Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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IV

Doktor Chassaigne erwartete Pierre vor dem Feststellungsbüro. Dort war jedoch eine dichte, fieberhaft aufgeregte Menge versammelt, die den eintretenden Kranken auflauerte und sie ausfragte. Beim Herauskommen jubelte sie ihnen zu, da sich die Nachricht von einem Wunder verbreitete: ein Blinder sah wieder, eine Taube hörte wieder und ein Gichtbrüchiger konnte wieder gehen.

Pierre hatte große Mühe durch dieses Getümmel zu dringen.

»Nun?« fragte er den Doktor,– »hat sich ein Wunder ereignet, aber ein wirkliches, ein unbestreitbares?«

Der Doktor, nachsichtig in seinem neuen Glauben, lächelte.

»Ah, das wäre!« sagte er. »Ein Wunder geschieht nicht auf Kommando. Gott schreitet ein, wann er will.«

Pfleger bewachten die Tür streng. Aber alle kannten den Doktor, sie traten achtungsvoll auf die Seite und ließen ihn mit seinem Begleiter eintreten. Dies Büro, in dem die Heilungen festgestellt wurden, war sehr schlecht in einer elenden Bretterhütte untergebracht, die aus zwei Räumen bestand, einem engen Vorzimmer und einem allgemeinen, unzulänglichen Versammlungssaal. Übrigens ging die Rede, man würde diesen Dienstzweig verbessern, indem man ihm im kommenden Jahr ein ausgedehnteres Quartier, ein ganzes, weites Lokal unter einer Rampe der Rosenkranzkirche anweisen wollte, dessen Einrichtung man bereits vorbereitete.

Im Vorzimmer, in dem nur eine hölzerne Bank stand, sah Pierre zwei Kranke sitzen, die unter der Aufsicht eines jungen Pflegers warteten, bis die Reihe an sie kam. Als er jedoch in den allgemeinen Saal eintrat, überraschte ihn die Anzahl der dort zusammengedrängten Personen, während ihm die erstickende Hitze, die zwischen den von der Sonne durchglühten Holzwänden angesammelt war, das Gesicht verbrannte. Der Saal war ein viereckiger, hellgelb angemalter, nackter Raum, mit einem einzigen Fenster, dessen Scheiben mit weißer Farbe getrübt waren, damit die draußen sich drückende Menge nichts sehen konnte. Man wagte nicht einmal, das Fenster zu öffnen, um den Saal zu lüften, denn sonst wäre eine Flut von neugierigen Köpfen im Rahmen sichtbar geworden. Die Einrichtung war primitiv: sie bestand aus zwei Tischen aus Tannenholz von ungleicher Höhe, die man an ihren Enden zusammengerückt und nicht einmal mit einer Decke bedeckt hatte, aus einer Art von großem Büchergestell mit Akten, Registern und Broschüren und einigen dreißig Strohstühlen, die den ganzen Fußboden einnahmen, und aus zwei alten, zerfetzten Armsesseln für die Kranken.

Sobald Doktor Bonamy ihn bemerkte, eilte er dem Doktor Chassaigne entgegen, an dem die Grotte eine ihrer letzten und ruhmreichsten Eroberungen gemacht hatte. Er fand einen Stuhl für ihn und hieß auch Pierre, dessen Soutane er seine Verehrung erwies, niedersitzen. Dann sagte er überaus höflich:

»Mein lieber Kollege! Sie gestatten mir fortzufahren. Wir waren eben dabei, das Fräulein zu untersuchen.«

Es handelte sich um eine Taube, ein Bauernmädchen von zwanzig Jahren, das in dem einen Armsessel saß. Aber anstatt zuzuhören, begnügte sich der sehr ermüdete Pierre, dessen Kopf noch summte, damit, umher zu schauen, indem er versuchte, sich Rechenschaft über die Leute abzulegen, die sich da befanden. Es konnten einige fünfzig Leute sein; viele hielten sich aufrecht, indem sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnten. Vor den zwei Tischen saßen ihrer fünf, in der Mitte der Vorstand des Weihdienstes, der unaufhörlich ein dickes Register zu Rate zog, dann ein Pater von Mariä Himmelfahrt und drei junge Seminaristen, die als Sekretäre ihres Amtes walteten. Sie schrieben, gingen die Akten durch und ordneten diese nach jeder Untersuchung wieder in ihre Fächer ein. Pierre interessierte sich besonders für einen Pater von der Unbefleckten Empfängnis, den Pater Dargelès, Chefredakteur der »Grotten-Zeitung«, den man ihm am Morgen gezeigt hatte. Sein kleines, unbedeutendes Gesicht mit den blinzelnden Augen, der spitzigen Nase und dem feinen Mund lächelte fortwährend. Er saß bescheiden am Ende des niedrigsten der zwei Tische und machte bisweilen Notizen für seine Zeitung. Während der drei Tage der nationalen Pilgerfahrt zeigte er sich allein von der ganzen geistlichen Genossenschaft. Aber hinter ihm ahnte man alle die anderen, die gleichsam eine langsam angewachsene, verborgene Macht darstellten, die alles organisierte und alles zusammenfaßte.

Im übrigen zählte die Versammlung fast nur Neugierige, Zeugen, einige zwanzig Ärzte und etliche Priester. Die Ärzte, die so ziemlich von überallher gekommen waren, bewahrten größtenteils Stillschweigen. Einige von ihnen erkühnten sich, Fragen zu stellen. Sie tauschten dann und wann zweideutige Blicke aus und schienen mehr beschäftigt, sich untereinander zu überwachen, als die ihrer Prüfung unterworfenen Tatsachen festzustellen. Wer konnten sie sein? Vollständig unbekannte Namen waren hergesagt worden, nur ein einziger hatte eine Bewegung verursacht, der eines berühmten Doktors einer katholischen Universität.

An diesem Tag hob Doktor Bonarny, der sich niemals setzte, wenn er die Sitzung leitete und die Kranken befragte, seine zuvorkommenden Artigkeiten vornehmlich für einen kleinen blonden Herrn auf. Es war ein Schriftsteller, der für eine der meistgelesenen Pariser Zeitungen arbeitete und den der Zufall am gleichen Morgen nach Lourdes gebracht hatte. War da nicht ein Ungläubiger zu bekehren, ein Einfluß und eine Gelegenheit zur Bekanntmachung des Vorgefallenen nutzbar zu machen? Der Doktor hatte ihn genötigt, den zweiten Armsessel einzunehmen. Er trug eine lächelnde Gutmütigkeit zur Schau, gab ihm eine große Vorstellung und versicherte ihn wiederholt, man hätte nichts zu verheimlichen, da alles beim hellen Tag vor sich gehe.

»Wir verlangen nur Licht«, sagte er wiederholt. »Wir hören nicht auf, Männer von gutem Willen zur Prüfung der Tatsachen aufzufordern.«

Weil sich dann die behauptete Heilung der Tauben als sehr ungenügend herausstellte, fuhr er das Mädchen ein wenig an.

»Gehen Sie! Warum nicht gar, meine Tochter! Es ist nur ein Anfang ... Sie müssen noch einmal kommen ...«

Und halblaut fügte er bei:

»Wenn man auf sie hören würde, wären sie alle geheilt. Wir nehmen aber nur bewiesene Heilungen an, die klar sind wie die Sonne. Bemerken Sie wohl, daß ich Heilungen sage und nicht Wunder. Denn wir Ärzte erlauben uns keine Auslegung. Wir sind einfach hier, um festzustellen, daß die unserer Prüfung unterstellten Kranken keine Spur von Krankheit mehr zeigen.«

Er brüstete sich mit seiner Rechtschaffenheit und war weder ein größerer Einfaltspinsel noch ein größerer Lügner als etwa ein anderer, der gläubig war, ohne zu glauben und sich die unverständliche und überaus erstaunliche Überzeugung zu eigen gemacht hatte, daß das Unmögliche immer in Erfüllung gehen könne. Am Abend seines ärztlichen Lebens hatte er sich so bei der Grotte eine Ausnahmestellung geschaffen, die ihre Unannehmlichkeiten, aber auch ihre Vorteile besaß, im ganzen jedoch sehr angenehm und glücklich war.

Jetzt erklärte er auf eine Frage des Pariser Journalisten die Art und Weise, wie er vorging. Jeder Kranke der Pilgerfahrt kam mit einem Aktenheft an, in dem sich fast stets ein Zeugnis des ihn behandelnden Arztes befand. Manchmal waren sogar Zeugnisse verschiedener Ärzte und eine ganze Krankheitsgeschichte vorhanden. Wenn sich dann eine Heilung vollzogen hatte und die gesundgewordene Person sich vorstellte, so genügte es, sich auf ihre Papiere zu berufen und die Zeugnisse nachzulesen, um die Krankheit, an der sie gelitten hatte, festzustellen und durch eine Untersuchung zu konstatieren, ob diese in der Tat verschwunden sei.

Pierre hörte zu. Seitdem er in Ruhe dasaß, legte sich seine Aufregung, und er fand seinen klaren Verstand wieder. Augenblicklich belästigte ihn nur die Hitze. Angezogen durch die Erklärungen des Doktors Bonamy und begierig, sich eine Meinung zu bilden, hätte er, ohne das Kleid, das er trug, auch das Wort ergriffen. Aber das Kleid des Priesters verurteilte ihn zu einem fortwährenden zurückhaltenden Benehmen. Deshalb war er sehr erfreut, den kleinen blonden Herrn, den einflußreichen Schriftsteller, Einwendungen vorbringen zu hören, die sich auf der Stelle darboten. Schien es nicht überaus ungeeignet, daß der eine Arzt die Diagnose der Krankheit vornahm und ein anderer die Heilung feststellte? Das war doch sicher eine ununterbrochene Quelle von möglichen Irrtümern. Das beste wäre doch sicher, wenn eine ärztliche Kommission alle Kranken gleich bei ihrer Ankunft in Lourdes untersuchte und Protokolle abfaßte, auf die dieselbe Kommission sich in jedem Heilungsfall beziehen könnte. Dagegen erhob der Doktor Bonamy Einspruch, indem er mit einiger Berechtigung vorbrachte, daß eine Kommission niemals einer so riesenhaften Arbeit gewachsen wäre.

»Bedenken Sie doch! Tausend Kranke an einem Morgen zu untersuchen! Und welche verschiedenen Theorien, welche Auseinandersetzungen und sich widersprechenden Diagnosen würden die Ungewißheit vermehren! Die vorhergehende, beinahe unmöglich durchzuführende Untersuchung der Kranken gäbe in der Tat Veranlassung zu ebenso großen Irrtümern.« In der Praxis mußte man sich an diese, von den Ärzten der Kranken ausgestellten Zeugnisse halten, die eine wesentliche, entscheidende Wichtigkeit gewannen. Man blätterte auf dem einen Tisch in den Aktenheften und ließ den Pariser Journalisten Zeugnisse lesen. Viele waren unangenehm kurz, andere, besser abgefaßte spezifizierten die Krankheiten genau. Einige Unterschriften der Ärzte waren sogar von den Bürgermeistern beglaubigt. Aber es blieben noch zahllose, unbezwingliche Zweifel übrig. Wer waren die Ärzte? Besaßen sie die nötige wissenschaftliche Autorität? Hatten sie nicht unbekannten Umständen, rein persönlichen Interessen Gehör geschenkt? Man war versucht, über jeden von ihnen nähere Auskünfte zu fordern. Sobald alles auf dem vom Kranken mitgebrachten Aktenheft beruhte, hätte es einer sehr sorgfältigen Kontrolle der Dokumente bedurft. Denn alles fiel zusammen, wenn nicht eine strenge Kritik die Gewißheit der Tatsachen festgestellt hatte.

Ganz rot, in Schweiß gebadet, mühte sich Doktor Bonamy ab, folgendes darzulegen:

»Aber gerade das tun wir ja! Sobald ein Heilungsfall uns auf natürlichem Wege unerklärlich erscheint, schreiten wir zu einer eingehenden Untersuchung. Wir bitten die geheilte Person, wiederholt hierherzukommen, um sich untersuchen zu lassen. Und Sie sehen wohl, daß wir uns mit allen möglichen kenntnisreichen Leuten umgeben. Die Herren, die uns zuhören, sind fast lauter Ärzte. Sie sind aus den verschiedensten Gegenden Frankreichs herbeigeeilt. Wir beschwören sie, uns ihre Zweifel mitzuteilen und die Fälle mit uns zu erörtern. Über jede Sitzung wird ein sehr ins einzelne gehendes Protokoll aufgenommen. Sie verstehen mich, meine Herren! Legen Sie nur Verwahrung ein, wenn hier irgend etwas geschehen sollte, was gegen Ihre Überzeugung ist.« Nicht einer von der Versammlung rührte sich. Die Mehrzahl der anwesenden Ärzte mußten Katholiken sein: natürlich beugten sie sich. Und was die anderen betrifft, die Ungläubigen, die Gelehrten ohne Vorbehalt, so schauten sie zu, interessierten sich für gewisse Erscheinungen, vermieden es aber aus Höflichkeit, in – übrigens unnütze – Erörterungen einzutreten. Wenn ihnen als verständigen Männern das Mißbehagen zu groß wurde und sie sich dem Ärger nahe fühlten, dann gingen sie weg.

Als niemand ein Wort sprach, triumphierte Doktor Bonamy. Und als der Journalist ihn fragte, ob er denn allein eine so große Arbeit zu bewältigen hätte, antwortete er:

»Ganz und gar allein. Mein Amt als Arzt der Grotte ist nicht so kompliziert, denn ich wiederhole, es besteht einfach darin, die Heilungen festzustellen, sobald sich eine Heilung vollzieht.«

Er verbesserte sich jedoch, indem er lächelnd hinzufügte:

»Ah! Ich vergaß! Ich habe ja Raboin, der mir hilft, hier ein wenig Ordnung zu schaffen.«

Und mit einer Handbewegung bezeichnete er einen dicken, etliche vierzig Jahre alten, schon ergrauenden Mann mit plumpem Gesicht und den Kinnladen einer Dogge. Dieser war gläubig bis zum Fanatismus, ein überspannter Mensch, der nicht zugab, daß man an die Wunder rührte. Darum litt er auch unter seiner Tätigkeit im Büro der Beurkundungen und knurrte immer vor Zorn, sobald man daran zweifelte. Der Appell an die Ärzte hatte ihn außer sich gebracht, so daß ihn der Doktor beruhigen mußte.

»Lassen Sie doch, Raboin, mein Freund! Schweigen Sie! Alle aufrichtigen Meinungen haben das Recht, sich kundzugeben.«

Aber jetzt kamen die Kranken der Reihe nach an. Man brachte einen Mann herbei, dessen ganzen Rumpf ein Bläschenausschlag bedeckte. Als er das Hemd auszog, fiel von seiner Haut ein graues Mehl herab. Er war nicht geheilt. Er behauptete bloß, daß er jedes Jahr nach Lourdes käme und jedesmal erleichtert wieder abreise. Dann war eine Dame da, eine Gräfin von entsetzlicher Magerkeit mit einer außerordentlichen Geschichte: Nachdem sie sieben Jahre früher von der Heiligen Jungfrau ein erstes Mal von einer Lungenschwindsucht geheilt worden war, hatte sie vier Kinder bekommen. Darauf wiederum der Schwindsucht verfallen, war sie jetzt morphiumsüchtig. Aber schon durch ihr erstes Bad gestärkt, nahm sie sich vor, schon am Abend mit den siebenundzwanzig Personen ihrer Familie, die sie mitgebracht hatte, der Fackelprozession beizuwohnen. – Hierauf trat eine von nervöser Sprachlosigkeit befallene Frau ein. Nachdem sie monatelang ganz stumm gewesen war, erhielt sie plötzlich, zur Zeit der Vieruhrprozession, beim Vorüberziehen des heiligen Sakraments die Sprache wieder.

»Meine Herren!« erklärte Doktor Bonamy mit dem angenommenen feinen Ton eines Gelehrten von sehr weiten Ideen, »Sie wissen, daß wir uns die Entscheidung der Fälle nicht vorbehalten, sobald es sich um einen Nervenzufall handelt. Bemerken Sie trotzdem, daß diese Frau während sechs Monaten in der Salpetrière ärztlich behandelt worden ist und daß sie hierherkommen mußte, um das Band ihrer Zunge auf einmal gelöst zu sehen.«

Trotzdem zeigte er einige Ungeduld, denn er hätte dem Pariser Herrn einen schönen Fall vorführen mögen, wie sich deren bisweilen während dieser Vieruhrprozession ereigneten. Sie war die Stunde der Gnade und der Begeisterung, zu der die Heilige Jungfrau für ihre Auserwählten Fürbitte einlegte. Die Heilungen, die sich bis jetzt der Reihe nach gezeigt hatten, waren alle zweifelhaft und ohne Interesse gewesen. Draußen hörte man ein Getrampel von Füßen und das, dumpfe Gemurmel der Menge, die von Kirchenliedern erregt und erhitzt durch das erbitterte Verlangen nach dem, Übernatürlichen in Fieberwahn versetzt wurde und die in der Erwartung immer nervöser wurde.

Jetzt trat aber ein Mädchen ein, lächelnd und bescheiden, mit hellen, von Vernunft leuchtenden Augen.

»Ach!« rief der Doktor freudig, »da ist ja unsere kleine Freundin Sophie. Meine Herren! Eine bemerkenswerte Heilung, die sich im letzten Jahr zu ähnlicher Zeit ereignet hat und deren Erfolg ich Ihnen zeigen möchte.«

Pierre hatte die durch ein Wunder geheilte Sophie Couteau wiedererkannt, die in Poitiers in sein Abteil eingestiegen war. Er wohnte nun einer Wiederholung der Szene bei, die sich schon vor ihm abgespielt hatte. Doktor Bonamy gab jetzt dem kleinen, blonden, sehr aufmerksam zuhörenden Herrn die umständlichsten Erklärungen: ein Knochenfraß an der linken Ferse, der Anfang eines Brandes, der das Herausschneiden des Knochens notwendig machte und eine entsetzliche eiternde Wunde verursachte, war in einer Minute beim ersten Eintauchen in den Weiher geheilt worden.

»Sophie! Erzählen Sie es dem Herrn!«

Die Kleine nahm ihre hübsche, die Aufmerksamkeit festhaltende Haltung an.

»Ja«, begann sie, »mein Fuß war verloren. Ich konnte nicht einmal mehr in die Kirche gehen, und man mußte ihn stets in Leinwand einwickeln, denn es flossen Dinge heraus, die gar nicht sauber waren. Herr Rivoire, der Arzt, der einen Schnitt gemacht hatte, um hineinzusehen, sagte, man müsse ein Stück vom Knochen wegnehmen. Davon hätte ich ganz sicher gehinkt. Nachdem ich inbrünstig zur Heiligen Jungfrau gebetet hatte, habe ich meinen Fuß in das Wasser getaucht mit einem so großen Verlangen, geheilt zu werden, daß ich mir nicht einmal die Zeit nahm, die Leinwand wegzumachen. Und alles ist im Wasser zurückgeblieben. Als ich meinen Fuß herauszog, war alles weg.«

Doktor Bonamy folgte ihrer Rede und billigte jedes Wort mit einem Kopfnicken.

»Wiederholen Sie uns, Sophie, was Ihr Arzt sagte!«

»Daheim, als Herr Rivoire meinen Fuß sah, da hat er gesagt: ›Sei es der liebe Gott oder der Teufel, der dieses Kind geheilt hat, mir gilt das gleich: aber wahr ist's, daß es geheilt ist.‹«

Schallendes Gelächter brach los, das Wort hatte seine sichere Wirkung.

»Und, Sophie, was sagten Sie zur Frau Gräfin, der Direktorin Ihres Saales?«

»Ach ja. Ich hatte für meinen Fuß nicht viel Leinwand mitgenommen, drum sagte ich zu ihr: ›Die Heilige Jungfrau ist sehr gütig gewesen, mich gleich am ersten Tag zu heilen, denn bis morgen wäre mein Vorrat erschöpft gewesen.‹«

Es erhob sich ein neues Gelächter, und man gab sich allgemein zufrieden, als man sie so artig sah. Sie erzählte ihre Geschichte etwas zu oft, so daß sie sie schließlich auswendig wußte, aber sie war sehr rührend und schien glaubwürdig.

»Sophie!« befahl der Doktor, »ziehen Sie den Schuh aus und zeigen Sie diesen Herren Ihren Fuß. Man muß anfühlen, niemand soll zweifeln dürfen.«

Flink erschien der kleine, sehr weiße und sehr saubere, sogar sorgfältig gepflegte Fuß mit der Narbe unter dem Knöchel, einer langen Narbe, deren weißliche Naht Zeugnis für die Bedenklichkeit des Leidens ablegte. Einige Ärzte hatten sich genähert und betrachteten sie stillschweigend. Andere, die sich ohne Zweifel eine Überzeugung gebildet hatten, rührten sich nicht aus ihrer Stellung. Einer fragte mit sehr höflicher Miene, warum die Heilige Jungfrau, da sie doch einmal daran war, nicht einen ganz neuen Fuß gemacht habe, was ihr gewiß nicht mehr ausgemacht hätte. Doktor Bonamy erwiderte jedoch lebhaft, wenn die Heilige Jungfrau eine Narbe zurückließ, so sei dies sicher deshalb geschehen, damit eine Spur, ein Beweis des Wunders bestünde. Er ging auf technische Einzelheiten ein und zeigte, daß ein Knochensplitter sowie ein Teil des Fleisches in einem Nu wiederhergestellt werden mußten, das bliebe aber auf natürlichem Wege unerklärbar.

»Mein Gott!« unterbrach ihn der kleine blonde Herr, »es bedarf keiner so großen Umstände. Man zeige mir bloß einen Finger, der mit einem Federmesser geschnitten wurde und vernarbt aus dem Wasser herauskommt. Das Wunder wird ebenso groß sein, und ich werde mich beugen.«

Dann fügte er hinzu:

»Wenn ich eine Quelle hätte, die die Wunden schlösse, würde ich die Welt umstürzen. Ich weiß nicht, wie ich die Sache angriffe, aber ich würde die Völker herbeirufen, und die Völker würden kommen. Ich ließe die Wunder mit solch unumstößlicher Gewißheit vor aller Augen feststellen, daß ich zum Herrn der Erde würde. Denken Sie doch nur an diese außerordentliche, wahrhaft göttliche Macht! Aber es dürfte kein Zweifel bestehen bleiben: die Wahrheit müßte hell und klar wie die Sonne erstrahlen. Die ganze Erde würde kommen und glauben.«

Er erörterte mit dem Doktor die Mittel zu einer Kontrolle. Er hatte zugegeben, daß nicht alle Kranken bei ihrer Ankunft untersucht werden könnten. Aber warum richtete man im Spital keinen eigenen, für die offenen Wunden bestimmten Saal ein? Man hätte da höchstens etliche dreißig Personen, die man einer Kommission zur vorherigen Untersuchung übergeben könnte. Es müßten Befundsprotokolle aufgenommen und sogar die Wunden photographiert werden. Wenn sich nachher eine Heilung zeigte, so hätte die Kommission diese Tatsache nur in einem neuen Protokoll zu beurkunden. Und es würde sich da nicht mehr um innerliche Krankheiten handeln, deren Diagnose schwierig und stets bestreitbar sei. Die Dinge würden vor aller Augen liegen.

Ein wenig verlegen wiederholte Doktor Bonamy:

»Ohne Zweifel! Ohne Zweifel! Wir verlangen nur Licht. Die Schwierigkeit bestünde darin, diese Kommission zusammenzusetzen. Wenn Sie wüßten, wie wenig man einander versteht ... Aber es ist sicherlich eine Idee ...«

Er wurde unterstützt durch die Ankunft einer neuen Kranken. Während die kleine, schon vergessene Sophie Couteau ihren Schuh wieder anzog, erschien Elise Rouquet mit ihrem ungeheuerlichen Gesicht. Sie erzählte, daß sie sich seit dem Morgen mit Leinwandstücken am Brunnen wusch, und es schiene ihr wohl, als ob ihre Wunde eintrockne und blasser werde. Es war wirklich so. Pierre konstatierte sehr überrascht, daß das Aussehen der Wunde weniger schrecklich war. Der Fall gab dem Wortstreit über die offenen Wunden neue Nahrung, denn der kleine blonde Herr blieb starrköpfig bei seiner Idee, einen eigenen Saal dafür einzurichten. In der Tat, wenn man am selben Morgen den Zustand dieses Mädchens festgestellt hätte und es sollte wirklich genesen, welch ein Triumph für die Grotte, einen Lupus geheilt zu haben! Das Wunder würde nicht mehr zu leugnen sein.

Bis dahin hatte sich Doktor Chassaigne unbeweglich und stumm abseits gehalten, als ob er die Tatsachen allein auf Pierre einwirken lassen wollte. Plötzlich neigte er sich vor, um ihm halblaut zu sagen:

»Die offenen Wunden, die offenen Wunden! Dieser Herr läßt sich nicht träumen, daß heutzutage unsere gelehrten Ärzte vermuten, viele von jenen Wunden seien nervösen Ursprungs. Ja, man findet heraus, daß da einfach eine schlechte Ernährung der Haut vorhanden sei. Die Frage der Ernährung ist noch so wenig erforscht! Und man kann schließlich beweisen, daß der Glaube, der Heilungen bewirkt, durchaus imstande ist, Wunden, unter anderen auch gewisse Lupusgeschwüre, zu heilen. Dann frage ich Sie, welche Gewißheit würde jener Herr mit seinem famosen Saal für offene Wunden erhalten! Es gäbe nur noch mehr Verwirrung und ewigen, leidenschaftlichen Hader. Nein, nein! Alle Wissenschaft ist eitel, sie ist ein Meer von Ungewißheit.«

Er lächelte schmerzlich, während Doktor Bonamy Elise Rouquet aufforderte, die Abwaschungen fortzusetzen und jeden Morgen wiederzukommen, um sich untersuchen zu lassen.

Dann wiederholte er mit seiner verständigen und leutseligen Miene:

»Nun ja, meine Herren! Es ist ein Anfang da; das läßt sich nicht bezweifeln.«

Nun aber wurde das Büro gänzlich in Verwirrung gebracht. Wie ein Windstoß und tanzend kam die Grivotte hereingestürzt und schrie mit voller Stimme:

»Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!«

Sie erzählte, daß man sie anfangs nicht baden wollte. Sie habe darauf bestehen, flehentlich bitten und schluchzen müssen, bis man sich entschloß, es infolge einer förmlichen Erlaubnis des Paters Fourcade zu tun. Sie hatte es aber schon im voraus gesagt: nicht drei Minuten waren verflossen, seitdem man sie ganz in Schweiß gebadet und mit dem Röcheln einer Schwindsüchtigen im eiskalten Wasser untertauchte, da hatte sie gefühlt, wie ihr die Kräfte wiederkamen wie unter einem schweren Peitschenhieb, der in ihren ganzen Körper einschnitt. Sie wurde von einer Begeisterung, einem Feuer angeregt, so daß sie vor Freude strahlend hin und her trippelte und nicht auf einer Stelle stehenbleiben konnte.

»Ich bin geheilt, meine guten Herren! Ich bin geheilt!«

Pierre betrachtete sie jetzt ganz bestürzt. War denn das jenes Mädchen, das er die letzte Nacht im Zustand des äußersten Verfalls, hustend und blutspeiend, mit erdfahlem Gesicht auf der Bank des Abteils gesehen hatte? Er erkannte sie nicht wieder: sie stand da gerade und hoch aufgerichtet, mit feurigen Wangen und funkelnden Augen, voller Willen zu leben.

»Meine Herren!« erklärte Doktor Bonamy, »der Fall scheint mir sehr interessant. Wir wollen sehen.«

Er verlangte das Aktenheft der Grivotte. Aber man fand es nicht unter dem Papierhaufen auf den zwei Tischen. Die Sekretäre, nämlich die jungen Seminaristen, kehrten das unterste zu oberst. Der Vorstand, der in der Mitte saß, mußte sich erheben und im Bücherschrank nachsehen. Als er endlich seinen Stuhl wieder einnahm, entdeckte er das Aktenheft unter dem Register, das er groß aufgeschlagen vor sich liegen hatte. Es befanden sich sogar drei ärztliche Zeugnisse darin, die er selbst vorlas. Übrigens schlossen alle drei auf eine vorgeschrittene Schwindsucht, die durch Nervenzufälle verwickelt und ganz eigentümlich gestaltet war.

Doktor Bonamy schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, eine solche Übereinstimmung lasse keinen Zweifel aufkommen. Dann hörte er die Kranke ab und flüsterte schließlich: »Ich höre nichts. Ich höre nichts.« Doch verbesserte er sich. »Oder beinahe nichts«, sagte er.

Dann wandte er sich zu den fünfundzwanzig bis dreißig Ärzten, die sich schweigend verhielten:

»Meine Herren! Wenn einige von Ihnen mir mit Ihrem Wissen Hilfe leisten wollen ... Wir sind hier, um zu studieren und zu untersuchen.«

Zuerst rührte sich niemand von der Stelle. Hernach wagte es einer, sich darauf einzulassen. Er hörte das junge Mädchen ab, aber er sprach sich nicht aus, dachte nach und schüttelte zweifelhaft den Kopf. Endlich stotterte er, ihm schiene, man müsse die Sache abwarten. Aber sofort nahm ein anderer seinen Platz ein, und dieser sprach sich ganz bestimmt aus: er hört durchaus nichts, niemals sei diese Frau schwindsüchtig gewesen. Noch andere folgten ihm, endlich waren alle an der Reihe gewesen mit Ausnahme von fünf oder sechs, die unter feinem Lächeln eine feste Haltung bewahrten. Die Verwirrung war auf einer ihrer höchsten Stufen angelangt, denn jeder gab seine merklich abweichende Meinung kund, derart, daß man in dem lärmenden Durcheinander der Stimmen sich selber nicht mehr sprechen hörte. Nur der Pater Dargelès zeigte die Ruhe vollständiger Unbefangenheit, denn er hatte einen jener Fälle aufgespürt, die die Leidenschaften erwecken und den Ruhm unserer lieben Frau von Lourdes bilden. An einer Ecke des Tisches machte er bereits seine Notizen.

Dank dem lauten Stimmengewirr konnten Pierre und Doktor Chassaigne abseits plaudern, ohne daß: man sie hörte.

»Oh, diese Weiher, die ich soeben gesehen habe«, sagte der junge Priester, »diese Weiher, deren Wasser man so selten erneuert! Welcher Unrat, welche Mikrobenbrühe! Ach, die Sucht und die Begeisterung für antiseptische Vorsichtsmaßregeln, der wir verfallen sind, erhält da eine gewaltige Ohrfeige. Wie kommt es nur, daß nicht eine und dieselbe Pest alle diese Kranken hinwegrafft? Die Gegner der Theorie von den Bazillen können lachen!«

Der Doktor tat ihm Einhalt.

»Aber nein, mein Sohn! Wenn die Bäder auch nicht reinlich sind, so bringen sie doch keinen Schaden. Bedenken Sie, daß das Wasser nicht über zehn Grad steigt, und um Bazillen zu züchten, bedarf es deren fünfundzwanzig. Dann kommen durchaus keine ansteckenden Krankheiten nach Lourdes, weder Cholera noch Typhus, weder schwarze Blattern noch Masern und Scharlach. Wir sehen nur gewisse organische Krankheiten, wie Lähmungen, Skrofeln, Krebsgeschwülste, die Eitergeschwüre und Abszesse, Krebs und Schwindsucht, und diese ist durch das Wasser der Bäder nicht übertragbar. Die alten Wunden, die man darin anfeuchtet, bieten keine Gefahr der Ansteckung. Ich versichere Sie, daß in dieser Hinsicht selbst die Heilige Jungfrau nicht einzuschreiten braucht.«

»Nun, Doktor, hätten Sie vormals, als Sie noch praktizierten, alle Ihre Kranken im eiskalten Wasser baden lassen? Die Frauen, gleichviel zu welcher Zeit des Monats, die Rheumatiker, die Herzleidenden, die Schwindsüchtigen? Dieses unglückliche, halbtote, von Schweiß überströmte Mädchen hätten Sie baden lassen?«

»Sicherlich nicht! Es gibt stark wirkende Mittel, die man nicht ohne weiteres anzuwenden wagt. Gewiß kann ein eiskaltes Bad einen Schwindsüchtigen töten, aber wissen wir denn, ob es ihn unter bestimmten Umständen nicht retten kann? Ich habe zugegeben, daß eine übernatürliche Kraft hier waltet, und ich räume sehr gern ein, daß Heilungen sich auf natürliche Weise vollziehen müssen, dank dieser Eintauchung ins kalte Wasser, die uns so töricht und barbarisch erscheint. Ach, wieviel ist uns noch unbekannt ...«

Er verfiel wieder in seinen Zorn, in seinen Haß gegen die Wissenschaft, die er verachtete, seitdem sie ihn in seiner Ohnmacht beim Todeskampf seiner Frau und seiner Tochter im Stiche gelassen hatte.

Dann fuhr er fort:

»Sie verlangen Zuverlässigkeit, die medizinische Wissenschaft wird sie Ihnen gewiß nicht bieten. Hören Sie einen Augenblick diesen Herren zu, und seien Sie erbaut davon! Ist sie nicht schön, diese vollständige Verwirrung, in der alle Ansichten sich widerstreiten? Gewiß, es gibt Krankheiten, die man vortrefflich kennt, bis in die kleinsten Phasen ihrer Entwicklung, es gibt Mittel, deren Wirkung man mit der gewissenhaftesten Sorgfalt erforscht hat. Was man aber nicht weiß und nicht wissen kann, das ist die Beziehung, in der das Mittel zur Krankheit steht, denn jeder Kranke ist ein besonderer Fall, und bei jedem muß eben wieder ein Versuch gemacht werden. Das ist der Grund, weshalb die Arzneiwissenschaft eine Kunst bleibt: sie kann keine auf Erfahrung gegründete strenge Regel besitzen. Stets hängt die Heilung vom Zufall, von einem glücklichen Umstand, vom findigen Geist des Arztes ab. Und dann begreifen Sie wohl, daß die Leute, die zu den Beratungen hierherkommen, mich zum Lachen bringen, wenn sie im Namen der absoluten Gesetze der Wissenschaft sprechen. Wo sind sie denn, diese Gesetze in der Medizin? Man zeige sie mir!«

Er wollte nicht weiter darüber reden. Aber seine Leidenschaft riß ihn fort.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich gläubig geworden bin. Allein ich verstehe in der Tat sehr wohl, warum dieser brave Doktor Bonamy sich durchaus nicht aufregt, und daß er die Ärzte der ganzen Welt zusammenruft, um seine Wunder zu erforschen. Je mehr Ärzte da sind, desto weniger kommt bei diesem Widerstreit von Diagnosen und Behandlungsmethoden die Wahrheit ans Licht. Wenn man sich nicht einmal über eine sichtbare Wunde einigt, so kann man sich nicht über eine innerliche Verletzung verständigen, die die einen verneinen, während die anderen sie bestätigen. Warum sollte demnach nicht alles zum Wunder werden? Denn genau genommen, ob die Natur wirksam ist oder eine unbekannte Kraft, die Ärzte werden meistens nicht weniger in Erstaunen gesetzt durch den Ausgang der Krankheiten, den sie nur in seltenen Fällen vorhergesehen haben. Ohne Zweifel sind die Dinge hier schlecht organisiert. Diese Zeugnisse von Ärzten, die man nicht kennt, haben keinen ernsthaften Wert. Es bedürfte einer sehr strengen Kontrolle der Dokumente. Aber selbst eine absolute wissenschaftliche Strenge vorausgesetzt, wären Sie doch sehr naiv, mein liebes Kind, wenn Sie glaubten, daß sich eine offenbare Überzeugung für alle ergäbe. Der Irrtum liegt einmal im Menschen, und es gibt kein heldenmäßigeres Werk, als auch nur die kleinste Wahrheit festzustellen.«

Da ging Pierre das Verständnis auf für das, was in Lourdes vorging: für das außerordentliche Schauspiel, dem die Welt seit Jahren beiwohnte unter der frommen Anbetung der einen und dem beschimpfenden Gespött der anderen. Gewiß waren noch wenig erforschte, selbst ganz unbekannte Kräfte tätig, wie Autosuggestion, von langer Hand vorbereitete Erschütterung, die hinreißende Gewalt der Reise, der Gebete und Gesänge, die zunehmende Aufregung und vor allem der die Heilung bewirkende Odem, die unbekannte Triebkraft, die in der heftigen Krise des Glaubens von den Volksmassen ausströmte. Darum schien es ihm nunmehr wenig verständig, an Betrug zu glauben. Die Tatsachen lagen viel höher und zugleich viel einfacher. Die Patres der Grotte brauchten nicht zu Lügen zu greifen. Es genügte ihnen, zur Verwirrung mitzuhelfen und die allgemeine Unwissenheit auszunützen. Man durfte sogar annehmen, daß alle im guten Glauben waren: die Ärzte ohne Genie, die die Zeugnisse ausstellten, die getrösteten Kranken, die sich geheilt glaubten, und die leidenschaftlichen Zuschauer, die schwören, es gesehen zu haben ... Und aus alldem ergab sich die offenbare Unmöglichkeit, zu beweisen, daß ein Wunder vorliege oder nicht. Wurde es nicht schon dadurch für die meisten, für alle, die litten und der Hoffnung bedurften, zur Wirklichkeit?

Doktor Bonamy, der sie abseits plaudern sah, hatte sich ihnen genähert. Da wagte es Pierre, ihn zu fragen:

»In welchem Verhältnis ungefähr vollziehen sich die Heilungen?«

»Es kommen beiläufig zehn Heilungen auf hundert Kranke«, antwortete er.

Und weil er in den Augen des jungen Priesters las, was dieser nicht sagen konnte, so fügte er mit vollkommener Gutmütigkeit bei:

»Oh, wir würden deren mehr erzielen, alle wären geheilt, wenn wir auf sie hören wollten. Aber es muß wohl gesagt werden: ich bin hier, um die Wunder ein wenig unter Polizeiaufsicht zu halten. Mein ganzes Amt besteht darin, den allzu großen Eifer zu hemmen und zu verhüten, daß die heiligen Dinge ins Lächerliche gezogen werden. Kurz, mein Büro ist nur eine Beglaubigungsstelle für Heilfälle, die in der Tat ernst erscheinen.«

Aber er wurde durch dumpfes Gemurmel unterbrochen. Es war Raboin, der sich ärgerte.

»Heilfälle, die ernst erscheinen!« knurrte er. »Wozu ist deren Feststellung und Beglaubigung gut? Das Wunder vollzieht sich ununterbrochen. Wozu dasselbe für die Gläubigen amtlich feststellen? Sie haben sich nur zu beugen und zu glauben. Und für die Ungläubigen? Was nützt es diesen wiederum? Man wird sie doch niemals überzeugen. Dummheiten machen wir hier!«

Doktor Bonamy befahl ihm streng, zu schweigen.

»Raboin!« sagte er, »Sie sind ein Rebell. Ich werde dem Pater Capdebarthe sagen, daß ich nichts mehr von Ihnen wissen will, weil Sie Ungehorsam säen.«

Und doch war er im Recht, dieser Bursche, der die Zähne wies und sich stets bereit zeigte zu beißen, sobald man an seinen Glauben rührte. Pierre betrachtete ihn mit Sympathie. In der Tat war dieses ganze, noch dazu übel eingerichtete Geschäft des Büros der Beurkundungen unnütz, da es die Frommen verletzte und für die Ungläubigen ungenügend war. Läßt sich ein Wunder beweisen? Man muß daran glauben. Es ist zu Ende mit dem Begreifen, sobald Gott einschreitet. In den Jahrhunderten der wahrhaften Gläubigkeit gab sich die Wissenschaft nicht damit ab, Gott zu erklären. Was wollte sie hier? Sie legte dem Glauben Fesseln an und schmälerte ihr eigenes Ansehen. Nein, nein! Entweder werfe man sich nieder, küsse die Erde und glaube, oder aber man gehe weg! Da war kein Kompromiß möglich. Sobald man einmal mit den Untersuchungen begonnen hatte, gab es dafür keine Schranke mehr, und sie führten unvermeidlich zum Zweifel.

Namentlich litt Pierre unter den außerordentlichen Gesprächen, die er um sich herum hörte. Es waren Gläubige da, die mit Behagen, mit unerhörter Ruhe von den Wundern sprachen. Die erstaunlichsten Tatsachen ließen sie ganz kühl. Noch ein Wunder und wieder eins! Lächelnd erzählten sie sich Wahngebilde, ohne daß ihre Vernunft im geringsten Verwahrung dagegen eingelegt hätte.

Augenscheinlich lebten sie inmitten eines solchen Fiebers überspannter Einbildungen, daß sie nichts mehr in Erstaunen versetzte. Und es waren durchaus nicht nur einfältige, kindische, ungebildete, von Halluzinationen heimgesuchte Leute wie Raboin, sondern es befanden sich darunter auch verstandeskräftige Männer, gebildete Geister, Gelehrte, Doktor Bonarny und andere. Es war unbegreiflich! Pierre fühlte darum ein zunehmendes Mißbehagen in sich aufsteigen, seine Vernunft wehrte sich wie ein armes Geschöpf, das man ins Wasser geworfen hat und das fühlt, wie die Wellen es von allen Seiten ergreifen und ersticken. Und er dachte, daß ein Umstand, der, wie bei Doktor Chassaigne, zum blinden Glauben umschlug, wohl zuerst dieses Mißbehagen und diesen Kampf überwinden müsse, bevor der endgültige Schiffbruch eintritt.

Er betrachtete ihn und fand ihn unendlich traurig, vom Schicksal niedergeschmettert, schwach wie ein weinendes Kind und ganz allein auf der Welt. Trotzdem aber konnte er den Schrei des Protestes nicht unterdrücken, der ihm auf die Lippen stieg.

»Nein, nein! Wenn man auch nicht alles weiß, ja selbst wenn man niemals alles ergründet, so ist das doch kein Grund, daß man zu lernen aufhört. Es wäre schlimm, wenn das Unbekannte durch unsere Schwäche und Unwissenheit uns immer unbekannt bliebe. Unsere ewige Hoffnung soll im Gegenteil die sein, daß die unerklärlichen Tatsachen sich einst erklären werden, und vernünftigerweise sollten wir kein anderes Ideal kennen, als mit Überwindung der Schwächen unseres Körpers und unseres Geistes das Unbekannte zu erforschen, um es erkennen zu lernen und der Vernunft, wenn auch nur schrittweise, zum Siege zu verhelfen. Ach, die Vernunft, durch sie leide ich, von ihr erwarte ich auch meine ganze Stärke! Wenn sie zugrunde geht, wird das ganze Wesen zunichte. Und ich habe nur den brennenden Durst, die Forderungen der Vernunft immer mehr zu befriedigen.«

Tränen erschienen in den Augen des Doktors Chassaigne. Ohne Zweifel erinnerte er sich soeben seiner teuren Toten. Er flüsterte:

»Die Vernunft, die Vernunft! Ja, gewiß ist sie ein großes, herrliches Ding, ja sogar die Würde des Lebens. Aber die allmächtige Kraft des Lebens ist die Liebe, das einzige Gut, das man zurückerobern soll, wenn man es verloren hat –«

Seine Stimme brach in einem erstickten Schluchzen. Er blätterte mechanisch in den Aktenheften auf dem Tische und fand dabei das Aktenstück, das in großen Buchstaben den Namen Mariens von Guersaint trug. Er öffnete es und las die Zeugnisse der zwei Ärzte, die auf eine Lähmung des Rückenmarkes schlossen.

Dann fuhr er fort:

»Ja, mein Kind! Sie haben, wie ich weiß, eine lebhafte Zuneigung für Fräulein von Guersaint. Was würden Sie sagen, wenn sie hier geheilt würde? Ich sehe da Zeugnisse, die ehrenwerte Unterschriften aufweisen, und Sie wissen, daß Lähmungen dieser Art fast alle unheilbar sind. Nun gut! Wenn diese junge Person plötzlich laufen und springen würde, wie ich schon so viele andere gesehen habe, wären Sie nicht sehr glücklich? Gäben Sie nicht endlich das Walten einer übernatürlichen Macht zu?«

Pierre wollte antworten, als er sich auf einmal der Konsultation seines Vetters Beauclair erinnerte sowie des vorhergesagten Wunders, das sich wie ein Blitzstrahl durch ein Aufraffen, eine höchste Anspannung des ganzen Wesens kundgeben würde. Er fühlte, wie sein Unbehagen wuchs, und begnügte sich, zu sagen:

»In der Tat, ich wäre sehr glücklich. Und Sie haben recht, es bedarf in der Unruhe dieser Welt nur des Willens, um glücklich zu sein.«

Aber er konnte nicht länger dableiben. Die Hitze wurde so groß, daß der Schweiß von den Gesichtern rann. Doktor Bonamy hatte sich daran gemacht, einem von den Seminaristen das Untersuchungsergebnis der Grivotte zu diktieren, während der Pater Dargelès die Ausdrücke überwachte und sich bisweilen erhob, um ihn einen Satz abändern zu lassen. Übrigens dauerte der Lärm um sie herum noch fort. Der Streit der Ärzte hatte eine andere Wendung genommen und bezog sich jetzt auf technische Punkte, die für den ihrem Studium unterbreiteten speziellen Fall von keinem Interesse waren. Man konnte zwischen den Bretterwänden nicht mehr atmen. Der kleine blonde Herr, der einflußreiche Pariser Schriftsteller, war unzufrieden fortgegangen, da er kein wirkliches Wunder zu sehen bekommen hatte.

Pierre sagte zum Doktor Chassaigne:

»Lassen Sie uns hinausgehen, mir wird schlecht.«

Sie traten zur nämlichen Zeit hinaus wie die Grivotte, die man entließ. Aber gleich an der Tür gerieten sie wieder in ein Menschengewühl, das sich umher drängte und stieß, um die zu sehen, an der sich ein Wunder offenbart hatte. Das Gerücht von dem Wunder mußte sich schon verbreitet haben, denn wer die Auserwählte sah, fragte sie aus und berührte sie. Sie aber mit ihren purpurroten Wangen und flammenden Augen wußte nichts anderes zu tun, als daß sie mit der Haltung einer Tänzerin wiederholte:

»Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!«

Rufe übertönten ihre Stimme, sie wurde in den Wirbeln der lärmenden Menschenflut verschlungen und mit fortgerissen. Einen Augenblick verlor man sie aus den Augen, wie wenn sie untergegangen wäre, dann erschien sie plötzlich wieder ganz nahe bei Pierre und dem Doktor, die sich einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchten. Da fanden sie den Hauptmann. Es war eine von seinen fixen Ideen, zu den Weihern und der Grotte hinabzugehen, um sich zu ärgern. Militärisch in seinen Überrock eingeschnürt, stützte er sich wie immer auf seinen Rohrstock mit dem silbernen Knopf. Dabei schleppte er sein linkes Bein ein wenig nach, das ein Überbleibsel der Lähmung seit der Zeit seines zweiten Schlaganfalls steif machte. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen flammten vor Zorn, als die Grivotte ihn anstieß, um vorbeizukommen, und inmitten des entfesselten Enthusiasmus der Menge wiederum schrie:

»Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!«

»Nun«, rief er wütend und zornig, »desto schlimmer für Sie, meine Tochter!«

Man schrie auf und fing zu lachen an, denn man kannte ihn und verzieh ihm seine wahnwitzige Leidenschaft für den Tod. Als er aber verwirrte Worte flüsterte und sagte, es sei zum Erbarmen, daß man leben wolle, wenn man weder Vermögen noch Schönheit besitze, und daß dieses Mädchen lieber sogleich hätte sterben sollen, statt weiter zu leiden, da begann man trotzdem, ihn ringsherum auszuschelten. Der Abbé Judaine, der vorbeiging, befreite ihn aus der peinlichen Lage. Er zog ihn auf die Seite.

»Schweigen Sie doch, lieber Freund!« sagte er zu ihm. »Das ist anstößig. Warum lehnen Sie sich auf gegen die Güte Gottes, der sich manchmal gnädig erweist gegen unser Elend, indem er es erleichtert? Ich sage es Ihnen nochmals: Sie selbst sollten auf die Knie niederfallen und flehen, daß er Ihnen Ihr Bein wiedergibt und Sie noch zehn Jahre leben läßt.«

Das erwürgte ihn beinahe.

»Ich, ich soll noch zehn Jahre begehren, da doch mein schönster Tag der sein wird, an dem ich abfahre? Ich soll ebenso gemein, ebenso feig sein wie diese Tausende von Kranken, die ich hier der Reihe nach vorbeikommen sehe, von einem niederträchtigen Schrecken vor dem Tod befangen, heulend vor Schwäche und ihrer unaussprechlichen Sucht, leben zu wollen? O nein! Ich müßte mich zu sehr verachten! Daß ich doch verreckte, und zwar auf der Stelle! Es muß so schön sein, nicht mehr zu leben!«

Endlich befand er sich mit Doktor Chassaigne und Pierre außerhalb des Getümmels der Pilger und am Ufer des Gave. Er wandte sich an den Doktor, dem er oft begegnete.

»Haben sie nicht soeben versucht, einen Menschen von den Toten zu erwecken? Man hat mir so 'was erzählt, und ich wäre fast daran erstickt. He, Doktor! Begreifen Sie? Einen Menschen, der das Glück hatte, tot zu sein, und den sie sich erlaubten, in ihrem Wasser einzuweichen in der verbrecherischen Hoffnung, ihn wieder zum Leben zu bringen? Wenn es ihnen nun geglückt wäre, wenn ihr Wasser – man weiß ja nie, was in dieser possierlichen Welt vorkommen kann – diesen Unglücklichen wiederbelebt hätte, glauben Sie, der Mann hätte nicht das Recht gehabt, ihnen seinen Zorn ins Angesicht zu speien? Hatte der Tote sie gebeten, ihn wieder zu erwecken? Wußten sie denn, ob er nicht froh war, gestorben zu sein? Man befragt doch wenigstens die Leute. Wenn sie dieses unflätige Possenspiel mit mir aufführen wollten, mit mir, wenn ich endlich den guten, langen Schlaf schlafe, haha, ich würde sie hübsch empfangen! ›Mischt euch doch nicht in Dinge, die euch nichts angehen!‹ würde ich ihnen sagen und hätte nichts Eiligeres zu tun, als wieder zu sterben!«

Er war so eigentümlich in seiner zornigen Aufwallung, daß der Abbé Judaine und der Doktor sich eines Lächelns nicht enthalten konnten. Pierre aber blieb ernst. Hatte er nicht soeben die verzweifelten Verwünschungen des Lazarus vernommen? Oft hatte er sich eingebildet, daß der aus dem Grabe auferstandene Lazarus Jesu zuschrie: »Oh, Herr! Warum hast du mich wieder erweckt zu diesem abscheulichen Leben? Ich schlief so süß den ewigen Schlaf ohne Traum, ich kostete endlich eine süße Ruhe in der Wonne des Nichts! Alle Armseligkeiten und Schmerzen, alle Tücke und falschen Hoffnungen, Gebrechen und Krankheiten hatte ich kennengelernt. Ich hatte dem Leiden die furchtbare Schuld eines Lebenden bezahlt, denn ich war zur Welt gekommen, ohne zu wissen, warum, und ich hatte gelebt, ohne zu wissen, wie! Und nun, o Herr, läßt du mich doppelt bezahlen, du verurteilst mich, meine Strafzeit von vorne zu beginnen! Habe ich denn irgendeinen unsühnbaren Fehltritt begangen, da du ihn mit einer so grausamen Züchtigung bestrafst? Wiederum leben, ach! Jeden Tag ein wenig von seinem Fleisch absterben zu fühlen, den Verstand zu besitzen nur, um zu zweifeln, den Willen nur, um nichts zu vermögen, ein zartes Gemüt nur, um seine Qualen zu beweinen! Und das alles war zu Ende. Ich hatte ihn getan, den erschreckenden Schritt zum Tode, ich hatte sie hinter mir, die Sekunde, die so furchtbar ist, daß sie das ganze Dasein vergiftet. Und ich hatte auch gefühlt, wie der Todesschweiß mich benetzte, wie das Blut sich aus meinen Gliedern zurückzog und der Atem in einem letzten Seufzer entwich. Du willst also, daß ich diese Pein zweimal kennenlerne: ich werde zweimal sterben müssen, und mein irdisches Elend soll jenes aller anderen Menschen überragen? Ach, Herr! Dann mag es sogleich geschehen! Ja, ich beschwöre dich darum, wirke dies andere große Wunder, daß ich mich aufs neue in das Grab lege, und daß ich, ohne zu leiden, wieder hinüberschlummere in meinen unterbrochenen ewigen Schlaf. Lege mir gnädigst nicht die Marter eines nochmaligen Lebens auf, diese so entsetzliche Marter, zu der du kein Wesen je verdammt hast. Ich habe dich stets geliebt und dir gedient, mache mich nun nicht zum Beispiel deines höchsten Zornes, vor dem alle Geschlechter in Schrecken geraten würden. Sei gütig und mild, o Herr! Gib mir den Schlaf wieder, den ich wohlverdient habe, schläfere mich aufs neue ein in die Wonnen deines Nichts!«

Inzwischen hatte der Abbé Judaine den Hauptmann, den er endlich beruhigte, hinweggeführt, und Pierre drückte dem Doktor Chassaigne die Hand, da er sich erinnerte, daß es schon über fünf Uhr war und daß Marie auf ihn warten mußte. Als er endlich zur Grotte zurückkehrte, kam es zu einer neuen Begegnung: er traf den Abbé des Hermoises im eifrigen Gespräch mit Herrn von Guersaint, der eben erst, durch einen guten Schlaf ermuntert, sein Gasthofzimmer verlassen hatte. Beide bewunderten die außerordentliche Schönheit, die die Begeisterung des Glaubens gewissen Frauenantlitzen verlieh. Auch plauderten sie über ihren Plan, einen Ausflug nach dem Tal von Gavarnie zu machen.

Übrigens begleitete Herr von Guersaint den jungen Priester, sobald er erfuhr, daß Marie ein erstes Bad ohne Erfolg genommen hatte. Sie trafen das junge Mädchen noch in der gleichen schmerzhaften Betäubung, die Blicke stets auf die Heilige Jungfrau geheftet, die sie nicht erhört hatte. Sie antwortete nicht auf die zärtlichen Worte, die ihr Vater an sie richtete. Sie betrachtete ihn nur mit ihren großen, tieftraurigen Augen und wandte sie dann wieder der vom Strahlenkranz der Kerzen umgebenen weißen Marmorstatue zu. Und während Pierre wartete, um sie nach dem Hospital zurückzuführen, war Herr von Guersaint andächtig niedergekniet. Zuerst betete er inbrünstig um die Genesung seiner Tochter. Hernach bat er für sich selbst: er verlangte die Gnade, einen Teilhaber zu finden, der ihm die Million gäbe, die er zu seinen Studien über die Lenkbarkeit der Luftschiffe notwendig hatte.


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