Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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III

Sobald die Nacht niedergesunken war, wurde Marie im Hospital Notre-Dame des Douleurs von Ungeduld ergriffen. Sie wußte nämlich von Frau von Jonquière, daß der Baron Suire vom Pater Fourcade für sie die Ermächtigung erhalten hatte, die Nacht vor der Grotte zuzubringen. Jede Minute drang sie mit Fragen in Schwester Hyacinthe.

»Liebe Schwester! Ich bitte Sie, ist es noch nicht neun Uhr?«

»Nein, mein Kind! Es ist kaum achteinhalb Uhr. Und sehen Sie, hier bringe ich einen guten Wollschal, in den Sie sich bei Tagesanbruch einwickeln können. Denn der Gave ist ganz nahe und die Morgenstunden sind frisch in diesem Berglande.«

»O liebe Schwester! Die Nächte sind so schön! Und dann schlafe ich so wenig in diesem Saal! Ich kann mich draußen wirklich nicht schlechter fühlen. Mein Gott, wie bin ich glücklich! Wie herrlich, die ganze Nacht mit der Heiligen Jungfrau zuzubringen.

Der ganze Saal war eifersüchtig auf sie. War es doch eine unaussprechliche Freude, die höchste Glückseligkeit, eine ganze Nacht vor der Grotte beten zu dürfen. Man sagte, die Auserwählten sähen im tiefen Frieden der Finsternis die Jungfrau. Aber es bedurfte hoher Beschützer, um eine solche Gunst zu erlangen. Die Patres erteilten sie nur noch ungern, seitdem mehrere Kranke gestorben waren, wie wenn sie in ihrer Verzückung hinübergeschlummert wären.

»Nicht wahr, mein Kind«, fuhr Schwester Hyacinthe fort, »Sie werden morgen früh, ehe man Sie zurückbringt, in der Grotte kommunizieren?«

Es schlug neun Uhr. Sollte Pierre, der so pünktlich, war, sie vergessen haben? Man sprach jetzt von der Fackelprozession, die sie vom Anfang bis zum Ende sehen würde, wenn sie sofort aufbräche. Die Zeremonien endigten jeden Abend mit einer ähnlichen Prozession, aber die vom Sonntag war stets die schönste, und man kündigte an, die Prozession des heutigen Abends würde sich außerordentlich glänzend entfalten, wie man es nur selten sähe. Gegen dreißigtausend Pilger mit brennenden Kerzen in der Hand sollten mitziehen, die Wunder des nächtlichen Himmels sich öffnen und die Sterne auf die Erde fallen. Die Kranken klagten darüber, wie traurig es sei, ans Bett gefesselt zu sein und nichts von diesen Wunderdingen sehen zu dürfen.

»Mein liebes Kind!« sagte Frau von Jonquière, »hier sind Ihr Vater und der Herr Abbé.«

Marie strahlte vor Freude und vergaß, daß man sie hatte warten lassen.

»Pierre«, sagte sie, »ich bitte Sie inständig, lassen Sie uns rasch aufbrechen!«

Die Männer trugen sie hinunter, und der Priester zog den kleinen, unter dem sternbesäten Himmel sanft dahinrollenden Wagen, während Herr von Guersaint an dessen Seite schritt. Es war eine mondlose, bewunderungswürdig schöne Nacht, der Himmel, wie aus dunkelblauem, mit Diamanten bestickten Samt, und die köstlich milde Luft ein laues, vom Wohlgeruch der Berge balsamisch durchduftetes, reines Bad. Viele Pilger, die alle den Weg nach der Grotte einschlugen, drängten sich in die Straße, aber die Menge war schweigsam. Es war eine Flut innerlich gesammelter Menschen, die nichts mehr von dem Jahrmarktstreiben des Tages an sich hatten. Vom Plateau de la Merlasse an dehnte sich die Finsternis aus, unter dem unermeßlichen Himmelsgewölbe flutete es auf den Rasenplätzen und unter den hohen Bäumen wie ein Meer von Schatten, aus dem man nichts emportauchen sah, als links die schmale und schwarze Spitze des Basilikakirchturms.

Pierre wurde von Unruhe ergriffen angesichts der Menschenmenge, die um so dichter wurde, je weiter man vorwärts rückte. Schon auf dem Platz der Rosenkranzkirche kam man nur mit Mühe vorwärts.

»Wir können nicht bis zur Grotte kommen«, sagte er und blieb stehen. »Das beste wäre, eine Allee hinter der ›Zuflucht der Pilger‹ zu erreichen und zu warten.«

Aber Marie wünschte lebhaft, den ersten Aufbruch der Prozession zu sehen.

»Ich bitte, lieber Freund, versuchen Sie bis an den Gave zu gelangen. Ich will von weitem zuschauen, ich will ja gar nicht nahe heran.«

Auch Herr von Guersaint war neugierig und drang darauf.

»Haben Sie keine Angst«, sagte er, »ich gehe hinter Ihnen und gebe darauf acht, daß niemand sie anstößt.«

Pierre mußte sich fügen und den Wagen weiter ziehen. Er bedurfte einer Viertelstunde, ehe er einen Brückenbogen der rechten Rampe erreichen konnte, so sehr drängte sich dort die Menge. Dann schlug er eine etwas schräge Richtung ein und befand sich endlich auf dem Quai, am Ufer des Gave. Dort besetzten fast nur Zuschauer den Bürgersteig, und er konnte noch etwa fünfzig Meter vorwärts kommen. Dann hielt er den Wagen gegenüber der Brüstung an, von der aus man die Grotte gut beobachten konnte.

»Ist es so recht?« fragte er.

»O ja, ich danke! Nur sollte man mich zum Sitzen in die Höhe richten, ich sehe dann besser!«

Herr von Guersaint richtete sie auf und stieg dann selber auf die Steinbank, die sich auf dem Quai von einem Ende zum andern hinzieht. Ein Getümmel von Neugierigen ballte sich dort zusammen, wie an Abenden, an denen ein Feuerwerk abgebrannt wird. Alle reckten sich und streckten die Hälse in die Höhe. Selbst Pierre fühlte sich gefesselt, obgleich man noch nicht viel sah.

Es waren dreißigtausend Personen anwesend, und noch immer strömten Menschen hinzu. Alle trugen eine Kerze in der Hand. Jede Kerze war in eine Art Tüte aus weißem Papier eingewickelt, auf dem man in blauer Farbe eine gedruckte Abbildung Unserer Lieben Frau von Lourdes sah. Aber diese Kerzen waren noch nicht angezündet. Über die wogende See der Menschenköpfe hinweg bemerkte man nur die im Lichterglanz brennende Grotte, die den Schein eines glühenden Hammerwerks ausstrahlte. Ein großes Summen erhob sich, es wurden Seufzer laut, die daran erinnerten, daß Tausende von eng aneinander gedrängten, atemlosen Geschöpfen da waren, die sich in der Tiefe des Schattens verloren und wie ein lebendiger, sich ausbreitender Wasserspiegel ohne Aufhören hin und zurück flössen. Überall befanden sich Leute, unter den Bäumen jenseits der Grotte und in den Tiefen der Finsternis, die man gar nicht ahnte.

Die Feierlichkeit begann endlich. Da und dort leuchteten jetzt einige Kerzen. Es war, als ob plötzlich auftauchende Feuerfunken die Dunkelheit aufs Geratewohl durchbrachen. Ihre Zahl vermehrte sich rasch, es bildeten sich kleine Inseln von Sternen, während es an anderen Punkten zu Streifen und Milchstraßen kam, die inmitten der Sternbilder dahinflossen. Das waren die dreißigtausend Kerzen, die sich allmählich aneinander entzündeten, den lebhaften Glanz der Grotte verdunkelten und von einem Ende der Promenade bis zum andern die kleinen gelben Flammen glühender Kohlen wälzten.

Marie flüsterte:

»Pierre, wie ist das schön! Man möchte sagen, es sei die Auferstehung der Demütigen, der kleinen, armen Seelen, die wieder erwachen und leuchten!«

»Herrlich, herrlich!« rief Herr von Guersaint begeistert. »Seht dort drüben die zwei Streifen, die sich schneiden und ein Kreuz bilden!«

Pierre war gerührt von dem, was Marie soeben gesagt hatte. Ja, so war es: diese schwachen Flammen und mattleuchtenden Punkte stellten die Bescheidenheit eines demütigen Volkes dar. Ihre große Zahl machte den Glanz aus und bildete einen Widerschein der Sonne. Ununterbrochen kamen neue zum Vorschein, in größerer Entfernung und wie verirrt.

»Ach!« flüsterte er, »das Flämmchen dort, das ganz allein auftauchte, weit weg und so zitternd ... Sehen Sie, Marie, wie es schwimmt und wie es langsam näherkommt, um sich in dem großen Feuersee zu verlieren?«

Man sah jetzt so deutlich wie am hellen Tage. Die von unten her beleuchteten Bäume zeigten ein grünes Laub, ähnlich den gemalten Bäumen auf Kulissen. Über dem beweglichen Glutbecken schwebten unbewegliche Kirchenfahnen, sie waren erkennbar an ihren heiligen Stickereien und seidenen Schnüren. Und der helle Widerschein stieg den Felsen entlang bis zur Basilika empor, deren Turmspitze jetzt am schwarzen Himmel ganz weiß erschien, während auf der andern Seite des Gave sich die Hügel ebenfalls erhellten und inmitten ihres düstern Laubwerks die hellen Fassaden der Klöster zeigten.

Es trat noch ein Augenblick der Unschlüssigkeit ein. In dem flammenden See, in dem jeder brennende Docht eine kleine Welle darstellte, wogte das Sterngefunkel. Es schien beinahe, als wolle er ausbrechen, um sich in einen Strom zu ergießen. Dann flatterten die Fahnen hin und her, und eine Bewegung entstand.

»Da!« rief Herr von Guersaint; »sie kommen also nicht hier vorbei?«

Pierre, der Bescheid wußte, erklärte ihm hierauf, daß die Prozession zuerst den mit großen Kosten über den bewaldeten Hügel hergestellten gewundenen Weg hinansteigen würde. Sie würde sodann hinter der Basilika umkehren, bevor sie über die Rampe zur Rechten herabkäme und durch die Gärten hindurch weiterzöge.

»Sehen Sie! Man sieht bereits die ersten unter dem Laubwerk emporsteigenden Kerzen.«

Es war bezaubernd schön. Kleine, zitternde Lichtchen lösten sich ab vom weiten, feurigen Herd und hoben sich in sanftem Flug langsam in die Höhe, ohne daß man irgend etwas unterscheiden konnte, was sie auf der Erde festhielt. Es bewegte sich in der Finsternis wie Sonnenfäden. Bald gestaltete es sich zu einer schrägen Linie, dann bog sich die Linie plötzlich um einen Winkel, und es entstand eine neue Linie, die sich dann wieder krümmte. Schließlich war der ganze Hügel von einem flammenden Zickzack durchfurcht, ähnlich jenen Blitzen, die man auf Bildern aus einem schwarzen Himmel zucken sieht. Aber die leuchtende Spur verlöschte nicht, die kleinen Lichtchen glitten stets in der nämlichen sanften und mäßigen Bewegung dahin. Nur hin und wieder, wenn die Prozession hinter einer Baumgruppe vorüberziehen mußte, entstand eine plötzliche Verfinsterung der schimmernden Sternchen. Weiter entfernt tauchten dann die brennenden Kerzen wieder auf und erhoben sich zum Himmel auf einem gewundenen, unaufhörlich unterbrochenen und wieder aufgenommenen Weg. Dann kam der Augenblick, da sie nicht weiter aufwärts stiegen: sie waren auf der Höhe des Hügels angekommen und verschwanden bei einer letzten Biegung des Weges.

In der Menge wurden Stimmen laut.

»Jetzt kehren sie hinter der Basilika um!«

»Oh, sie brauchen noch zwanzig Minuten, bis sie auf der andern Seite herunterkommen!«

»Ja! Es sind dreißigtausend, und die letzten werden kaum vor einer Stunde von der Grotte wegziehen!«

Schon als die Prozession sich in Bewegung setzte, hatte sich aus dem dumpfen Gemurmel der Menschenmenge ein Kirchengesang entwickelt, nämlich das Klagelied der Bernadette, aus sechsmal zehn Strophen bestehend, in deren Kehrreim der englische Gruß in qualvollem Rhythmus wiederkehrte. Wenn die sechzig Strophen beendigt waren, wurde wieder von vorne angefangen, und so ertönte unaufhörlich und schaukelnd das »Ave, ave, ave Maria!« Es betäubte den Geist, zerschlug die Glieder und entrückte alle Wesen nach und nach in eine Art wachen Schlafes, zu einer völligen Vision des Paradieses. Wenn sie nachts schliefen, war es, als ob das Bett die schaukelnde Bewegung angenommen hätte, und noch im Schlafe sangen sie.

»Bleiben wir hier?« fragte Herr von Guersaint, der rasch müde wurde. »Jetzt ist es immer dasselbe.«

Marie, der die in der Menge gesprochenen Worte Auskunft gaben, sagte:

»Sie hatten recht, Pierre! Es wäre besser, wenn wir da hinab unter die Bäume zurückkehrten. Ich möchte so gerne alles sehen!«

»Gewiß!« antwortete der Priester; »wir wollen uns einen Platz suchen, von dem aus Sie alles sehen können. Es ist nur schwierig, uns jetzt hier aus dem Gedränge zu winden.«

In der Tat hatte die Masse der Neugierigen eine Mauer um sie gezogen. Pierre mußte sich langsam und mit Beharrlichkeit einen Weg bahnen, indem er um ein wenig Platz für die Kranke bat. Marie wandte sich zurück und versuchte, noch einmal den flammenden Wasserspiegel vor der Grotte zu sehen, den aus kleinen glitzernden Wellen gebildeten See, von dem die unendliche Prozession ausging, ohne daß er sich zu verringern schien. Herr von Guersaint beschloß den Zug und schützte drei Wagen vor Stößen.

Endlich befanden sich alle drei außerhalb der Menge. Nahe bei einer Bogenwölbung, an einer ganz menschenleeren Stelle, konnten sie einen Augenblick aufatmen. Dort hörte man nur noch den fernen Klagegesang mit seinem hartnäckigen Kehrreim, und man sah nur den Widerschein der Kerzen in Form einer leuchtenden Wolke, die auf der Seite schwebte, auf der sich die Basilika befand.

»Man würde den besten Platz haben, wenn man auf den Kalvarienberg stiege«, erklärte Herr von Guersaint. »Das Dienstmädchen im Hotel hat mir das noch heute morgen gesagt. Von da oben muß, der Anblick feenhaft schön sein.«

Aber man durfte nicht daran denken. Pierre betonte nachdrücklich die Schwierigkeiten.

»Wie wollen Sie uns mit dem Wagen auf diese Höhe hinaufbringen? Dann muß man auch an den Abstieg denken, der in dunkler Nacht und mitten im Gedränge sehr gefährlich wäre.«

Marie selbst zog vor, in den Gärten und unter den Bäumen zu bleiben, wo es so angenehm war. Deshalb kehrten sie zurück und traten der großen gekrönten Jungfrau gegenüber auf die Esplanade hinaus. Die Bildsäule war durch farbige Gläser beleuchtet, die sie im Heiligenschein blauer und gelber Lämpchen in eine Jahrmarktsglorie versetzten. Trotz seiner Frömmigkeit fand dies Herr von Guersaint von abscheulichem Geschmack.

»Da«, sagte Marie, »bei diesem dichten Gehölz werden wir gut aufgehoben sein.«

Sie deutete auf eine an der Seite der »Zuflucht der Pilger« stehende Baumgruppe. Der Platz war in der Tat vortrefflich, denn er gestattete, die Prozession über die Rampe linker Hand herabsteigen zu sehen und ihr mit den Blicken bis zur neuen Brücke zu folgen, und zwar in ihrer doppelten parallelen Bewegung des Hin- und Zurückgehens. Außerdem verlieh die Nähe des Gave dem Laubwerk eine köstliche Frische. Niemand war da, und im dichten Schatten der hohen, die Allee einsäumenden Platanen genoß man einen unendlichen Frieden.

Herr von Guersaint stellte sich auf die Fußspitzen, er war ungeduldig, die ersten Kerzen bei ihrem Rundgang um die Basilika wieder erscheinen zu sehen.

»Es zeigt sich noch nichts«, murmelte er. »Ich setze mich einen Augenblick ins Gras nieder. Meine Beine sind mir wie abgeschlagen.«

Dann sorgte er sich um seine Tochter.

»Soll ich dich zudecken? Es ist sehr frisch hier.«

»O nein, Vater! Mich friert nicht, ich bin so glücklich! Es ist recht lange her, daß ich keine so gute Luft mehr geatmet habe. Es müssen hier irgendwo Rosen sein. Riechst du diesen köstlichen Duft nicht?«

Dann wandte sie sich an Pierre und sagte:

»Lieber Freund, wo stehen denn die Rosen? Sehen Sie sie?«

Als Herr von Guersaint sich neben dem Wagen niedergesetzt hatte, kam Pierre der Gedanke, zu suchen, ob sich nicht ein Rosenbeet in der Nähe befände. Aber vergeblich stöberte er auf den dunklen Rasenplätzen herum, er unterschied nur dichten grünen Pflanzenwuchs. Und als er auf dem Rückweg vor der »Zuflucht der Pilger« vorbeikam, da trieb ihn die Neugierde, dort einzutreten.

Es war ein großer Saal mit sehr hoher Decke, den breite Fenster von zwei Seiten beleuchteten. Mit Steinplatten belegt und mit nackten Wänden, hatte er keine anderen Möbel als Bänke, die kreuz und quer herumstanden, so daß die obdachlosen Pilger, die sich hierher geflüchtet hatten, ihre Körbe, Pakete und Reisesäcke in den Fensteröffnungen aufgestapelt hatten. Übrigens war der Saal leer. Alle armen Leute, die er vor Wind und Wetter schützte, mußten mit der Prozession gegangen sein. Aber obgleich die Tür weit offenstand, herrschte darin ein unerträglicher Geruch. Die Mauern waren durchdrungen vom Elend, die Steinfliesen schmutzig und feucht trotz des schönen, sonnigen Tages und ganz naß von Speichel, Fett und verschüttetem Wein. Der Saal wurde zu allem benützt: man aß darin und schlief darin auf den Bänken in einem Haufen von unsauberen Leibern und von Lumpen.

Pierre sagte sich, der liebliche Rosengeruch ströme jedenfalls nicht von da aus. Trotzdem beendigte er seinen Gang durch den Saal, den vier rauchige Laternen erhellten und den er ganz leer glaubte, als er zu seiner Überraschung an der linken Mauer eine unbestimmte Gestalt wahrnahm. Es war eine schwarz gekleidete Frau, die ein weißes Bündel auf ihren Knien hielt. Sie befand sich ganz allein in der Einsamkeit, bewegte sich nicht von der Stelle und hatte die Augen weit offen.

Der Priester näherte sich und erkannte Frau Vincent. Mit leiser, gebrochener Stimme sagte sie zu ihm:

»Ja, Rose hat heute so viel gelitten! Seit dem Morgengrauen hat sie nur Klagerufe ausgestoßen. Dann ist sie eingeschlafen, jetzt sind's bald zwei Stunden, und ich wage nicht, mich zu rühren, aus Furcht, daß sie erwacht und dann von neuem zu leiden hat.«

Sie hielt sich unbeweglich, eine Märtyrerin, die ihre Tochter schon seit Monaten so hielt in der starrsinnigen Hoffnung, sie zu heilen. Sie hatte sie auf ihren Armen nach Lourdes gebracht, trug sie dort mit sich herum und schläferte sie auf ihren Armen ein, da sie weder eine Kammer noch selbst ein Spitalbett hatte.

»Geht es denn der armen Kleinen nicht besser?« fragte Pierre, dessen Herz blutete.

»Nein, Herr Abbé, nein! Ich glaube nicht.«

»Aber«, fuhr er fort, »auf dieser Bank sind Sie sehr schlecht untergebracht. Man hätte etwas unternehmen sollen, daß Sie nicht so auf der Straße bleiben. Ihr Töchterchen wäre irgendwo aufgenommen worden, ganz bestimmt.«

»Herr Abbé, wozu? Sie ist auf meinen Knien gut aufgehoben. Und hätte man mir erlaubt, stets bei ihr zu sein? Nein, nein! Ich trage sie lieber mit mir herum, mir ist, als ob ihr das schließlich das Leben retten wird.«

Zwei große Tränen rannen über ihr unbewegliches Gesicht. Dann fuhr sie mit erstickter Stimme fort:

»Ich bin nicht ohne Geld. Ich hatte dreißig Sous bei der Abreise von Paris, und ich habe noch zehn davon übrig. Mir genügt Brot, und sie kann nicht einmal mehr Milch trinken. Es reicht schon noch bis zur Heimfahrt, und wenn sie gesund wird, dann sind wir ja reich, reich!«

Sie hatte sich geneigt und betrachtete im flackernden Licht der nächsten Laterne das weiße Gesicht Roses, deren Lippen ein schwacher Atem halb öffnete.

»Sehen Sie doch, wie sie schläft! Nicht wahr, Herr Abbé, die Heilige Jungfrau wird Erbarmen haben und sie heilen. Wir haben nur noch einen Tag, aber ich verzweifle nicht. Und ich werde abermals die ganze Nacht beten, ohne von diesem Platz zu weichen. Morgen wird's geschehen. Wenn wir nur bis morgen am Leben bleiben.«

Pierre überfiel ein unendliches Mitleid. Er ging hinweg, da er fürchtete, daß auch er weinen müßte.

»Ja, ja, arme Frau! Nur die Hoffnung nicht aufgeben!«

Dann ließ er sie allein im Hintergrund des weiten, öden und ekelhaften Saales unter den unordentlich herumstehenden Bänken. Sie blieb unbeweglich in ihrem leidenschaftlichen Mutterschmerz sitzen und hielt sogar ihren Atem zurück aus Furcht, der Aufruhr in ihrer Brust könnte die kleine Kranke aufwecken. In ihren Qualen betete sie inbrünstig mit geschlossenem Mund.

Als Pierre zu Marie zurück kam, fragte sie ihn lebhaft:

»Nun? Und die Rosen? Nicht wahr, es gibt hier Rosen?«

Er wollte sie mit der Erzählung dessen, was er soeben gesehen hatte, nicht betrüben. Deshalb antwortete er nur: »Nein, ich habe gesucht, aber es sind keine Rosen da.«

»Das ist eigentümlich«, fuhr sie nachdenklich fort. »Dieser Duft ist so süß und dabei so durchdringend. Sie riechen ihn, nicht wahr? Und da! In diesem Augenblick ist er von außerordentlicher Stärke, als ob um uns herum alle Rosen des Paradieses in der Nacht blühten.«

Ein leichter Ausruf ihres Vaters unterbrach sie. Herr von Guersaint hatte sich wieder aufgerichtet, als er auf der Höhe der Rampen links von der Basilika leuchtende Punkte erscheinen sah.

»Da sind sie endlich!«

In der Tat zeigte sich die Spitze der Prozession und sofort vermehrten sich die leuchtenden Punkte und verlängerten sich zu einer doppelten, schwankenden Linie. Die Finsternis überschwemmte alles. Es schien, als zeigten sich die Lichter hoch oben, als träten sie aus den schwarzen Tiefen des Unbekannten hervor. Und zur selben Zeit begann wieder der Gesang, der nicht enden wollende Klagegesang der Bernadette, aber er war noch so entfernt, so leise, daß er nur dem leichten Rauschen eines Windstoßes in den nahen Bäumen glich.

»Ich hatte es ja gesagt«, murmelte Herr von Guersaint, »man müßte auf dem Kalvarienberg stehen, um alles zu sehen.«

Mit kindischem Eigensinn kam er auf seine erste Idee zurück und beklagte sich darüber, daß man den schlechtesten Platz gewählt hätte.

»Aber, Papa!« sagte endlich Marie, »warum gehst du nicht auf den Kalvarienberg? Es ist noch Zeit. Pierre wird bei mir bleiben.«

Und mit einem traurigen Lächeln setzte sie hinzu:

»Geh nur! Mich wird niemand entführen.«

Er weigerte sich, dann aber gab er, unfähig, seinem Wunsche zu widerstehen, auf einmal nach. Er mußte sich beeilen und die Rasenplätze schnell überschreiten.

»Geht nicht von hier fort, sondern erwartet mich unter diesen Bäumen. Ich werde euch erzählen, was ich von dort oben gesehen habe.«

Pierre und Marie blieben allein zurück in diesem dunklen, einsamen Winkel, in dem der Wohlgeruch von Rosen herrschte, ohne daß es in der Umgebung eine einzige Rose gab. Sie sprachen nicht, sie betrachteten die Prozession, die in ununterbrochener Bewegung ins Tal glitt.

Sie glich einer zweifachen Reihe zitternder Sterne, die an der linken Ecke der Basilika auftauchte und jetzt der monumental gebauten Rampe folgte, deren Rundung sie nach und nach abzeichnete. In dieser Entfernung sah man noch immer die Pilger nicht, die die Kerzen trugen. Man erblickte nur wandelnde, in Reih und Glied sich einordnende Feuer, die im Schatten gerade Linien zogen. Selbst die Bauwerke waren unter dem blauen Nachthimmel nur ganz unbestimmt wahrnehmbar und wurden kaum durch eine Verdichtung der Finsternis angedeutet. Aber allmählich und in dem Maße, in dem die Zahl der Kerzen zunahm, erhellten sich auch die architektonischen Umrisse, die hoch emporstrebenden Gewölbe der Basilika, die riesenhaften Brückenbogen der Rampen und die schwerfällige, gedrückte Fassade der Rosenkranzkirche. Mit dem ununterbrochenen Strom lebhafter Lichtfunken, der fort und fort ohne Hast dahinfloß, in der starrsinnigen Weise einer über ihre Ufer getretenen Flut, der nichts den Weg versperrt, brach es wie eine Morgenröte an: es entstand eine leuchtende Wolke, die sich über den Horizont verbreitete und ihn endlich ganz mit ihrem Glanze überzog.

»Sehen Sie doch nur, Pierre!« rief Marie, die von einer kindlichen Freude ergriffen war. »Es hört gar nicht auf, es kommen immer mehr.«

In der Tat dauerte in der Höhe das plötzliche Erscheinen der kleinen Lichter mit mechanischer Regelmäßigkeit fort, als ob diese Sonnenfäden aus irgendeiner unerschöpflichen Himmelsquelle hervorgesprudelt wären. Die Spitze der Prozession hatte soeben die Gärten erreicht und befand sich auf der Höhe der gekrönten Jungfrau, so daß die doppelte Flammenlinie erst die Kurve des Dachwerks der Rosenkranzkirche und die der großen Zufahrtsrampe abzeichnete. Aber die Annäherung der Menge machte sich durch eine Unruhe der Luft fühlbar, durch einen lebhaften, von fern hergekommenen Hauch. Die Stimmen schwollen an, der Klagegesang der Bernadette steigerte sich zum Getöse einer Meeresflut, die den Kehrreim »Ave, ave, ave Maria!« in rhythmischem, immer lauter werdendem Schaukeln mit sich wälzte.

»O diese Worte!« murmelte Pierre; »sie dringen in die Haut ein. Ich glaube, mein ganzer Körper wird sie schließlich noch mitsingen.«

Marie ließ wieder ihr leises Kinderlachen hören.

»Es ist wahr«, sagte sie; »sie verfolgen mich auch überallhin, und ich horte sie neulich nachts im Schlafe. Jetzt ergreifen sie mich wiederum und wiegen mich hinüber in die Gefilde über der Erde.«

Sie unterbrach sich, um zu bemerken: »Jetzt sind sie vor uns auf der andern Seite des Rasens.«

Die Prozession verfolgte nun die lange gerade Allee und kam, nachdem sie am Kreuz der Bretonen umgekehrt war, um den Rasenplatz herum durch die zweite lange Allee wieder herauf. Es bedurfte mehr als einer Viertelstunde, um diese Bewegung auszuführen. Jetzt bildete die doppelte Linie zwei lange parallele Flammenzüge, über denen die Figur einer Sonne triumphierend emporragte. Der Marsch dieser feurigen Schlange, die ohne Aufenthalt dahin glitt, deren goldene Ringe sanft über den schwarzen Boden krochen und sich ins unendliche verlängerten, ohne daß der aufgewickelte ungeheure Leib ein Ende zu nehmen schien, erregte immer wieder Bewunderung. Mehrmals mußten Aufenthalte entstanden sein, denn die Linien hatten gewankt, als wollten sie brechen. Doch die Ordnung war bald wiederhergestellt, die gleitende Bewegung mit langsamer Regelmäßigkeit wieder aufgenommen. Am Himmel schienen weniger Sterne zu stehen. Eine Milchstraße mit ihren Stäubchen, die Welten bedeuten, war von oben herabgefallen und setzte auf Erden den Rundtanz ihrer Gestirne fort. Ein blauer Lichtglanz rieselte, alles schien in einen einzigen Himmel ineinander geschwommen zu sein. Die Bauten und Bäume nahmen im geheimnisvollen Schimmer der Kerzen, deren Zahl stets wuchs, den Anschein von Traumgebilden an.

Marie stieß einen Seufzer atemloser Bewunderung aus, Sie fand keine Worte und wiederholte nur:

»Wie ist das schön! Mein Gott, wie ist das schön! Sehen Sie doch, Pierre, wie schön das ist!«

Seitdem aber die Prozession einige Schritte von ihnen vorüberzog, bestand sie nicht mehr einzig aus einer rhythmischen Bewegung von Sternen, die von keiner Hand getragen wurden. Sie unterschieden jetzt in der leuchtenden Wolke die Personen und erkannten beim Vorübergehen auf Augenblicke die Pilger, die die Kerzen hielten. Da war zuerst die Grivotte, die trotz der später Stunde mit dabei sein wollte. Sie übertrieb die Tatsache ihrer Heilung, wiederholte, daß sie sich nie besser befunden hätte, und behielt in der frischen Nacht, die ihr einen Schauder verursachte, den überspannten Gang einer Tänzerin bei. Dann erschienen die Vignerons, der Vater an der Spitze. Er trug seine Kerze recht hoch und war von Frau Vigneron und Frau Chaise begleitet, die ihre müden Beine nur mühsam fortschleppten, während der kleine, abgezehrte Gustave, dessen rechte Hand von Wachstropfen bedeckt war, den Sand mit seiner Krücke stampfte. Alle Kranken, die gehen konnten, waren anwesend, auch Elise Rouquet, die mit ihrem nackten roten Gesicht wie die Erscheinung einer Verdammten vorüberzog. Andere lachten. Die im vorigen Jahre wunderbar geheilte kleine Sophie Gouteau vergaß ihre Umgebung und spielte mit ihrer Kerze wie mit einem Stock. Kopf an Kopf zog es dahin, hauptsächlich waren es Frauen, zum Teil von schmutziger Gemeinheit, bisweilen von stolzer Haltung, Gesichter, die man eine Sekunde flüchtig sah und die dann in der phantastischen Beleuchtung untertauchten. Endlos ging der Zug an ihnen vorüber. Da bemerkten sie noch einen kleinen, dunklen, ganz bescheiden dahinziehenden Schatten: es war Frau Maze, die sie gar nicht erkannt hätten, wenn sie nicht einen Augenblick ihr bleiches, von Tränen überströmtes Gesicht erhoben hätte.

»Sehen Sie dorthin«, sagte Pierre zu Marie, »dort kommen die ersten Lichter der Prozession auf dem Platz der Rosenkranzkirche an, und ich bin gewiß, daß die Hälfte der Pilger sich noch vor der Grotte befindet.«

Marie hatte die Augen erhoben. In der Tat sah sie oben an der linken Ecke der Basilika andere Lichter regelmäßig und ohne Unterbrechung auftauchen, in einer Art mechanischer Bewegung, die nie aufzuhören schien.

»Ach«, sagte sie, »wie viele mit Mühsal beladene Seelen sind das! Denn stellt nicht jedes dieser kleinen Flämmchen eine leidende und sich befreiende Seele dar?«

Pierre mußte sich neigen, um sie zu verstehen. Denn das Kirchenlied, der Klagegesang der Bernadette betäubte sie, seitdem die Flut so nahe bei ihnen vorüberzog. Die Stimmen erschallten in wachsendem Taumel, die Strophen erklangen allmählich ganz durcheinander, jeder Teil der Prozession sang eine andere mit verzückten Stimmen, wie Besessene, die sich selber nicht mehr verstehen. Es war ein ungeheures, verworrenes Geschrei, das rasende Geschrei einer Menschenmenge, die ihr Glaubenseifer ganz berauschte. Und immer wieder erscholl der Kehrreim, das »Ave, ave, ave Maria!« und übertönte den Lärm mit seinem qualvollen Rhythmus, der rasend machen konnte.

Pierre und Marie waren erstaunt, Herrn von Guersaint plötzlich wiederzusehen.

»Ach, Kinder!« begann dieser, »ich wollte mich da oben nicht verspäten. Soeben habe ich wiederholt die Prozession durchbrochen, um hierherzukommen. Aber welch ein Schauspiel! Das ist sicher das erste wirklich schöne Schauspiel, dem ich beiwohne, seitdem ich hier bin.«

Und er schickte sich an, ihnen die von der Höhe des Kalvarienbergs gesehene Prozession zu beschreiben.

»Stellt euch, meine Kinder, einen zweiten Himmel hier unten vor, der den Abglanz des oberen zurückstrahlt, einen Himmel, den ein einziges, unermeßliches Sternbild vollständig einnimmt. Der Feuerstrom stellt eine Monstranz dar. Ja, eine wirkliche Monstranz! Ihr Fuß wurde durch die Rampen gebildet, der Schaft durch die zwei Parallelalleen, die Hostie durch den runden Rasen. Eine Monstranz aus brennendem Gold, die in der Tiefe der Finsternis beim immerwährenden Funkeln der sich bewegenden Sterne aufflammt. Darüber geht nichts, sie ist riesig, großartig. Wahrhaftig, ich habe noch niemals etwas so Außerordentliches gesehen!«

Er fuchtelte mit den Armen herum, war außer sich und floß über von künstlerischer Erregung.

»Väterchen!« sagte Marie zärtlich, »weil du jetzt doch zurück bist, solltest du schlafen gehen. Es ist beinahe elf Uhr, und du weißt, daß du um zwei Uhr morgen früh abreisen mußt.«

Um ihn zu einem Entschluß zu bringen, fügte sie hinzu:

»Mir macht es so viel Vergnügen, daß du diesen Ausflug unternimmst! Nur sei frühzeitig wieder zurück, denn du wirst sehen, du wirst sehen –«

Sie wagte nicht zu behaupten, daß sie gewiß war, geheilt zu werden.

»Du hast recht«, sagte Herr von Guersaint besänftigt. »Ich werde mich gleich zu Bett legen. Da Pierre bei dir ist, habe ich keine Sorge.«

»Aber«, rief sie aus, »ich will nicht, daß Pierre die Nacht hier bei mir verbringt. Wenn er mich zur Grotte geführt hat, wird er sich dir wieder anschließen. Ich habe dann niemanden mehr nötig. Der erste beste Sänftenträger wird mich morgen früh ins Hospital zurückbringen.«

Pierre schwieg. Dann sagte er einfach:

»Nein, nein, Marie! Ich bleibe. Ich werde mit Ihnen die Nacht vor der Grotte bleiben.«

Sie öffnete den Mund zum Sprechen, wollte auf ihrem Willen bestehen und ärgerlich werden. Aber er hatte es so sanft gesagt, und sie fühlte aus seinen Worten ein so schmerzhaftes Verlangen nach Glück heraus, daß sie, bis in den Grund der Seele gerührt, Schweigen bewahrte.

»Also Kinder«, begann der Vater wieder, »seht, wie ihr fertig werdet! Ich weiß, daß ihr beide sehr verständig seid. Und nun gute Nacht, habt keine Sorge um mich!«

Er umarmte lange seine Tochter, drückte die beiden Hände des jungen Priesters, ging dann hinweg und verlor sich in den gedrängten Reihen der Prozession, die er aufs neue durchbrechen mußte.

Dann waren sie allein in ihrem schattigen, einsamen Winkel unter den großen Bäumen. Sie saß noch immer in der Tiefe ihres Wagens. Er kniete zwischen den Gräsern und stützte den Ellenbogen auf eines der Räder. Es war wunderschön, der Zug der Kerzen dauerte fort, und diese verdichteten sich, indem sie den Platz der Rosenkranzkirche umkreisten, zu ganzen Massen. Den jungen Priester entzückte es, daß von den Zechgelagen des Tages nichts an Lourdes zu halten schien. Es dünkte ihn, ein reinigender Wind sei herabgekommen von den Bergen und habe den starken Speisegeruch, die gefräßigen Sonntagsfreuden und den ganzen glühenden, verpesteten Jahrmarktsstaub, der über der Stadt schwebte, hinweggefegt. Nun breitete sich nur noch ein grenzenloser Himmel mit reinen Sternen über Lourdes aus. Die Frische des Gave war köstlich, und die wehenden Lüftchen trugen die Wohlgerüche wilder Blumen herbei. Die geheimnisvolle Unendlichkeit vermischte sich mit dem unumschränkten Frieden der Nacht, und von der Welt blieb nichts übrig als diese kleinen Flammen der Kerzen, die seine Gefährtin mit leidenden Seelen verglichen hatte. Eine wohltuende Ruhe kam über ihn und eine Hoffnung ohne Grenzen. Seitdem er sich hier befand, verließen ihn nach und nach die verletzenden Erinnerungen an den Nachmittag, an die gierige Eßlust, den schamlosen Handel mit heiligen Gegenständen, die alte, verdorbene und der Entehrung preisgegebene Stadt. Sie überließen ihn nur dieser göttlichen Erfrischung, dieser wundervollen Nacht, in der sein ganzes Wesen sich badete wie in einem Wasser der Auferstehung.

Auch Marie flüsterte, von unendlicher Weichheit durchdrungen:

»Ach, wie glücklich würde Blanche sein, wenn sie alle diese Wunder sähe!«

Sie dachte an ihre in Paris zurückgelassene Schwester, die sich mit dem harten Beruf abquälte, Unterricht zu geben. Und dies einfache Wort, die Erwähnung der Schwester, von der sie seit ihrer Ankunft in Lourdes nicht gesprochen hatte und die nun da unerwartet vor ihrem Gedächtnis auftauchte, genügte, um die ganze Vergangenheit heraufzubeschwören.

Ohne zu sprechen, durchlebten Marie und Pierre noch einmal ihre Kinderzeit, die Spiele von einst in den zwei aneinander grenzenden Gärten, die eine Hecke schied. Dann kam die Trennung, der Tag, an dem er ins Seminar eintrat und an dem sie ihn unter heißen Tränen auf die Wangen küßte, indem sie schwur, ihn nie zu vergessen. Jahre gingen darüber hin, da fanden sie sich wieder, auf ewig geschieden. Er war Priester, sie durch die Krankheit ans Lager gefesselt, und sie hatte keine Aussicht mehr, Weib zu werden. Ihre ganze Geschichte bestand in einer glühenden, ihnen selbst lange unbewußt gebliebenen Zärtlichkeit, dann in einem gänzlichen Bruch, als ob sie gestorben wären, obgleich sie nebeneinander lebten. Sie sahen jetzt im Geiste die armselige Wohnung wieder, in der die ältere Schwester sich abmühte, durch ihre Unterrichtsstunden ein wenig Wohlbehagen zu schaffen, die armselige Wohnung, von der man fortgezogen war, um nach Lourdes zu gehen, allerdings nach vielen Kämpfen und Beratungen, nach den von seiner Seite ausgesprochenen Zweifeln und ihrem leidenschaftlichen Glauben, der schließlich den Sieg davongetragen hatte. Und nun war es wirklich köstlich, sich so ganz allein wiederzufinden in diesem finstern Winkel, in dieser bewunderungswürdigen Nacht, in der es auf Erden ebensoviel Sterne gab wie am Himmel.

Marie hatte sich bisher die Seele eines kleinen Kindes, die beste und reinste Seele, eine fleckenlose Seele, wie ihr Vater sagte, bewahrt. Sie war mit dreizehn Jahren von der Krankheit befallen worden und seitdem nicht mehr älter geworden. Heute mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie immer noch dreizehn, denn vom Augenblick der Katastrophe an war sie ein in sich selbst gekehrtes, kindliches Wesen geblieben. Man sah das an ihren unbeweglichen Augen, ihrem zerstreuten Gesichtsausdruck, an der beständigen Vertraulichkeit, an der Unfähigkeit, etwas anderes zu wollen. Sie hatte die Seele eines sittsamen, heranwachsenden Mädchens, bei dem die erwachende Leidenschaft sich mit innigen Küssen auf die Wangen begnügte. Sie hatte keinen andern Roman erlebt als den Abschied, den sie unter Tränen von ihrem Freunde nahm, und das genügte, ihr Herz seit zehn Jahren auszufüllen. Die frommen Bücher, die man ihr gestattete, erhielten sie in der Begeisterung für eine übernatürliche Liebe. Sogar die Geräusche der Außenwelt verhallten an der Tür des Zimmers, in dem sie klösterlich eingeschlossen lebte. Und wenn man sie bisweilen von einem Ende Frankreichs zum andern, von einem Badeort zum anderen brachte, so ging sie durch die Volksmassen wie eine Nachtwandlerin, die nichts sieht und hört, sondern nur von der fixen Idee beherrscht wird, daß sie das Band verloren hat, das sie mit ihrem Geschlecht verknüpfte. Daher diese Reinheit und Kindlichkeit, und so wurde sie zur Tochter des Leidens, die von Liebe nichts wußte und in ihrem Herzen nur das entfernte Dämmern ihrer dreizehn Jahre bewahrte.

Die Hand Mariens suchte im Finstern Pierres Hand. Als sie sie gefunden hatte, da hielt sie sie lange fest. O welche Freude! Nie hatten sie eine so reine und vollkommene Freude gekostet, fern von aller Welt in diesem höchsten Reiz des Schattens und des Geheimnisses derart beisammen zu sein! Um sie herum bewegten sich nur noch die kreisenden Lichtersterne. Der Wiegengesang selbst trug sie wie auf Flügeln in schwindelnde Höhen empor. Marie wußte wohl, daß sie am folgenden Tage geheilt würde, wenn sie eine Nacht der Begeisterung vor der Grotte zubrachte. Sie war völlig überzeugt davon, daß sie sich der Heiligen Jungfrau verständlich machen und sie erweichen würde, sobald sie sich allein von Angesicht zu Angesicht mit ihr befände, um sie anzuflehen. Die Kranke verstand auch genau, was Pierre vorhin damit hatte sagen wollen, als er den Wunsch ausdrückte, gleichfalls die ganze Nacht vor der Grotte zu bleiben. War er nicht entschlossen, eine letzte Anstrengung um seinen Glauben zu machen, wie ein kleines Kind niederzuknien, um die allmächtige Mutter zu bitten, ihm den verlorenen Glauben wiederzugeben? Ohne daß sie davon zu reden brauchten, trat ihnen das alles in der Vereinigung ihrer Hände wieder vor die Seele. Sie versprachen sich, füreinander zu beten, sie vergaßen sich selbst, bis sie ineinander aufgingen mit einem solch heißen Wunsch nach ihrer Heilung und nach ihrem gegenseitigen Glück, daß sie einen Augenblick den Grund jener Liebe berührten, die sich hingibt und sich opfert. Es war ein göttlicher Genuß.

»Ach!« flüsterte Pierre, »dieser blaue Nachthimmel, dieser endlose Schatten! Wie haben sie alle Häßlichkeit der Menschen und Dinge hinweggeräumt! In diesem unermeßlichen, erfrischenden Frieden möchte ich meine Zweifel einschläfern.«

Seine Stimme verlöschte. Da sagte Marie ganz leise:

»Und die Rosen! Dieser Rosenduft. Verspüren Sie ihn nicht, mein Freund? Wo mögen sie nur sein, da Sie sie doch nicht gesehen haben?«

»Ja, ja! Ich rieche sie. Aber es gibt hier keine Rosen. Ich hätte sie sonst sicherlich gesehen, denn ich habe eifrig nach ihnen gesucht.«

»Wie können Sie sagen, daß keine Rosen da sind, da sie doch die Luft um uns herum durchduften und wir uns in ihrem Wohlgeruch baden! Da! Minutenlang ist der Duft so stark, daß es mir ist, als ob ich vor Freude vergehe! Gewiß sind Rosen da, in zahlloser Menge sind sie unter unseren Füßen.«

»Nein, ich schwöre es Ihnen. Ich habe mich überall umgesehen, es gibt hier keine Rosen. Oder aber sie müssen unsichtbar sein, es muß das Gras selbst sein, das wir mit Füßen treten, und diese großen Bäume, die uns umringen. Vielleicht dringt ihr Duft sogar aus der Erde heraus und kommt vom nahen Wildbach, von den Wäldern und den Bergen.«

Sie schwiegen einen Augenblick. Dann fuhr sie halblaut fort:

»Wie gut die Rosen riechen, Pierre! Mir scheinen unsere Hände auch ein Blumenstrauß zu sein.«

»Ja, Marie! Der Duft ist entzückend. Und jetzt strömt der Wohlgeruch von Ihnen aus, gerade als ob die Rosen aus Ihren Haaren blühten!«

Sie sprachen nicht mehr. Die Prozession zog noch immer vorüber, und noch immer erschienen an der Krümmung bei der Basilika helle Funken, die aus der Dunkelheit in die Höhe sprudelten wie aus einer unerschöpflichen Quelle. Der unermeßliche Strom der beweglichen Flämmchen zog in seinem zweifachen Kreislauf die Linien eines dunklen, von Feuer eingefaßten Bandes nach. Aber das hauptsächliche Schauspiel erblickte man auf dem Platz der Rosenkranzkirche. Dort drehte sich die Spitze der Prozession, indem sie ihre langsame Schwenkung beibehielt, in einen immer engeren Kreis, in eine Art Wirbel zusammen, der die von Müdigkeit zerschlagenen Pilger betäubte und ihre Gesänge bis zur Heftigkeit steigerte. Bald war dieser Kreis nur noch ein brennender Kern, der Kern eines Nebelsterns, um den sich das feurige Band schlang, das kein Ende nehmen wollte. Aber der glühende Kreis breitete sich aus, er wurde zu einem Teich, dann zu einem See. Der ganze weite Platz vor der Rosenkranzkirche verwandelte sich in ein brennendes Meer, das seine kleinen funkelnden Wellen im Wirbel eines Strudels wälzte, der nie still stand.

Ein der Morgenröte ähnlicher Widerschein ließ, die Basilika weiß erscheinen, der Rest des Horizonts verfiel in tiefe Dunkelheit. Auf der Seite sah man nur einige verlorene Kerzen, die ihren Weg allein zogen, so wie Leuchtkäfer mit ihren kleinen Laternen ihre Bahn suchen. Ein Teil der Prozession mußte jedoch auf den Kalvarienberg gestiegen sein, denn Lichtersterne wandelten auch dort droben unter dem freien Himmel umher. Endlich kam der Augenblick, da die letzten Kerzen erschienen, ihren Gang um die Rasenplätze machten, zusammenflossen und im Flammenmeer untergingen. Dreißigtausend Kerzen brannten, indem sie ihre Kreisbewegung fortsetzten und ihre Glut schürten. Oben an dem hohen ruhigen Himmel waren die Gestirne bleicher geworden. Das dröhnende Rollen der Stimmen, die »Ave, ave, ave Maria!« glichen dem Knistern der flammenden Herzen, die sich in Gebeten verzehrten, um die Seelen zu retten.

Soeben waren die Kerzen nacheinander erloschen und die Herrscherin Nacht dunkel und mild aufs neue herniedergesunken, als Pierre und Marie merkten, daß sie sich noch immer auf derselben Stelle befanden, Hand in Hand unter der geheimnisvollen Hülle der Bäume. In der Ferne, in den dunklen Straßen von Lourdes gingen nur noch verirrte Pilger, die sich nach dem Weg erkundigten, um ihr Lager aufzusuchen. Im Schatten streifte und huschte alles herum, was am Ende von Festtagen sich umhertreibt und den Schlaf sucht. Sie aber vergaßen sich selbst, wichen nicht von der Stelle und fühlten sich unaussprechlich glücklich im Duft der unsichtbaren Rosen.


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