Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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Vierter Tag

I

Den Rücken an die Kissen gelehnt, war Marie diesen Morgen auf ihrem Bett im Pflegerhaus Notre Dame des Douleurs sitzengeblieben. Nachdem sie die ganze Nacht vor der Grotte verbracht hatte, hatte sie es abgelehnt, sich wieder hinführen zu lassen. Und als Frau von Jonquière sich näherte, um ein herabgleitendes Kissen in die Höhe zu richten, fragte sie:

»Welchen Tag haben wir heute, gnädige Frau?«

»Montag, mein liebes Kind!«

»Ach, richtig. Man weiß nicht mehr, wie man an der Zeit ist. Nicht? Und ich bin so glücklich! Heute wird mich die Heilige Jungfrau heilen.«

Sie lächelte überirdisch und hatte das Aussehen einer wachen Träumerin. Ihre Augen verloren sich ins Weite, sie war so zerstreut, so in ihre fixe Idee vertieft, daß sie nur die ferne, aber gewisse Verwirklichung ihrer Hoffnung erblickte.

Der Saal Sainte-Honorine leerte sich um sie herum. Alle Kranken waren nach der Grotte gegangen, und nur Frau Vêtu war im nächsten Bett zurückgeblieben, sie lag im Todeskampf. Aber Marie bemerkte das nicht einmal, sie war entzückt darüber, daß es plötzlich still geworden war. Man hatte eines der auf den Hof hinausgehenden Fenster geöffnet, und der Glanz der Morgensonne fiel in einem breiten Strahl herein, dessen goldene Stäubchen gerade über ihrem Bettuch tanzten und ihre bleichen Hände badeten. Wie war das gut! Und dieser nächtliche Trauersaal mit seinen Schmerzensbetten, seinem Gestank und seinem vom Alpdrücken erpreßten Ächzen, wie war er auf einmal vom Sonnenlicht erfüllt, von der Morgenluft erfrischt und in süßes Schweigen gehüllt!

»Warum versuchen Sie nicht, ein wenig zu schlafen?« fragte Frau von Jonquière mütterlich. »Sie müssen doch wie zerschlagen sein nach einer ganz durchwachten Nacht.«

Marie schien überrascht. Es war ihr so leicht, daß sie hätte fliegen mögen und daß sie ihre Glieder nicht mehr fühlte.

»Aber ich bin durchaus nicht müde«, sagte sie. »Ich habe keinen Schlaf. Schlafen? O nein! Das wäre zu traurig, ich wüßte ja dann nicht mehr, daß ich geheilt werde.«

Das brachte die Vorsteherin zum Lachen.

»Warum wollten Sie dann nicht, daß man Sie zur Grotte brachte? Sie werden sich, ganz allein in diesem Bett, bald langweilen.«

»Ich bin nicht allein, gnädige Frau! Sie ist bei mir.«

In ihrer Verzückung faltete sie die Hände, während sie ihre Vision wieder heraufbeschwor.

»Sie wissen, daß ich diese Nacht die Heilige sah, wie sie den Kopf neigte und mir zulächelte. Ich habe sie gut verstanden. Ich habe ihre Stimme vernommen, ohne daß sie die Lippen öffnete. Wenn um vier Uhr das heilige Sakrament vorüberzieht, werde ich geheilt werden.«

Frau von Jonquière beunruhigte sich ein wenig über diese Art Verzückung und wollte sie besänftigen. Aber die Kranke wiederholte:

»Nein, nein! Ich befinde mich nicht schlechter, ich warte ... Sie begreifen doch, daß ich nicht nötig habe, diesen Morgen nach der Grotte zu gehen, denn das Stelldichein, das sie mir gab, ist um vier Uhr.«

Dann setzte sie leiser hinzu:

»Um dreieinhalb Uhr wird Pierre mich abholen, um vier Uhr werde ich geheilt sein.«

Langsam stieg der Sonnenschein längs ihrer nackten, durchsichtigen, krankhaft schwachen Arme herauf, während ihre bewundernswerten blonden, auf die Schultern herabgeglittenen Haare ein Ausfluß des Gestirns selbst zu sein schienen, der sie ganz umhüllte. Aus dem Hof erscholl Vogelgesang und erheiterte die Stille des Saales. Irgendein Kind, das man nicht sah, mußte irgendwo herum spielen, denn auch leichte Lachtöne erhoben sich auf Augenblicke in der lauen, köstlich ruhigen Luft.

»Also gut«, schloß Frau von Jonquière, »so schlafen Sie nicht, weil Sie keinen Schlaf haben. Bleiben Sie aber recht verständig, dadurch werden Sie auch ausruhen.«

Aber im nächsten Bett lag Frau Vêtu im Sterben. Man hatte nicht gewagt, sie nach der Grotte zu führen, aus Furcht, sie auf der Straße verscheiden zu sehen. Seit einem Augenblick hielt sie die Augen geschlossen, und Schwester Hyacinthe, die sie prüfend betrachtete, rief Frau Desagneaux herbei, um ihr den schlechten Eindruck mitzuteilen, den die Kranke auf sie machte. Jetzt beugten sich beide über die Sterbende und beobachteten jede Bewegung mit wachsender Beunruhigung. Das Gesicht war schon gelb geworden, die Augenhöhlen hatten sich vertieft, die Lippen schienen dünner zu werden. Und dann das Röcheln! Ein Röcheln, ein langsames, vom Krebs vergiftetes Atmen begann. Plötzlich hob sie die Lider und erschrak, als sie die beiden über sie gebeugten Gesichter bemerkte. War sie dem Tode nahe, weil man sie derart betrachtete? Eine unendliche Traurigkeit, ein hoffnungsloses Weh erschien in ihren Augen. Es schritt nicht vor bis zur heftigen Empörung, denn sie besaß die Kraft nicht mehr, sich zu wehren, aber welch schreckliches Schicksal war es, daß sie ihren Laden verlassen und ihre Gewohnheiten und ihren Gatten aufgeben mußte, um in so weiter Ferne zu sterben! Der abscheulichen Marter einer solchen Reise Trotz zu bieten, Tag und Nacht zu beten und nicht erhört zu werden, zu sterben, während andere genasen!

Sie konnte nur flüstern:

»Ach, wie ich leide! Ach, wie ich leide! Ich bitte Sie inständig, tun Sie etwas! Machen Sie wenigstens, daß ich nicht mehr leide!«

Die kleine Frau Desagneaux mit ihrem hübschen, von den zerzausten blonden Haaren umfluteten Milchgesicht war aufs tiefste bestürzt. Sie war an den Anblick von Todeskämpfen nicht gewöhnt und hätte, wie sie sagte, die Hälfte ihres Herzens hergegeben, um diese arme Frau zu retten. Sie erhob sich und wandte sich an Schwester Hyacinthe, die gleichfalls zu Tränen gerührt war, aber sich bereits gefügt hatte, da die Kranke zu ihrem Heil eines guten Todes sterben würde. Ließ sich wirklich nichts tun? Konnte man nicht irgend etwas versuchen, wie es die Kranke begehrte? Am gleichen Morgen, zwei Stunden früher, hatte ihr der Abbé Judaine die Letzte Ölung gegeben und die Kommunion gereicht. Sie hatte also die Unterstützung des Himmels, auf ihn allein konnte sie zählen, da sie von den Menschen schon seit langer Zeit nichts mehr erwartete.

»Nein, nein!« rief Frau Desagneaux, »wir müssen uns beeilen.«

Und sie ging, um Frau von Jonquière zu suchen, die bei Maries Bett stand.

»Gnädige Frau«, sagte sie, »hören Sie diese leidende Unglückliche? Schwester Hyacinthe behauptet, sie habe nur noch einige Stunden zu leben. Aber wir dürfen sie nicht ächzen lassen. Es gibt besänftigende Mittel. Warum läßt man den jungen Arzt nicht kommen, der hier ist?«

»Gewiß!« antwortete die Vorsteherin. »Auf der Stelle!«

In den Sälen dachte man niemals an den Arzt. Der Gedanke an ihn kam diesen Damen nur im Augenblick der schrecklichen Krisen, wenn einer von ihren Kranken vor Schmerz heulte.

Schwester Hyacinthe war selber erstaunt, daß sie nicht an Ferrand gedacht hatte, den sie in einer benachbarten Kammer wußte, und sie fragte:

»Wünschen Sie, daß ich Herrn Ferrand hole?«

»Aber ohne Zweifel! Bringen Sie ihn schnell her!«

Als die Schwester fortgegangen war, ließ sich Frau von Jonquière von Frau Desagneaux helfen, um den Kopf der Sterbenden ein wenig zu heben, da sie dachte, dies würde ihr etwas Linderung verschaffen. Gerade diesen Morgen befanden sich die beiden Damen allein, da alle anderen Pflegerinnen ihren Geschäften oder ihren frommen Übungen nachgegangen waren. Im Innern des großen, leeren Saales, den die Sonne mit lauem Zittern erfüllte, hörte man, stets nur auf Augenblicke, das leise Lachen des Kindes, das man nicht sah.

»Ist das Sophie, die diesen Lärm macht?« fragte plötzlich die Vorsteherin. Sie war ein wenig nervös infolge der großen Sorge, die ihr die bevorstehende Katastrophe bereitete.

Lebhaft schritt sie dem Ende des Saales zu, und in der Tat war es die im vorigen Jahre durch ein Wunder geheilte kleine Sophie Couteau, die hinter einem Bett auf der Erde saß und sich trotz ihrer vierzehn Jahre damit belustigte, eine Puppe aus Lumpen zu machen. Sie sprach mit ihr und war so glücklich, so in ihr Spiel verloren, daß sie nach Herzenslust lachte.

»Stehen Sie gerade, mein Fräulein! Lassen Sie sehen, wie Sie Polka tanzen! Eins, zwei! Tanzen Sie und drehen Sie sich und umarmen Sie dann wen Sie wollen!«

Aber jetzt kam Frau von Jonquière dazu.

»Mein Töchterchen«, sagte sie, »wir haben da eine von unseren Kranken, die viel leidet und sich äußerst schlecht befindet. Man darf nicht so laut lachen.«

»Ach, gnädige Frau! Das wußte ich nicht.«

Sie hatte sich erhoben und hielt, ganz ernst geworden, ihre Puppe in der Hand.

»Wird sie sterben?«

»Ich fürchte es, mein liebes Kind!«

Daraufhin atmete Sophie nicht mehr. Sie war der Vorsteherin gefolgt, hatte sich auf ein nahes Bett gesetzt und betrachtete nun mit großen Augen und brennender Neugier die im Todeskampf liegende Frau Vêtu ohne irgendwelche Furcht. Frau Desagneaux wurde unruhig und ungeduldig, weil sie den Arzt nicht kommen sah, während Marie in der frohen Erwartung des Wunders allem entrückt zu sein schien, was um sie her vorging.

Schwester Hyacinthe hatte Ferrand nicht in dem kleinen Raum der Wäschekammer gefunden, in dem er sich gewöhnlich aufhielt. Seit zwei Tagen geriet der junge Arzt in diesem eigentümlichen Spital, in dem man seine Hilfe nur für die im Todeskampf Liegenden begehrte, mehr und mehr außer sich. Sogar die kleine Apothekerbüchse, die er mitgebracht hatte, erwies sich als überflüssig. Denn man durfte nicht daran denken, irgendwelche Behandlung anzuordnen. Die Kranken waren ja nicht da, um sich unter ärztliche Pflege zu begeben, sondern einfach, um im Blitzstrahl eines Wunders gesund zu werden. Deshalb verteilte er auch fast nur Opiumpillen, die allzu große Schmerzen einschläferten. Er war verblüfft, als er einem Rundgang des Doktors Bonamy durch die Säle beiwohnte. Das war ein einfacher Spaziergang, denn der Doktor kam als Neugieriger und interessierte sich durchaus nicht für die Kranken, die er weder untersuchte noch befragte. Er beschäftigte sich fast nur mit den angeblichen Heilungen, indem er bei den Frauen, stehenblieb, die er kannte, weil er sie in seinem Büro, wo die Wunder beurkundet wurden, gesehen hatte. Eine von ihnen hatte drei Krankheiten, und die Heilige Jungfrau hatte sich bis jetzt nur herabgelassen, eine davon zu heilen, aber für die anderen zwei war gute Hoffnung vorhanden. Wenn er bisweilen eine Unglückliche, die am Abend zuvor geheilt worden war, über ihren Zustand befragte, so antwortete diese, die Schmerzen wären wiedergekommen. Das beeinträchtigte jedoch die Heiterkeit des stets versöhnlichen Doktors durchaus nicht, er stellte es dem Himmel anheim, das zu vollenden, was der Himmel begonnen hatte. War es nicht schon sehr schön, wenn ein Ansatz zu besserer Gesundheit vorhanden war? Deshalb sagte er auch für gewöhnlich: »Es ist ein Anfang da, haben Sie Geduld!« Was er aber hauptsächlich scheute, waren die beständigen Zudringlichkeiten der Pflegedamen, die ihn alle hätten zurückhalten mögen, um ihm außerordentliche Kranke zu zeigen. Jede hatte die Eitelkeit, die ihrem Dienst zugewiesenen Krankheitsfälle für die schwersten zu halten. Die eine hielt den Doktor am Arme fest und behauptete, sie glaube, eine Aussätzige zu haben. Die andere flehte ihn wegen eines jungen Mädchens an, dessen Rücken wie sie sagte, mit Fischschuppen bedeckt sei. Eine dritte wisperte ihm ins Ohr und gab ihm schreckliche Einzelheiten über eine verheiratete Dame aus den besten Ständen. Er entfloh, lehnte es ab, eine einzige von ihnen zu besuchen und versprach endlich, später wiederzukommen, wenn er Zeit hätte. Wenn man auf diese Damen gehört hätte, so wäre, wie er sagte, der Tag unter unnützen ärztlichen Beratungen vergangen. Dann blieb er auf einmal vor einer durch ein Wunder Geheilten stehen, rief Ferrand durch einen Wink herbei und schrie: »Ach, das ist eine interessante Genesung!« Ferrand mußte ihm bestürzt zuhören, wie er die ganze Krankheit, die beim ersten Eintauchen in den Weiher gänzlich verschwunden war, wieder feststellte. Schwester Hyacinthe war dem Abbé Judaine begegnet, und dieser ließ sie endlich wissen, daß man den jungen Arzt im Saal der Haushaltungen begehrte. Zum viertenmal war er des Bruders Isidor wegen hinabgestiegen, dessen Qualen nicht aufhörten. Er konnte ihn nur mit Opium vollstopfen. Der Bruder verlangte nur ein wenig Linderung in seinem Martyrium, um die Kraft zu finden, sich noch diesen Nachmittag zur Grotte zu begeben, wohin er am Morgen nicht hatte gehen können. Aber der Schmerz nahm zu, und er verlor das Bewußtsein.

Als die Schwester eintrat, fand sie den Arzt zu Häupten des Missionars sitzen.

»Herr Ferrand!« rief sie, »kommen Sie schnell mit mir nach oben in den Saal Sainte-Honorine, wir haben dort eine Kranke, die im Sterben liegt.«

Er hatte ihr zugelächelt. Niemals sah er sie, ohne sich erheitert und gestärkt zu fühlen.

»Ich gehe mit Ihnen, Schwester! Aber eine Minute, nicht wahr? Ich möchte diesen Unglücklichen gerne wieder zum Leben bringen.«

Sie faßte sich in Geduld und machte sich nützlich. Auch der Saal der Haushaltungen im Erdgeschoß war ganz vom Sonnenschein erfüllt und von der Luft gebadet, die durch seine drei großen, auf einen engen Garten hinausgehenden Fenster einströmte. Diesen Morgen war außer dem Bruder Isidor nur Herr Sabathier im Bett zurückgeblieben, um ein wenig auszuruhen, während Frau Sabathier einige Einkäufe von Medaillen und Rosenkränzen machte, die zu Geschenken bestimmt waren. Aufrechtsitzend und den Rücken an die Kissen gelehnt, rollte er die Perlen eines Rosenkranzes zwischen seinen Fingern. Aber er betete nicht mehr, sondern heftete in einer Art mechanischer Geistesabwesenheit die Augen auf seinen Nachbar, dessen Krise er mit schmerzlichem Interesse verfolgte.

»Ach, Schwester!« sagte er zur Schwester Hyacinthe, die sich genähert hatte, »dieser arme Bruder erfüllt mich mit Bewunderung. Gestern habe ich einen Augenblick an der Heiligen Jungfrau gezweifelt, weil ich sah, daß sie mich in den sieben Jahren, die ich jetzt schon hierherkomme, nicht zu hören würdigte, und nun hat mich das Beispiel dieses Märtyrers wegen meines geringen Glaubens beschämt... Sie können sich nicht vorstellen, was er leidet, und man muß ihn vor der Grotte sehen mit seinen brennenden Augen. Das ist wirklich sehr schön. Ich kenne nur ein Gemälde eines unbekannten italienischen Meisters im Louvre, auf dem ein Mönchskopf durch eine ähnliche Glaubensinnigkeit geadelt ist.«

Der Verstandesmensch, der mit Literatur und Kunst genährte ehemalige Universitätslehrer zeigte sich wieder in diesem vom Leben niedergeschmetterten Mann, der gewünscht hatte, sich von der Pflegerschaft pflegen zu lassen und nur noch ein Armer zu sein, um den Himmel zu rühren. Er kam jetzt auf sein eigenes Leiden zurück, und in der Zähigkeit seiner Hoffnung, die sieben unnütze Reisen nach Lourdes nicht hatten erschüttern können, fügte er hinzu:

»Ich habe noch den Nachmittag, da wir doch erst morgen abreisen. Das Wasser ist wohl kalt, aber ich werde mich ein letztes Mal baden lassen. Dann bete ich auch seit diesem Morgen und bitte wegen meiner gestrigen Auflehnung um Verzeihung. Nicht wahr, Schwester, der Heiligen Jungfrau genügt eine Sekunde, wenn sie eines ihrer Kinder heilen will? Ihr Wille geschehe und ihr Name sei gebenedeit!«

Er schickte sich wieder an, die Aves und Pater herzusagen, indem er die Perlen des Rosenkranzes langsamer durch die Hand rollen ließ, während sich seine Lider halb schlossen.

Ferrand hatte Martha, die Schwester des Bruders Isidor, durch einen Wink herbeigerufen. Sie stand unten am Fuß des Bettes, ließ die Arme hängen und betrachtete ohne eine Träne und mit der Ergebung eines armen Mädchens von beschränktem Geist den Todkranken, den sie vergötterte. Sie war nur ein ergebener Hund und hatte ihren Bruder, indem sie ihre wenigen ersparten Sous ausgab, begleitet, obgleich sie nichts tun konnte, als ihn leiden zu sehen. Als daher der Arzt zu ihr sagte, sie möchte den Kranken in die Arme nehmen und ein wenig in die Höhe heben, war sie ganz glücklich, endlich zu etwas nütze zu sein. Ihr dickes, trübsinniges, von Sommersprossen bedecktes Gesicht erhellte sich.

»Halten Sie ihn«, sagte der Arzt, »während ich versuchen werde, ihm etwas einzugeben.«

Sie hob ihn auf, und es gelang Ferrand, mit einem kleinen Löffel etliche Tropfen einer Flüssigkeit zwischen seine geschlossenen Zähne einzuführen. Fast sofort öffnete der Kranke die Augen und seufzte tief auf. Er war ruhiger, denn das Opium tat seine Wirkung und schläferte den Schmerz ein, den er in seiner rechten Hüfte wie ein rotglühendes Eisen fühlte. Aber er blieb so schwach, daß man, als er sprechen wollte, das Ohr seinem Munde nähern mußte, um ihn zu verstehen.

Mit einer leichten Handbewegung bat er Ferrand, sich über ihn zu neigen.

»Herr Doktor!« flüsterte er, »Sie sind der Arzt, nicht wahr? Geben Sie mir die Kräfte, daß ich diesen Nachmittag noch einmal zur Grotte gehen kann. Ich habe die Gewißheit, daß die Heilige Jungfrau mich heilen wird.«

»Oh, gewiß werden Sie hingehen«, antwortete der junge Mann. »Fühlen Sie sich nicht viel besser?«

»Viel besser? O nein! Ich weiß sehr wohl, was mir fehlt, weil ich drunten am Senegal mehrere Kameraden sterben sah. Wenn die Leber angegriffen ist und die Eiterbeule nach außen aufbricht, dann ist es vorbei. Heftiger Schweiß tritt ein, Fieber, Delirium. Aber wenn die Heilige Jungfrau das Übel mit ihrem kleinen Finger berührt, so wird es geheilt. Oh, ich bitte Sie alle inständig, lassen Sie mich zur Grotte tragen, selbst wenn ich mein Bewußtsein nicht mehr haben sollte!«

Auch Schwester Hyacinthe hatte sich über den Kranken geneigt.

»Sorgen Sie sich nicht!« sagte sie. »Man wird Sie nach dem Frühstück zur Grotte bringen, und wir alle werden für Sie beten.«

Endlich konnte sie Ferrand mit sich fortführen. Sie war verzweifelt über diese Verzögerungen und sehr in Sorge um Frau Vêtu. Trotzdem erregte das Schicksal des Bruders Isidor ihr Mitleid, und im Hinaufgehen forschte sie den Arzt aus. Sie fragte ihn, ob es wirklich keine Hoffnung mehr gebe. Dieser machte eine Gebärde, die ein Todesurteil aussprach. Es war Wahnsinn, in einem derartigen Zustand nach Lourdes zu kommen.

Er verbesserte sich lächelnd.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Schwester! Sie wissen, daß ich das Unglück habe, nicht zu glauben.«

Nun lächelte auch sie, wie eine nachsichtige Freundin, die die Unvollkommenheiten der Menschen erträgt, die sie liebt.

»Oh, das macht nichts. Ich kenne Sie, Sie sind trotzdem ein braver Junge. Und dann sehen wir so viele Leute, wir kommen zu so viel Heiden, daß wir viel zu tun hätten, wenn wir ein Ärgernis daran nehmen wollten.«

Oben im Saal Sainte-Honorine stöhnte Frau Vêtu noch immer unter unerträglichen Schmerzen. Frau von Jonquière und Frau Desagneaux waren bei ihrem Bett geblieben. Sie waren blaß geworden und in tiefster Seele ergriffen von dem Todesstöhnen, das sie unaufhörlich vernehmen mußten. Nachdem sie Ferrand befragt hatten, antwortete er einfach mit einem leichten Achselzucken: diese Frau war verloren, es handelte sich nur noch um Stunden, vielleicht nur um Minuten. Alles, was er tun konnte, bestand darin, auch sie zu betäuben, um ihr den schrecklichen Todeskampf, den er voraussah, zu erleichtern. Sie betrachtete den Arzt, denn sie war noch bei Bewußtsein. Im übrigen zeigte sie sich sehr folgsam und lehnte keine Arznei ab. Wie die anderen, hatte auch sie nur den einen brennenden Wunsch, nach der Grotte zurückzukehren.

Sie brachte diesen Wunsch mit der Stimme eines Kindes vor, das zittert, weil es kein Gehör zu finden fürchtet.

»Nach der Grotte, nicht wahr? Nach der Grotte!«

»Man wird Sie sofort hintragen, ich verspreche es Ihnen«, sagte Schwester Hyacinthe. »Aber Sie müssen vernünftig sein. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen, um Kräfte zu schöpfen.«

Die Kranke schien einzuschlummern. Frau von Jonquière glaubte deshalb, Frau Desagneaux mit sich nach dem andern Ende des Saales nehmen zu können, wo beide sich anschickten, Wäsche zu zählen. Sie fanden sich aber in der ganzen Zählung nicht zurecht, denn es waren Servietten verschwunden. Sophie war nicht von der Stelle gewichen, sondern auf dem Bett gegenüber der Frau Vêtu sitzengeblieben. Sie hatte die Puppe auf ihre Knie gelegt und erwartete nun, daß die Frau stürbe, weil man ihr gesagt hatte, sie werde sterben.

Im übrigen war Schwester Hyacinthe bei der Todkranken geblieben. Da sie ihre Zeit nicht verlieren wollte, hatte sie Nadel und Zwirn zur Hand genommen, um das Leibchen einer ihrer Kranken auszubessern, das durch die Abnutzung an den Ärmeln aufgerissen war.

»Sie bleiben einen Augenblick bei uns, nicht wahr?« fragte sie Ferrand.

Dieser betrachtete noch Frau Vêtu.

»Ja, ja. Sie kann von einer Minute auf die andere hinweggerafft werden. Ich befürchte einen Bluterguß.«

Als er Marie im nächsten Bett bemerkte, fragte er mit gedämpfter Stimme:

»Wie geht es ihr? Hat sie sich erleichtert gefühlt?«

»Nein, noch nicht. Ach, das liebe Kind! Wir alle hegen für sie die aufrichtigsten Wünsche! So jung, so reizend und so betrübt! Betrachten Sie sie doch in diesem Augenblick! Wie hübsch sie ist! Man könnte sie in all diesem Sonnenschein, mit ihren großen, ekstatischen Augen und ihren goldenen Haaren, die gleich einem Strahlenkranz leuchten, für eine Heilige halten.«

Ferrand betrachtete sie einen Augenblick mit regem Interesse. Sie überraschte ihn durch ihre geistesabwesende Miene, durch die Unbekümmertheit für ihre Umgebung, durch den glühenden Glauben und die innere Freude, die sie zur Sammlung in sich selbst bewog.

»Sie wird genesen«, flüsterte er, als ob er ganz leise eine Prophezeiung ausspräche. »Sie wird genesen.«

Dann näherte er sich Schwester Hyacinthe, die sich in die Nische des geöffneten hohen Fensters gesetzt hatte. Die Sonne begann sich zu wenden, sie glitt nur noch als schmaler goldener Streifen über die weiße Haube und den Brustschleier der Nonne. Ferrand blieb vor ihr stehen, lehnte sich an das Fenstergesims und sah zu, wie sie nähte.

»Wissen Sie, Schwester«, begann er dann, »daß diese Reise nach Lourdes, die ich wie einen Frondienst annahm, um einem Freund gefällig zu sein, einen der seltenen Glücksfälle meines Daseins bilden wird?«

Sie verstand ihn nicht und fragte naiv:

»Warum?«

»Weil ich Sie wiedergefunden habe, weil ich mich hier bei Ihnen befinde, um Ihnen in Ihren bewunderungswürdigen Arbeiten ein wenig Hilfe zu leisten. Und wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin, wie ich Sie liebe und wie ich Sie verehre!«

Sie hob den Kopf, um ihm ins Angesicht zu schauen, und fing an, ohne irgendwelche Verlegenheit zu scherzen. Sie war so anmutig mit ihrem Lilienteint, ihrem kleinen, fröhlichen Mund und den liebenswürdigen, blauen, stets lächelnden Augen. Sie sah zart und geschmeidig aus und hatte nicht mehr Busen als ein kleines, ganz in Unschuld und Aufopferung aufgewachsenes Mädchen.

»So sehr lieben Sie mich also? Warum denn?«

»Warum ich Sie liebe? Weil Sie das beste, trostreichste, schwesterlichste Wesen sind. Sie sind immer noch die süßeste Erinnerung meines Lebens. Sie denken also nicht an den Monat zurück, den wir beide in meinem armseligen Zimmer zusammen verlebten, als ich so krank war und Sie mich pflegten?«

»Gewiß! Ich habe sogar niemals einen so angenehmen Kranken gehabt wie Sie. Alles, was ich Ihnen gab, das nahmen Sie ein. Und wenn ich Ihre Wäsche gewechselt hatte und Sie in das Bett brachte, so blieben Sie ruhig wie ein Kind.«

Sie betrachtete ihn fortwährend mit unbefangenem Lächeln. Er war sehr schön und sehr kräftig, die Nase ein wenig stark, die Augen herrlich. Sie aber schien einfach glücklich, ihn so vor sich zu sehen.

»Ach, Schwester! Ich wäre gestorben ohne Sie. Sie sind's, die mich gesund gemacht hat!«

Dann stieg, während sie sich mit gefühlvoller Fröhlichkeit betrachteten, der selige Monat vor ihnen auf. Sie hörten das Röcheln der Frau Vêtu nicht mehr, sahen nicht mehr den von Betten überfüllten Saal, der in seiner Unordnung einem nach einer öffentlichen Katastrophe improvisierten Lazarett glich. Hoch oben in einem schwarzen Hause fanden sie sich im Geiste wieder, in einem engen Mansardenzimmer des alten Paris, in dem Licht und Luft den Weg zu ihnen nur durch ein kleines Fenster fanden, das die Aussicht auf einen Ozean von Dächern eröffnete. Und welcher Reiz lag in diesem Alleinsein! Ihn hatte das Fieber niedergeworfen, und sie war wie ein guter Engel zu ihm niedergestiegen und als guter Kamerad, der nichts zu befürchten hatte, aus ihrem Kloster gekommen. So pflegte sie die Frauen, die Kinder und die Männer, wie sie ihr auf gut Glück begegneten. Und wenn sie sich nur rühren und irgendein Leiden lindern durfte, war sie vollständig glücklich, ohne daß auch nur der Gedanke an ihr Geschlecht jemals in ihr auftauchte. Ferrand schien sich ebensowenig träumen zu lassen, daß sie eine Frau sein könnte, wenn sie auch sehr sanfte Hände, eine schmeichelnde Stimme und eine wohltuende Zärtlichkeit besaß. Trotzdem strömten von ihr die Güte einer Mutter und die Liebe einer Schwester aus. Wie sie sagte, hatte sie ihn drei Wochen lang wie ein Kind gepflegt, ihn aus dem Bett gehoben, niedergelegt und ihm ohne Unbehaglichkeit oder Widerwillen die vertrautesten Dienste geleistet. Beiden stand als Schutz die reine Heiligkeit des Leidens und der barmherzigen Liebe zur Seite. Und welche gute Kameradschaft herrschte zwischen ihnen, als die Genesung eingetreten war! Wie lachten sie miteinander gleich alten Freunden! Sie wachte noch über ihn, schalt ihn aus und gab ihm einen Klapps auf die Arme, wenn er sie eigensinnig außerhalb des Bettes ließ. Dann beobachtete er wieder, wie sie etwas Seifenwasser im Waschbecken bereitete und ein Hemd wusch, um ihm die drei Sous Wäscherlohn zu ersparen. Niemals kam jemand zu ihnen hinauf, sie waren allein, tausend Meilen von der Welt entfernt und entzückt von dieser Einsamkeit, an der sich ihre Jugend so geschwisterlich erfreute.

»Erinnern Sie sich des Morgens, an dem ich zum erstenmal wieder das Gehen probierte, Schwester? Sie hoben mich auf und stützten mich, während ich wie ein ungeschickter Bursche stolperte und mich der Beine nicht mehr zu bedienen wußte. Das brachte uns zum Lachen.«

»Ja, ja. Sie waren gerettet, und ich war sehr zufrieden.«

»Und an den Tag, da Sie mir Kirschen mitbrachten? Ich sehe uns noch, mich gegen meine Kissen gelehnt, Sie auf dem Rand des Bettes sitzend und zwischen uns die Kirschen in einem großen weißen Papier. Ich hatte keine berühren wollen, wenn Sie nicht mit mir essen würden. Dann nahmen wir, der Reihe nach, immer eine, und das Papier wurde leer, und die Kirschen waren sehr gut.«

»Ja, ja, sehr gut! Es war wie beim Johannisbeersirup: Sie entschlossen sich nicht, zu kosten, ehe ich nicht selbst davon gekostet hatte.«

Sie lachten lauter, denn diese Erinnerungen entzückten sie. Aber ein Seufzer der Frau Vêtu führte sie wieder in die Gegenwart zurück. Er neigte sich und warf einen Blick auf die Kranke, die sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Der Saal bewahrte seinen tiefen Frieden, der nur durch die helle Stimme der Frau Desagneaux gestört wurde, die mit dem Zählen der Wäsche beschäftigt war.

Atemlos vor seelischer Erregung, begann Ferrand wieder mit leiserer Stimme:

»Ach, Schwester! Wenn ich hundert Jahre lebe und alle Freuden, alle Zärtlichkeiten kennenlernen darf, ich werde niemals eine andere Frau so lieben, wie ich Sie liebe!«

Da senkte Schwester Hyacinthe, jedoch ohne Verwirrung, das Haupt und begann wieder zu nähen. Eine unmerkliche Röte hatte ihr Antlitz rosig gefärbt.

»Auch ich, Herr Ferrand, liebe Sie sehr. Nur müssen Sie mich nicht eingebildet machen. Ich habe für Sie getan, was ich für so viele andere tue. Es ist das mein Beruf, meine Obliegenheit, wie Sie wissen. Und da, in meinem Innern, ist nur eines, was mir Freude macht, nämlich, daß der liebe Gott Sie gesund werden ließ.«

Sie wurden aufs neue unterbrochen. Die Grivotte und Elise Rouquet kamen vor den anderen von der Grotte zurück. Sogleich kauerte sich die Grivotte auf ihre Matratze nieder, die zu Füßen von Frau Vêtus Bett auf dem Boden lag, dann zog sie ein Stück Brot aus der Tasche und schickte sich an, es zu verschlingen. Ferrand hatte sich seit dem Vorabend für diese Schwindsüchtige interessiert, die sich in einem seltsamen Zustand der Unruhe befand und von einem übertriebenen Appetit und dem fieberhaften Bedürfnis sich zu bewegen erfaßt war. Aber in diesem Augenblick befremdete ihn der Fall der Elise Rouquet noch mehr, denn jetzt war es gewiß, daß der Lupus, dessen Wunde ihr das Gesicht zerfraß, sich gebessert hatte. Sie setzte ihre Abwaschungen am wunderbaren Brunnen fort und kam geradeswegs aus dem Büro der Beurkundungen, in dem Doktor Bonamy triumphiert hatte. Überrascht ging Ferrand näher und untersuchte die schon blasser gewordene und ein wenig eingetrocknete Wunde. Sie war weit entfernt, geheilt zu sein, aber es begannen bereits Wesen und Wirken der Heilung. Der Fall erschien ihm so sonderbar, daß er sich fest vornahm, Notizen darüber für einen seiner ehemaligen Lehrer von der Hochschule zu machen. Dieser war gerade damit beschäftigt, den nervösen Ursprung gewisser Hautkrankheiten, die von Störungen in der Ernährung herrühren, zu studieren.

»Haben Sie kein Prickeln gefühlt?« fragte er.

»Nein, nein! Ich wasche mich und bete aus ganzer Seele meinen Rosenkranz. Das ist alles.«

Die Grivotte, eitel und eifersüchtig, weil sie seit dem Vorabend inmitten der Volksmassen triumphierte, rief den Arzt.

»Ich bin geheilt, geheilt, vollständig geheilt!«

Er lächelte mit einer freundschaftlichen Gebärde, lehnte es aber ab, sie zu untersuchen.

»Ich weiß, mein Kind! Ihnen fehlt durchaus nichts mehr.«

In diesem Augenblick rief ihn Schwester Hyacinthe zurück. Sie ließ ihre Näherei im Stich, da Frau Vêtu von einer heftigen Übelkeit befallen worden war. Trotz ihrer Eile kam die Schwester nicht zeitig genug mit der Waschschüssel an: die Kranke hatte wiederum einen Strom schwarzen, rußähnlichen Auswurfs erbrochen, und dieses Mal fand sich Blut daruntergemischt in Form von veilchenblauen Blutfäden. Das war der Bluterguß, und das Ende stand bevor, wie Ferrand es befürchtet hatte.

»Verständigen Sie die Frau Vorsteherin«, sagte er halblaut, indem er sich niederließ, um selbst beim Bett zu bleiben.

Schwester Hyacinthe lief weg, um Frau von Jonquière zu suchen. Die Wäsche war gezählt, und die Vorsteherin befand sich in eifriger Unterredung mit ihrer Tochter Raymonde. Sie war mit ihr auf die Seite getreten, während Frau Desagneaux sich die Hände wusch.

Raymonde war einen Augenblick aus dem Refektorium, in dem sie Dienst tat, entschlüpft. Für sie war es die härteste Fron: dieser lange, enge Saal mit seinen zwei Reihen fettiger Tische, seinem ekelhaften Geruch von Speiseüberresten und Elend drehte ihr den Magen um. Sie benützte die halbe Stunde, die ihr vor der Rückkehr der Kranken blieb, und stieg schnellstens die Treppen in die Höhe. Keuchend, ganz rot und mit leuchtenden Augen warf sie sich ihrer Mutter um den Hals.

»Ach, Mama, welches Glück! Es ist abgemacht!«

Frau von Jonquière war erstaunt und begriff nicht, was sie wollte.

»Was denn, mein Kind?«

Da sagte Raymonde, ein wenig errötend, mit leiserer Stimme:

»Meine Heirat!«

Nun wurde die Mutter heiter. Eine lebhafte Genugtuung erstrahlte auf ihrem fetten Gesicht, dem Gesicht einer reifen, immerhin noch schönen und angenehmen Frau. Im Nu sah sie die kleine Wohnung in der Rue Vaneau wieder, in der sie ihre Tochter seit des Gatten Tod mit den paar tausend Frank, die er hinterließ, sehr knapp erzogen hatte. Die Heirat war für sie ein neubeginnendes Leben, die Salons öffneten sich wieder, und die schöne Stellung von ehemals war wieder zurückgewonnen.

»Ach, mein Kind, wie froh macht mich das!«

Eine plötzliche Verlegenheit bereitete ihr Unbehagen. Gott war Zeuge, daß sie seit drei Jahren nach Lourdes kam, nur um ihrem Bedürfnis, sich barmherzig zu erweisen, zu genügen, und einzig aus wahrer Freude, ihre teuren Kranken zu pflegen. Vielleicht würde sie, falls sie eine Gewissensprüfung vorgenommen hätte, in ihrer Aufopferung auch ein wenig von ihrer gebieterischen Natur entdeckt haben, die ihr die Übung des Befehlens sehr angenehm machte. Aber die Hoffnung, für ihre Tochter unter den jungen Leuten, die um die Grotte herumschwärmten, einen Gatten zu finden, wäre doch erst in letzter Linie gekommen. Sie dachte wohl daran, aber einfach als an eine Möglichkeit, über die sie nicht sprach.

»Ach, mein Kind! Dieser glückliche Ausgang versetzt mich nicht in Erstaunen. Ich hatte diesen Morgen die Heilige Jungfrau darum gebeten.«

Dann wollte sie Gewißheit haben und fragte nach den näheren Umständen. Raymonde hatte ihr noch nichts von dem langen Spaziergang erzählt, den sie abends zuvor am Arm Gérards gemacht hatte, da sie wünschte, ihrer Mutter nur triumphierend und in der Gewißheit, endlich einen Gatten erobert zu haben, Mitteilung davon zu machen. Und nun war es geschehen: diesen Morgen selbst hatte sie den jungen Mann an der Grotte wiedergesehen, wo er sich in fröhlicher Weise verpflichtet hatte. Sicherlich würde Herr Berthaud vor ihrer Abreise von Lourdes namens seines Vetters um ihre Hand anhalten.

»Nun denn«, erklärte Frau von Jonquière, die ihren Gewissenszweifel aufgab, lächelnd und erfreut, »ich hoffe, daß du glücklich sein wirst, weil du so verständig bist, und daß du meiner nicht bedarfst, um deine Angelegenheiten zum Guten zu führen.«

In diesem Augenblick kam Schwester Hyacinthe, um den bevorstehenden Tod der Frau Vêtu zu melden. Und Frau Desagneaux trocknete sich die Hände ab und ereiferte sich über die Damen, die helfen sollten und gerade an dem Morgen, an dem man sie dringend gebraucht hätte, alle miteinander verschwunden waren.

»Auch Frau Volmar!« setzte sie hinzu. »Ich frage Sie nur, wo sie hat hingeraten können! Seitdem wir hier sind, hat man sie nicht einmal eine Stunde lang gesehen!«

»Lassen Sie doch Frau Volmar in Ruhe!« antwortete Frau von Jonquière etwas ungeduldig. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie krank geworden ist.«

Übrigens eilten beide zum Bett der Frau Vêtu. Ferrand stand davor und wartete. Schwester Hyacinthe hatte ihn gefragt, ob es nichts für sie zu tun gäbe; mit einem Zeichen des Kopfes verneinte er es. Die Sterbende war, durch ihr erstes Erbrechen gleichsam erleichtert, regungslos und mit geschlossenen Augen liegengeblieben. Aber die schreckliche Übelkeit kam ein zweitesmal wieder, sie erbrach neuerdings eine Flut schwarzen, mit violettem Blut vermischten Auswurf. Daraufhin stellte sich eine gewisse Beruhigung ein. Sie öffnete die Augen und bemerkte die Grivotte, die auf der am Boden liegenden Matratze gierig ihr Brot verzehrte. Und sie flüsterte:

»Sie ist geheilt, nicht wahr?«

Die Grivotte hörte es und rief aufgeregt:

»O ja! Ich bin geheilt, geheilt, ganz und gar geheilt!«

Einen Augenblick schien Frau Vêtu einer entsetzlichen Traurigkeit zu verfallen, der Auflehnung des Wesens, das nicht sterben will, wenn andere weiter leben. Aber hingerissen und besiegt, fügte sie sich mit Ergebung. Man hörte, wie sie sehr leise hinzusetzte:

»Die Jungen müssen dableiben. Die Heilige Jungfrau hat recht gehabt.«

Ihre Augen schlossen sich nicht wieder. Sie gingen in der Runde herum und schienen der ganzen Welt, die sie hier sah, Lebewohl zu sagen. Sie lächelte sogar mühsam, als sie dem überaus neugierigen Blick begegnete, den die kleine Sophie Couteau fortwährend auf sie richtete. Das hübsche Kind war morgens noch gekommen, um sie in ihrem Bett zu umarmen. Elise Rouquet gab sich mit niemandem mehr ab. Sie hatte ihren Spiegel vorgenommen und war vertieft in die Betrachtung ihres Gesichtes, von dem sie glaubte, es werde augenscheinlich schöner, seitdem die Wunde einzutrocknen begann. Der Anblick aber, den die in ihrer Ekstase hinreißende Marie bot, schien die Sterbende zu entzücken. Sie betrachtete sie lange, und zu ihr wanderten ihre Blicke immer wieder zurück, wie auf eine lichtvolle, freudenspendende Erscheinung. Vielleicht glaubte sie schon die Heiligen des Paradieses im Glorienlicht der Sonne wahrzunehmen.

Plötzlich begann sie wiederum, sich zu erbrechen, und von jetzt an kam nur noch Blut, verdorbenes, weinfarbiges Blut zum Vorschein. Der Erguß war so stark, daß er das Leintuch bespritzte und das ganze Bett besudelte. Es war vergeblich, daß Frau von Jonquière und Frau Desagneaux, beide sehr bleich und mit versagenden Beinen, Servietten brachten. Ferrand, der nicht zu helfen vermochte, hatte sich bis ans Fenster zurückgezogen, und auch Schwester Hyacinthe in einer instinktiven Bewegung, deren sie sich gewiß nicht bewußt war, kam zu jenem glücklichen Fenster zurück, gleichsam als wollte sie sich eng an ihn lehnen.

»Mein Gott!« sagte sie wiederholt, »Sie können also nichts tun?«

»Nein, nichts! Sie wird verlöschen wie eine Lampe, deren Öl auf die Neige geht.«

Frau Vêtu richtete jetzt, indem sie die Lippen bewegte, ihre Blicke fest auf Frau von Jonquière. Sie war erschöpft, und noch floß ihr ein Faden rotes Blut aus dem Mund. Die Vorsteherin neigte sich über sie und hörte, wie sie langsam halbe Worte kaum zu Ende sprach:

»Wegen meines Gatten ... Der Laden befindet sich in der Rue Mouffetard. Er ist ganz klein, nicht weit weg von den Gobelins. Er ist Uhrmacher und konnte mich natürlich nicht begleiten, wegen der Kundschaft. Er wird wohl in Verlegenheit geraten, wenn er mich nicht zurückkommen sieht ...«

Ihre Stimme wurde schwächer, und ein stoßweises Röcheln unterbrach die Worte.

»Ich möchte Sie bitten, ihm zu schreiben, denn ich ... ich habe es nicht getan, und jetzt ist es zu Ende ... Sagen Sie ihm, daß mein Leichnam in Lourdes bleibt, sonst würde es zuviel Kosten machen ... Und er soll wieder heiraten, das verlangt das Geschäft ... Die Cousine, sagen Sie ihm, die Cousine ...«

Sie brachte nur noch ein verworrenes Murmeln hervor. Ihre Schwäche war zu groß, der Atem stand still. Trotzdem blieben die Augen offen und lebten noch in dem gelben, wachsbleichen Gesicht. Und diese Augen schienen sich verzweiflungsvoll an die Vergangenheit, an alles anzuklammern, was bald nicht mehr für sie bestehen sollte: an den kleinen Uhrmacherladen in einem volkreichen Stadtviertel, an die gleichmäßige, angenehme Führung des Haushaltes an der Seite eines arbeitsamen Gatten, der sich stets über seine Uhren beugte, an das große Vergnügen, das man am Sonntag genoß, wenn man bei den Festungswerken Papierdrachen steigen sah. Dann erweiterten sich die Augen, sie suchten vergeblich etwas zu unterscheiden in der schrecklichen Nacht, die vor ihnen aufstieg.

Ein letztes Mal neigte sich Frau von Jonquière, da sie die Lippen der Sterbenden neuerdings in Bewegung sah. Aber nur noch wie ein leichtes Beben der Luft ertönte wie aus weiter Ferne und in grenzenloser Trostlosigkeit eine Stimme, die vom Jenseits herüber zu zittern schien:

»Sie hat mich nicht geheilt!«

Und Frau Vêtu verschied ganz sanft.

Ais ob sie nur darauf gewartet hätte, sprang die kleine Sophie Couteau befriedigt vom Bett herab und ging an das Ende des Saales zurück, um wieder mit ihrer Puppe zu spielen. Weder die Grivotte, die damit beschäftigt war, den Rest ihres Brotes zu essen, noch Elise Rouquet, die ihr Spiegel ganz in Anspruch nahm, hatten die Katastrophe wahrgenommen. Aber Marie schien im kalten Hauch, der von der Toten ausging, und bei dem bestürzten Zischeln der Frau von Jonquière und der Frau Desagneaux, denen die Gewöhnung an die Nähe des Todes fehlte, zu erwachen. Sie trat heraus aus ihrer erwartungsvollen Verzückung, in die sie das fortgesetzte, wortlose, bei geschlossenem Munde aus ihrem ganzen Wesen aufsteigende Gebet versetzt hatte. Und nachdem sie begriffen hatte, was vorgegangen war, rührte sie, die ihrer Heilung gewiß war, ein schwesterliches Mitleid mit ihrer Leidensgefährtin zu Tränen.

»Ach!« seufzte sie, »die arme Frau, die so in der Ferne, so allein in der Stunde der Wiedergeburt sterben mußte!«

Auch Ferrand war trotz seiner berufsmäßigen Gleichgültigkeit tief gerührt. Er war näher getreten, um den Tod festzustellen. Auf ein Zeichen von ihm warf Schwester Hyacinthe das Bettuch über die Tote und bedeckte deren Gesicht. Denn man durfte nicht daran denken, in diesem Augenblick den Leichnam fortzutragen. Die Kranken kamen truppweise von der Grotte zurück, und der bisher so ruhige, vom Sonnenschein erhellte Saal füllte sich wieder mit seinem Elend und Leiden, mit tiefem Husten, schleppenden Beinen und fadem Geruch. Er wurde wieder zu einer jammervollen Ausstellung aller menschlichen Gebrechen.


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