürlichem, zu einem gewöhnlichen, und weil es sich so allgemein vollzog, zu einem abgedroschenen und bedeutungslosen Ding. Leuten von so überhitzter Einbildungskraft erschienen nach all dem, was sie von der Heiligen Jungfrau erwarteten, die unglaublichsten Geschichten ganz einfach. Man mußte die umlaufenden Geschichten, die mit unbedingter Gewißheit gegebenen, ruhigen Bestätigungen hören, sobald eine wahnwitzige Kranke schrie, daß sie geheilt sei. Wieder eine! Und noch eine! Jedoch erhob sich manchmal auch eine trostlose Stimme zu dem Ausruf: »Ach, die da ist geheilt! Die hat Glück!«

Pierre hatte schon im Büro der Beurkundungen unter der Leichtgläubigkeit der dort Anwesenden gelitten. Was aber hier sich abspielte, das ging über alles hinaus. Er geriet außer sich über die Ungereimtheiten, die er hörte und die so ruhig mit hellem, kindlichen Lächeln vorgetragen wurden. Deshalb versuchte er auch, auf andere Gedanken zu kommen und auf nichts mehr zu hören. »Mein Gott, laß doch meine Vernunft zunichte werden, ertöte in mir den Wunsch nach Erkenntnis und mache, daß das Unwahre und Unmögliche mir als wirklich und möglich erscheint!« Einen Augenblick meinte er, das Verlangen nach einer gründlichen Untersuchung dessen, was vorging, sei in ihm erstorben, und darum ließ auch er sich vom flehenden Ruf mit fortreißen: »Herr, heile unsere Kranken! ... Herr, heile unsere Kranken!« Er wiederholte ihn mit all seiner barmherzigen Liebe, er faltete die Hände und heftete die Blicke auf die Statue der Jungfrau, bis ihn ein Schwindel erfaßte und er sich einbildete, sie bewege sich. Warum sollte er denn nicht wieder zum Kind werden gleich den anderen, da doch das Glück in der Unwissenheit und im Trug besteht? Die Ansteckung würde wohl endlich wirken, und dann wäre auch er nur ein Sandkorn unter den Sandkörnern, ein Niedriger unter den Niedrigen, ohne sich um die Kräfte zu kümmern, die den Mühlstein in Bewegung setzen, der sie zerquetscht. Aber gerade in dieser Sekunde, da er hoffte, den alten Menschen in sich getötet und sich selbst mit seinem Willen und seiner Vernunft vernichtet zu haben – gerade in dieser Sekunde begann in der Tiefe seines Gehirns wieder die heimliche, unaufhörliche, unüberwindliche Gedankenarbeit. Nach und nach kehrte er trotz seiner Bemühungen zur Untersuchung dessen zurück, was vorging: er zweifelte und forschte. Welche unbekannte Kraft entwickelte sich aus dieser Menschenmenge und wurde zu einem genügend starken Lebensfluidum, um die verschiedenen Heilungsfälle, die sich tatsächlich vollzogen, zu bewirken? Man stand hier vor einer Erscheinung, die noch kein Gelehrter studiert hatte. Sollte man glauben, daß eine Menschenmenge zu einem einzigen Wesen wurde, das auf sich selbst die verzehnfachte Gewalt der Autosuggestion einwirken lassen konnte? Oder durfte man annehmen, daß eine Volksmenge in gewissen Fällen von höchster Schwärmerei zum Träger eines außergewöhnlichen Willens wurde und so die Materie zum Gehorsam zwang? Das wäre eine Erklärung dafür gewesen, daß die Fälle einer plötzlichen Heilung im Schoße der Menge gerade bei den Personen eintraten, die sich am aufrichtigsten ihrer seelischen Überspanntheit hingaben. Der Atem aller verband sich zu einem einzigen Atem, und die wirkende Kraft war eine Kraft des Trostes, der Hoffnung und des Lebens.

Dieser von barmherziger Liebe eingegebene Gedanke bewegte das Gemüt Pierres. Er konnte sich einen Augenblick wieder fassen und betete für die Genesung aller, ganz gerührt in dem Glauben, daß er damit ein wenig an Mariens Heilung mitarbeite. Aber plötzlich stieg eine Erinnerung in ihm auf, die Erinnerung an die ärztliche Beratung, die er vor der Abreise nach Lourdes über den Fall des jungen Mädchens gefordert hatte. Die Szene stellte sich genau und mit außerordentlicher Schärfe vor sein geistiges Auge. Er sah das Zimmer wieder mit den grauen, weiß geblümten Tapeten und hörte die drei Ärzte den Fall erörtern und entscheiden. Die zwei, die Zeugnisse ausgestellt und Rückenmarkslähmung festgestellt hatten, sprachen mit der verständigen Langsamkeit bekannter und geachteter Praktiker von vollkommener Ehrenhaftigkeit, während ihm noch die lebhaften und warmen Worte seines entfernten Vetters Beauclair im Ohre nachklangen. Dieser, ein junger Mann von weit ausschauendem, kühnen Verstand, war als dritter Arzt anwesend, und seine Kollegen behandelten ihn kühl, als abenteuerlichen Geist. Pierre war überrascht, jetzt in der letzten Minute in seinem Gedächtnis Dinge wiederzufinden, von denen er nicht wußte, daß sie sich dort befanden, und zwar infolge der eigentümlichen Erscheinung, daß kaum gehörte, schlecht verstandene und gleichsam gegen den eigenen Willen aufgespeicherte Worte nach langer Vergessenheit wieder erwachen, hervorbrechen und sich dem Geist aufdrängen. Es schien ihm, als ob das Näherrücken des Wunders die Bedingungen schaffe, unter denen es sich, wie ihm Beauclair angekündigt hatte, erfüllen würde.

Vergeblich mühte sich Pierre ab, diese Erinnerung dadurch zu verscheuchen, daß er mit verdoppeltem Eifer betete. Die Bilder entstanden aufs neue, die ehemals gehörten Worte erklangen wieder. Im Speisesaal war es, in dem Beauclair und er sich nach dem Weggang der zwei anderen Ärzte eingeschlossen hatten. Da entwarf ihm Beauclair die Geschichte der Krankheit: der Fall vom Pferd im Alter von vierzehn Jahren; eine dadurch herbeigeführte Verrenkung des erschütterten und auf die Seite geworfenen Organs; ohne Zweifel waren auch die Bänder zerrissen, daher die Schwere im Unterleib und in den Hüften, und die bis zur Lähmung gehende Schwäche der Beine. Dann sei eine langsame Wiederherstellung des Schadens eingetreten, indem das Organ seinen bestimmten Platz von selbst wieder einnahm, und die Risse der Bänder vernarbten. Die schmerzhaften Erscheinungen hätten aber bei dem großen nervösen Kind nicht verschwinden können, da das Gehirn sich nicht ohne weiteres von der Erinnerung zu befreien vermochte. Die Aufmerksamkeit der Kranken blieb auf den Punkt beschränkt, an dem sie litt, und dadurch wurde sie unbeweglich und unfähig, neue Vorstellungen zu erwerben. Auf diese Weise kam es, daß das Leiden selbst nach der eingetretenen Heilung noch fortbestand. Es war das ein neuropathischer Zustand und eine sich unmittelbar aus ihm ergebende nervöse Erschöpfung, die zweifellos durch noch wenig bekannte Vorfälle in der Ernährung verschlimmert wurde. Auch erklärte ihm Beauclair leicht die gegenteiligen und unrichtigen Diagnosen der zahlreichen Ärzte, die die Kranke behandelt hatten, ohne sich durchaus unerläßliche Besichtigung zu gestatten. Sie tappten deshalb im Finstern herum und die einen glaubten an eine Geschwulst, während die anderen, und zwar die meisten, von einer Verletzung des Marks überzeugt waren. Er allein hatte sich die Frage bezüglich einer erblichen Belastung der Kranken vorgelegt und vermutet, daß ein Zustand einfacher Autosuggestion vorliege, in dem sie sich unter der Erschütterung und der Heftigkeit des ersten Schmerzes starrsinnig erhalte. Er gab die Gründe für seine Vermutung an: das verengerte Gesichtsfeld, die stieren Augen, das in Gedanken verlorene und zerstreute Gesicht, vornehmlich aber die Natur des Leidens, das das Organ verlassen hatte, um sich gegen den linken Eierstock hinauf zu verziehen, wo es sich durch eine zermalmende, unerträgliche Last kundgab, die manchmal bis in den Hals emporstieg und dadurch entsetzliche Erstickungsanfälle verursachte. Nur der plötzliche feste Wille, sich von ihrer falschen Krankheitsvorstellung loszumachen, der Wille, aufzustehen, frei zu atmen und nicht mehr zu leiden, konnte sie wie unter dem Peitschenhieb einer großen Aufregung geheilt und verändert wieder auf die Füße bringen.

Zum letztenmal versuchte Pierre, nichts mehr zu sehen und zu hören. Aber trotz seiner Anstrengungen, trotz seiner Inbrunst, die er in den Ruf legte: »Jesus, du Sohn Davids, heile unsere Kranken!« sah er immer nur Beauclair und hörte ihn mit seiner ruhigen, lächelnden Miene auseinandersetzen, wie das Wunder in Erfüllung gehen werde. Im Augenblick der höchsten seelischen Erregung würde es sie wie ein Blitzstrahl erfassen. Die Kranke würde sich im Entzücken eines Freudendeliriums erheben und gehen. Ihre Beine würden plötzlich leicht und frei von der übermäßigen Schwere, die sie so lange wie Beine aus Blei niedergehalten, die Schwere selbst wäre gleichsam hinweggeschmolzen und in die Erde geflossen. Namentlich aber die Last, die den Unterleib zerdrückte, von dort aufstieg, die Brust verwüstete und den Hals würgte, würde dann in einem wunderbaren Aufflug, wie von einem Sturmwind fortgerissen, entweichen und die ganze Krankheit mit hinwegnehmen. Gaben im Mittelalter die Besessenen nicht genau so durch den Mund den Teufel von sich, durch den ihr jungfräuliches Fleisch lange Zeit gequält worden war? Und Beauclair hatte noch hinzugefügt, Maria würde endlich zur Frau werden. In ihrem zurückgebliebenen, durch einen so langen Leidenstraum gebrochenen, kindlichen Leib würde, wenn er beim Hosiannaruf erwache, das Blut der Mutterschaft zu quellen beginnen, es werde ihm mit einemmal die strahlende Gesundheit wiedergegeben sein, so daß das Auge lebhaft schimmern und das Antlitz glänzen würde.

Pierre betrachtete Marie, und als er sie so hinfällig in ihrem Wagen liegen sah, so ins tiefste Flehen versunken, während ihre Seele sich zu Unserer Lieben Frau von Lourdes emporschwang, die das Leben austeilte, da wurde seine Unruhe noch größer. Ach, daß sie doch gerettet würde, selbst um den Preis seiner eigenen Verdammnis! Aber sie war zu krank. Die Wissenschaft trog wie der Glaube, und er konnte nicht glauben, daß dieses Kind, dessen Beine seit so vielen Jahren erstorben waren, wieder aufleben sollte. Er verfiel in einen verwirrten Zweifel, und sein blutendes Herz schrie lauter, während es den unaufhörlichen Ruf der wahnwitzigen Menge wiederholte: »Herr! du Sohn Davids, heile unsere Kranken!« ... »Herr! du Sohn Davids, heile unsere Kranken!«

In diesem Augenblick entstand ein Tumult und brachte die Köpfe in Bewegung. Die Leute zitterten, die Gesichter kehrten sich alle der gleichen Richtung zu und streckten sich in die Höhe. Die an diesem Tag ein wenig verspätete Vieruhr-Prozession, deren Kreuz aus einem Bogengewölbe der monumentalen Rampe hervortrat, nahm ihren Anfang. Es entstand ein solches Freudengeschrei, ein so ungestümes Drängen, daß Berthaud den Sänftenträgern befahl, die Leute dadurch zurückzutreiben, daß sie kräftig an den Seilen zögen. Die Sänftenträger wurden einen Augenblick mit fortgerissen und mußten sich fest nach hinten lehnen. Endlich konnten sie den freigehaltenen Weg ein wenig erweitern und die Prozession konnte sich nun langsam vorwärts wagen. An ihrer Spitze schritt ein prächtiger, in Blau mit Silber gekleideter Schweizer, der das hohe, wie ein Stern strahlende Prozessionskreuz begleitete. Dann kamen die Abordnungen der verschiedenen Pilgerzüge mit ihren Fahnen. Es waren mit Gold- und Silber- sowie mit Seidenstickerei und gemalten Figuren geschmückte Standarten aus Samt und Atlas, die Namen von Städten trugen: Versailles, Reims, Orleans, Poitiers, Toulouse. Eine, ganz weiß und von reicher Pracht, trug in roten Buchstaben die Inschrift: »Wohltätigkeitsanstalt der katholischen Arbeitervereine«. Dann kam der Zug des Klerus, zwei- bis dreihundert Priester in einfacher Soutane. Etwa hundert trugen das Chorhemd und einige fünfzig goldene, wie Gestirne glänzende Meßgewänder. Alle hielten brennende Kerzen in der Hand und sangen mit voller Stimme das Laudate Sion Salvatorem. In königlicher Pracht kam dann der Altarhimmel aus purpurfarbener, mit goldenen Tressen versehener Seide. Er wurde von vier Priestern getragen, die man augenscheinlich unter den Kräftigsten ausgesucht hatte. Unter dem Altarhimmel trug der Abbé Judaine, der zwischen zwei Hilfspriestern daher schritt, das heilige Sakrament mit allen zehn Fingern, wie Berthaud ihm dies anempfohlen hatte. Die etwas unruhigen Blicke, die er rechts und links auf die herandrängende Menge warf, zeigten, daß er in Sorge war, ob er diese schwere göttliche Monstranz, die ihm jetzt schon heftige Schmerzen an den Handgelenken verursachte, glücklich ans Ziel bringen würde. Wenn die Sonne sie mit einem schrägen Strahl auf der Vorderseite traf, hätte man glauben können, eine zweite Sonne zu sehen. Chorknaben schwangen Rauchgefäße im blendenden Staub des hellen Lichts, das die ganze Prozession zu einer glänzenden Pracht gestaltete. Hinterher kam schließlich nur noch ein verworrener Strom von Pilgern, ein Herdengetrampel von entflammten Gläubigen und Neugierigen, die sich herumstießen und wie die Fluten hinter einem Schiffe durcheinander wirbelten.

Seit einem Augenblick hatte Pater Massias die Kanzel wieder bestiegen, diesmal hatte er eine andere Übung ausgedacht. Nachdem er verzehrende Rufe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ausgestoßen hatte, befahl er auf einmal, es sollten alle schweigen, damit jeder für sich, mit geschlossenen Lippen und im geheimen, zwei oder drei Minuten lang zu Gott sprechen könne. Diese augenblickliche Stille inmitten der großen Volksmasse, diese Minuten voll stummer Gelübde, während derer alle Seelen ihr geheimstes Innere öffneten, waren ergreifend und außerordentlich erhaben. Ihre Feierlichkeit hatte etwas Furchtbares an sich: man hörte den Flug der sehnsüchtigen Begierde, der unermeßlichen Sehnsucht nach dem Leben vorüberrauschen.

Hierauf lud Pater Massias die Kranken zum Sprechen ein. Sie sollten Gott inständig bitten, ihnen das zu gewähren, was sie von seiner Allmacht verlangten. Da fing ein jämmerliches Klagegeschrei an. Hunderte von meckernden und gebrochenen Stimmen erhoben sich zu einem schluchzenden Konzert. »Herr Jesus! Du kannst mich heilen, wenn du willst!... Herr Jesus! Hab Erbarmen mit deinem Kind, das vor Liebe stirbt!... Herr Jesus! Mache, daß ich sehe, mache, daß ich höre, mache, daß ich gehe!« Die durchdringende Stimme eines kleinen Mädchens übertönte, leicht und durchdringend wie Flötenklänge, das allgemeine Schluchzen, indem sie in der Ferne wiederholte: »Rette die anderen! Rette die anderen, Herr Jesus!« Tränen rannen aus allen Augen, denn diese flehenden Bitten rührten die Herzen und versetzten die härtesten in einen Taumel barmherziger Liebe, in eine erhabene Verwirrung, in der sie sich mit beiden Händen hätten die Brust öffnen mögen, um dem Nächsten die eigene Gesundheit und die eigene Jugend zu geben. Pater Massias ließ den Enthusiasmus nicht erkalten, sondern setzte seine Rufe fort, indem er die wahnwitzige Menge von neuem aufstachelte, während der Pater Fourcade auf einer Kanzelstufe stand, selber schluchzte und sein von Tränen überströmtes Gesicht zum Himmel erhob, um Gott zu befehlen, daß er herabsteige.

Nun aber kam die Prozession an. Die Abordnungen und die Priester hatten sich rechts und links in Reihen aufgestellt, und als der Altarhimmel in den für die Kranken vorbehaltenen abgesperrten Kreis vor der Grotte eintrat, und die letzteren das wie eine Sonne leuchtende heilige Sakrament, Jesum als Hostie, in den Händen des Abbé Judaine erblickten, da war keine Leitung mehr möglich: die Stimmen verwirrten sich und ein Schwindel riß alle Willenskräfte mit sich fort. Das Geschrei, die Anrufungen und Gebete gingen in Seufzern unter. Leiber erhoben sich von ihren elenden Schmerzensbetten, zitternde Arme streckten sich aus, und verschrumpfte Hände schienen das Wunder bei seinem Vorüberziehen festhalten zu wollen. »Herr Jesus! Rette uns, wir gehen zugrunde! ... Herr Jesus! Wir beten dich an, heile uns! ... Herr Jesus! Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, heile uns! ...« Dreimal stießen die Stimmen in äußerster Aufregung und Verzweiflung diesen höchsten Klageruf aus, mit einer Gewalt, die den Himmel erschüttern mußte. Die Tränen verdoppelten sich und überströmten die glühenden, von der Sehnsucht nach dem Heil verklärten Gesichter. Einen Augenblick wurde der Taumel so heftig und das instinktive Näherdrängen gegen das heilige Sakrament erschien so unwiderstehlich, daß Berthaud die in der Nähe befindlichen Sänftenträger eine Kette bilden ließ. Diese Maßnahmen wurden nur im äußersten Notfall ausgeführt, indem sich rechts und links vom Altarhimmel eine Reihe von Sänftenträgern aufstellte, von denen jeder einen Arm fest um den Nacken seines Nachbars schlang, derart, daß sie eine Art lebender Mauer bildeten. So war keine Lücke mehr vorhanden, und niemand konnte durchkommen. Aber trotzdem wankten diese menschlichen Schranken unter dem leidenschaftlichen Andrang, der nach dem Leben schmachtenden Unglücklichen, die Jesum berühren und küssen wollten. Sie schwankten und wurden gegen den Altarhimmel zurückgedrängt, den sie beschützten, und der Altarhimmel selbst trieb, fortwährend bedroht, wie eine heilige Barke umher, die in Gefahr steht, Schiffbruch zu leiden.

Als der fromme Wahnsinn auf seinem Höhepunkt angekommen war, brachen, wie wenn bei einem Gewitter der Himmel sich öffnet und der Blitz herabfällt, unter flehentlichen Gebeten und Schluchzen die Wunder los. Eine Gelähmte erhob sich und warf ihre Krücken fort. Es erscholl ein durchdringender Schrei, dann zeigte sich eine Frau, die, in eine weiße Decke wie in ein Leichentuch eingehüllt, aufrecht auf ihrer Matratze stand. Man sagte, es sei eine halbtote Schwindsüchtige, die wieder zum Leben auferstanden sei. Schlag auf Schlag vollzog sich dann noch zweimal ein Akt der Gnade: eine Blinde nahm in einer plötzlichen Flammenerscheinung die Grotte wahr, und eine Stumme fiel auf beide Knie nieder, indem sie der Heiligen Jungfrau mit lauter, heller Stimme Dank sagte. Auch alle anderen warfen sich, rasend vor Freude und Dankbarkeit, Unserer Lieben Frau von Lourdes zu Füßen.

Pierre hatte Marie nicht aus den Augen gelassen und wurde durch das, was er sah, tief gerührt und erschüttert. Die noch leeren Blicke der Kranken hatten sich erweitert, während ihr armes, blasses Gesicht mit dem schweren Ausdruck sich verzog, als ob sie schrecklich gelitten hätte. Sie sprach nichts, aber ohne Zweifel glaubte sie sich neuerdings vom Bösen ergriffen und schien deshalb hoffnungslos.

Da wurde sie plötzlich, als das heilige Sakrament vorüberzog und Marie es wie ein Gestirn im Sonnenschein glänzen sah, so geblendet, daß sie meinte, ein Blitz habe sie getroffen. An diesem Glanz entzündete sich das Feuer ihrer Augen, sie gewannen endlich wieder ihre Lebensflamme und schimmerten gleich Sternen. Ihr Antlitz belebte und rötete sich unter einer Flut frischer Kraft, die sie durchströmte, es strahlte von lachender Freude und Gesundheit. Dann sah der junge Priester, wie sie sich ungestüm in ihrem Wagen erhob und schwankend darin stehenblieb!

Er hatte sich rasch genähert, um sie zu halten. Aber sie gebot ihm mit einer Gebärde Einhalt, denn sie fühlte sich wieder kräftig und erschien sehr rührend und schön in ihrem Kleide von geringer schwarzer Wolle und in den Pantoffeln, die sie stets anbehielt. Sie stand da schlank und schmächtig und von einem goldenen Heiligenschein umgeben, den ihre bewunderungswürdigen, von einer einfachen Spitze bedeckten blonden Haare um sie woben. Ihr ganzer jungfräulicher Leib war die Beute tiefer Erschütterungen, als ob eine gewaltige Gärung ihn umgestaltete. Zuerst befreiten sich die Beine von den Ketten, die sie gefesselt hielten. Dann befiel die Kranke, während sie die Blutquelle, das Leben des Weibes, der Gattin und Mutter aus sich hervorsprudeln fühlte, eine letzte Beklemmung, denn eine ungeheure Last stieg ihr aus dem Unterleib in den Hals empor. Aber diesmal verflüchtigte sie sich in einem Aufschrei erhabener Freude.

»Ich bin geheilt! ... Ich bin geheilt! ...«

Darauf bot sich ein außerordentliches Schauspiel. Die Decke lag zu ihren Füßen, Marie triumphierte und zeigte ihr strahlendes, herrliches Angesicht. Und der Ruf, mit dem sie ihre Heilung verkündete, erweckte einen Widerhall von so trunkener Begeisterung, daß das ganze Volk außer sich geriet. Es vergaß alles und sah nur noch sie, wie sie größer geworden und strahlend wie eine göttliche Erscheinung dastand.

»Ich bin geheilt! ... Ich bin geheilt! ...«

Eine ungestüme Bewegung hatte Pierres Herz ergriffen. Er begann zu weinen. Mitten unter den Ausrufen, den Dankgebeten und Lobpreisungen gewann nach und nach ein Wahnsinnstaumel die Oberhand und versetzte die Tausende von Pilgern, die sich zerquetschten, um die Geheilte zu sehen, in einen Zustand unaussprechlicher Aufregung. Es entfesselte sich ein Beifallklatschen, das so wütend wurde, daß sein Donnerschall von einem Ende des Tales zum andern rollte.

Der Pater Fourcade fuchtelte mit den Armen herum und Pater Massias konnte sich endlich von der Höhe der Kanzel herab verständlich machen.

»Gott hat uns heimgesucht, meine lieben Brüder, meine teuren Schwestern! ... Magnificat anima mea Dominum ...«

Und alle Pilger, die Tausende von Pilgern stimmten den Gesang der Anbetung und des Dankes an. Die Prozession sah sich dadurch aufgehalten, und der Abbé Judaine, der mit der Monstranz die Grotte hatte erreichen können, wartete dort geduldig, ehe er den Segen austeilte.

Marie war schluchzend niedergekniet, und während der ganzen Zeit, die der Gesang in Anspruch nahm, stieg ein glühender Ausdruck des Glaubens und der Liebe aus ihrem Innern zu Gott empor. Aber das Volk wollte sie gehen sehen. Glückselige Frauen riefen ihr zu, ein Schwarm, der sie beinahe mit sich fortriß, umringte sie und drängte sie nach dem Büro der Beurkundungen, damit das Wunder, das gleich dem Licht der Sonne glänzte, festgestellt würde. Ihren kleinen Wagen ließ man stehen. Pierre begleitete sie, während sie, die seit sieben Jahren ihre Beine nicht mehr gebraucht hatte, stammelnd und zaudernd, liebenswürdig ungeschickt und mit der besorgten und doch entzückten Miene eines kleinen Kindes, das seine ersten Schritte macht, dahinwandelte. Das war so rührend und lieblich, daß er an nichts mehr dachte als an das unermeßliche Glück, sie zu einer neuen Jugend wiedergeboren zu sehen. Ach, die teure Freundin seiner Kindheit, die zärtliche Gefährtin längst entschwundener Tage! Endlich würde sie also zum schönen und reizenden Weibe aufblühen!

Die Menge fuhr fort, ihr stürmisch zuzujauchzen, eine ungeheure Menschenmenge staute sich und begleitete sie. Und als sie ins Büro, in das Pierre allein mit ihr zugelassen wurde, eingetreten war, da blieben alle in fieberhafter Erwartung vor der Tür stehen.

Im Büro der Beurkundungen waren an diesem Nachmittag wenig Leute. Der kleine viereckige Saal mit seinen glühend heißen Holzwänden, seinen einfachen Möbeln, den Strohsesseln und den zwei Tischen von ungleicher Höhe war außer von dem gewöhnlichen Personal nur von fünf oder sechs Ärzten besetzt, die schweigend herumsaßen. Vor den Tischen standen der Vorsteher des Weiherdienstes und zwei junge Abbés, die Register in den Händen hielten und in Aktenheften blätterten, während der Pater Dargeles an einem Tischende saß und Notizen für seine Zeitung schrieb. Doktor Bonamy war gerade dabei, den Lupus der Elise Rouquet zu untersuchen, die sich zum drittenmal vorgestellt hatte, um die fortschreitende Vernarbung ihrer Wunde bestätigen zu lassen.

»Nun, meine Herren!« rief der Doktor, »haben Sie jemals gesehen, daß sich ein Lupus in dieser Weise und so rasch besserte? ... Ich weiß wohl, daß ein neues Werk über den heilenden Glauben erschienen ist. Darin wird gesagt, daß gewisse Wunden einen nervösen Ursprung haben können. Aber nichts ist weniger bewiesen als das, namentlich bei einem Fall von Lupus, und es soll nur einmal eine ärztliche Kommission zusammentreten und sich darüber einigen, wie sie die Heilung des Fräuleins auf gewöhnlichem Wege erklärt ...«

Er unterbrach seine Rede und wandte sich an den Pater Dargeles.

»Sie haben doch notiert, Pater, daß die Eiterung vollständig verschwunden ist und daß die Haut ihre natürliche Farbe wieder annimmt?«

Aber er wartete die Antwort nicht ab, denn von Pierre begleitet, trat Marie ein, und beim strahlenden Anblick der durch ein Wunder Geheilten ahnte er sogleich den Glücksfall, der sich ihm bot. Sie war bewunderungswürdig und ganz dazu geschaffen, um die Massen hinzureißen und zu bekehren. Eilig schickte er Elise Rouquet fort, fragte nach dem Namen der Neuangekommenen und erbat von einem der jungen Priester deren Akten. Dann wollte er sie, da sie taumelte, in den Armstuhl niedersetzen.

»Nein, nein!« rief sie; »ich bin so glücklich, mich meiner Beine bedienen zu können!«

Pierre hatte Doktor Chassaigne mit den Blicken gesucht und war tief betrübt, ihn nicht hier zu finden. Er hielt sich abseits und wartete auf ihn, während die in Unordnung befindlichen Schubladen nach dem Aktenheft durchwühlt wurden, ohne daß man die Hand darauf legen konnte.

»Wartet einmal«, wiederholte Doktor Bonamy, »Marie von Guersaint ... Marie von Guersaint ... Ich habe diesen Namen sicher irgendwo gesehen.«

Raboin entdeckte schließlich das unter einem falschen Buchstaben des Alphabets abgelegte Aktenheft. Als der Doktor Kenntnis von den zwei Zeugnissen genommen hatte, die es enthielt, geriet er in Eifer.

»Das, meine Herren«, rief er, »ist nun sehr interessant. Ich bitte Sie, aufmerksam zuzuhören ... Das Fräulein, das Sie hier aufrecht stehen sehen, litt an einer sehr schweren Verletzung des Rückenmarks. Hätte jemand den geringsten Zweifel darüber, so würden diese zwei Zeugnisse genügen, auch die Ungläubigsten zu überzeugen, denn sie sind von zwei Ärzten der Pariser Fakultät unterzeichnet, deren Namen allen unseren Kollegen bekannt sind.«

Er ließ die Zeugnisse den anwesenden Ärzten einhändigen, die sie mit leichtem Kopfnicken lasen. Da gab es nichts abzuleugnen, die Unterzeichner besaßen den Ruf von ehrenhaften und gewandten Praktikern. »Nun gut, meine Herren, wenn die Diagnose nicht bestritten wird – und sie kann nicht bestritten werden, sobald uns eine Kranke Urkunden von solchem Wert herbeibringt –, dann werden wir jetzt prüfen, welche Änderungen sich im Zustand des Fräuleins vollzogen haben.«

Aber er besann sich und richtete, ehe er die Geheilte befragte, das Wort an Pierre:

»Herr Abbé«, sagte er, »Sie sind, wie ich glaube, mit Fräulein von Guersaint von Paris hierhergekommen. Haben Sie vor der Abreise mit den Ärzten gesprochen?«

»Ich habe der Beratung beigewohnt.«

Und die Szene tauchte wiederum vor ihm auf. Er sah die zwei ernsten und verständigen Ärzte wieder und erblickte auch Beauclair, der lächelte, während seine Kollegen ihre gleichlautenden Zeugnisse verfaßten. Sollte er sie entwerten, indem er die andere Diagnose bekanntgab, die die Heilung auf wissenschaftlichem Wege zu erklären gestattete? Das Wunder war vorhergesagt und dadurch im voraus zerstört worden.

»Sie werden bemerken, meine Herren«, fuhr Doktor Bonamy fort, »daß die Anwesenheit des Herrn Abbé diesen Urkunden eine neue Beweiskraft verleiht ... Das Fräulein wird uns nun recht genau sagen, was es empfunden hat.«

Er beugte sich über die Schulter des Pater Dargelès und empfahl ihm, nicht zu vergessen, daß er Pierre in der Erklärung eine Zeugenrolle anweise.

»Mein Gott! Wie soll ich Ihnen das sagen, meine Herren?« rief Marie außer Atem, mit vor Glück erstickter Stimme. »Ich hatte seit gestern die Gewißheit, daß ich geheilt würde. Trotzdem fürchtete ich noch in dieser Stunde, als meine Beine von einem Prickeln ergriffen wurden, es möchte eine neue Krise eintreten. Ich zweifelte einen Augenblick ... da hörte das Prickeln auf. Sobald ich mich wieder ins Gebet versenkt hatte, begann es aufs neue ... Oh, ich betete und betete von ganzer Seele! Ich gab mich schließlich hin wie ein Kind. ›Heilige Jungfrau! Unsere Liebe Frau von Lourdes, mach mit mir, was du willst!‹ ... Das Prickeln ließ nicht mehr nach, mein Blut schien zu kochen, und eine Stimme rief mir zu: ›Steh auf! Steh auf!‹ Ich empfand das Wunder in einem lauten Krachen aller meiner Knochen an meinem Körper, wie wenn ich vom Blitz getroffen worden wäre.«

Pierre hörte ganz blaß zu. Beauclair hatte ihm deutlich gesagt, daß die Heilung wie ein Blitzstrahl eintreten würde, wenn unter dem wirksamen Einfluß der überreizten Einbildungskraft ein jähes Erwachen des seit so langer Zeit eingeschläferten Willens sich in ihr vollzöge.

»Zuerst hat die Heilige Jungfrau meine Beine von ihren Fesseln befreit«, fuhr sie fort. »Ich hatte die ganz deutliche Empfindung, daß die eisernen Bande, die sie umschlangen, längs der Haut hinabglitten gleich zerbrochenen Ketten ... Dann stieg die Last, die mich da, in der linken Seite, stets bis zum Ersticken beklemmte, in die Höhe und sie drückte mich derart, daß ich glaubte, ich stürbe. Aber sie stieg immer höher, über meine Brust und meinen Hals hinaus, ich hatte sie im Mund und spie sie mit ungestümer Gewalt von mir ... Damit war es zu Ende. Ich hatte kein Leiden mehr, es war wie davongeflogen!«

Raboin hatte die Erzählung mit verwunderten Augen und der Verzückung eines Frommen von beschränktem Geist vernommen, der oft vom Gedanken an die Hölle heimgesucht wird.

»Den Teufel hat sie ausgespien«, rief er, »den Teufel!«

Der verständigere Doktor Bonamy legte ihm aber Schweigen auf und sagte, sich an die Ärzte wendend:

»Meine Herren! Sie wissen, daß wir es stets vermeiden, hier das große Wort ›Wunder‹ auszusprechen. Aber wir haben da eine Tatsache vor uns, und ich bin neugierig zu erfahren, wie Sie sie auf natürlichem Wege erklären wollen ... Das Fräulein war sieben Jahre lang von einer schweren Lähmung befallen, die augenscheinlich durch eine Verletzung des Marks verursacht worden war. Die Kranke konnte weder gehen noch sonst eine Bewegung machen, ohne in Wehklagen auszubrechen. Sie war bei jener äußersten Erschöpfung angelangt, die kurz vor dem schlimmen Ausgang einer Krankheit einzutreten pflegt... Da sehen Sie sie mit einemmal aufstehen, umhergehen, lachen und strahlen. Die Lähmung ist vollständig verschwunden, und nicht der geringste Schmerz ist zurückgeblieben. Sie befindet sich gerade so wohl wie Sie und ich... Nun denn, meine Herren! Treten Sie näher, untersuchen Sie sie und sagen Sie mir, was vorgegangen ist!«

Er triumphierte. Keiner von den Ärzten ergriff das Wort. Zwei davon stimmten ihm mit einem kräftigen Kopfnicken zu. Sie waren ohne Zweifel gläubige Katholiken. Die anderen blieben unbeweglich und zeigten eine verlegene Miene, da sie wenig Lust hatten, sich in diese Geschichte einzulassen. Trotzdem erhob sich endlich ein kleiner, magerer Herr, dessen Augen hinter Brillengläsern leuchteten, um Marie etwas mehr in der Nähe zu sehen. Er ergriff ihre Hände, betrachtete ihre Augensterne und schien sich nur mit dem Ausdruck der Verklärung, den die Kranke ausstrahlte, zu beschäftigen. Dann kehrte er, ohne den Fall selbst erörtern zu wollen, sehr höflich zu seinem Sitz zurück.

»Der Fall entschlüpft der Wissenschaft, das ist alles, was ich feststelle«, schloß Doktor Bonamy. »Ich füge hinzu, daß hier keine allmählich fortschreitende Besserung vorliegt, die Gesundheit hat sich vielmehr voll und ganz auf einmal wiederhergestellt... Sehen Sie das Fräulein an. Der Blick glänzt, die Gesichtsfarbe ist rosig, der Ausdruck hat seine lebhafte Heiterkeit wiedergefunden. Die Wiederherstellung der Gewebe wird ohne Zweifel etwas langsam ihren Fortgang nehmen, aber schon jetzt kann man sagen, daß das Fräulein zu einem neuen Leben wiedergeboren wurde... Nicht wahr, Herr Abbé, Sie kennen sie nicht wieder?«

Pierre antwortete verwirrt:

»Das ist wahr... das ist wahr...«

In der Tat erschien sie ihm schon kräftig, die Wangen waren voll und frisch und von freudiger Blüte. Aber wiederum mußte er sich sagen, daß Beauclair diese Wiederaufrichtung und glänzende Wiederherstellung des ganzen gebrochenen Leibes vorausgesehen und für den Zeitpunkt vorausgesagt hatte, in dem das Leben in den Körper zurückkehrte und mit ihm der feste Wille zu genesen und glücklich zu werden.

Doktor Bonamy hatte sich wieder über die Schulter des Paters Dargelès gebeugt, der seine Notiz, die ein vollständiges kleines Protokoll bildete, fertig schrieb. Beide tauschten einige halblaute Worte aus. Sie berieten sich und der Doktor fuhr endlich fort:

»Herr Abbé! Sie waren dabei, als sich diese Wunderdinge ereigneten und werden es uns nicht abschlagen, den ganz genauen Bericht, den der ehrwürdige Pater für das ›Journal de la Grotte‹ verfaßt hat, mit Ihrer Unterschrift zu versehen.«

Er sollte diesen Bericht voll Irrtum und Trug unterzeichnen! Empörung stieg in ihm auf, und er stand auf dem Punkt, die Wahrheit laut zu bekennen. Aber er spürte auf seinen Schultern die Last der Soutane, und namentlich erfüllte die göttliche Freude Mariens sein Herz. Er fühlte sich von einem so großen Glück durchdrungen, sie gerettet zu sehen! Seitdem man sie nicht mehr befragte, hatte sie sich auf seinen Arm gestützt und lächelte ihm mit freudetrunkenen Augen zu.

»Pierre!« sagte sie ganz leise, »danken Sie der Heiligen Jungfrau. Sie ist so gütig gewesen. Jetzt bin ich gesund und jung! ... Und mein Vater, mein armer Vater, wie wird der sich freuen!«

Da unterzeichnete Pierre. In seinem Innern stürzte alles in Trümmer, aber es genügte, daß sie gerettet war. Er würde es für einen Gottesraub angesehen haben, wenn er an dem Glauben dieses Kindes, dem reinen, erhabenen Glauben gerüttelt hätte, der seine Genesung bewirkt hatte.

Als Marie draußen wieder erschien, begann das Freudengeschrei aufs neue, das Volk klatschte in die Hände. Das Wunder schien jetzt amtlich bestätigt zu sein. Dennoch hatten mitleidige Personen, die fürchteten, sie könnte ermüden und ihren vor der Grotte zurückgelassenen Wagens brauchen, diesen bis vor das Büro der Beurkundungen geschoben. Als sie ihn wiederfand, wurde sie von einer tiefen Bewegung ergriffen. Ach, dieser kleine Wagen, in dem sie so viele Jahre verlebt hatte! Dieser rollende Sarg, in dem sie sich bisweilen lebend begraben wähnte! Wie viele Tränen, wieviel Verzweiflung und wie viele schlimme Tage hatte er gesehen! Da kam ihr auf einmal der Gedanke, auch er müsse, da er so lange ihre Mühsal einschloß, nun an ihrem Triumph teilnehmen. Eine göttliche Eingebung kam über sie wie ein heiliger Wahn und ließ sie die Deichsel erfassen.

In diesem Augenblick zog die Prozession vorüber, sie kam von der Grotte zurück, wo der Abbé Judaine den Segen erteilt hatte. Da nahm Marie, ihren Wagen ziehend, den Platz hinter dem Altarhimmel ein. In Pantoffeln, den Kopf mit einer Spitze bedeckt, schritt sie im Zuge mit, und mit hoch erhobenem, herrlichen, leuchtenden Antlitz zog sie den kleinen Wagen des Elends hinter sich her, den rollenden Sarg, in dem sie in Todesnot gelegen hatte. Und die jubelnde Menge, das wahnwitzige Volk folgte ihr.


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