Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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Fünfter Tag

I

In dieser Nacht konnte Pierre im Hotel des Apparitions wieder kein Auge schließen. Nachdem er im Hospital vorgesprochen hatte, um sich nach Marie zu erkundigen, die seit ihrer Rückkehr von der Prozession einen tiefen, köstlichen und kräftigenden Kindesschlummer schlief, hatte er sich, über das Nichterscheinen des Herrn von Guersaint beunruhigt, selbst zur Ruhe begeben. Er erwartete ihn spätestens zum Abendbrot. Zweifellos hatte ihn ein Unfall in Gavarnie zurückgehalten, und er dachte an die Qual des jungen Mädchens, wenn ihr Vater sie am nächsten Morgen nicht umarmen würde. Bei diesem liebenswürdig zerstreuten Manne mit dem Vogelgehirn waren alle Vermutungen, alle Befürchtungen möglich.

Vielleicht hatte diese Unruhe zuerst allein genügt, um Pierre trotz seiner großen Müdigkeit wach zu halten. Dann aber war der nächtliche Lärm in dem Hotel wirklich unerträglich geworden. Der nächste Tag, Dienstag, war zur Abreise bestimmt. Es war der letzte Tag, den die nationale Pilgerschaft in Lourdes zubringen sollte, und zweifellos benutzten die Wallfahrer begierig die Stunden. Sie kamen von der Grotte, kehrten mitten in der Nacht dorthin zurück und versuchten, dem Himmel durch ihr Treiben ihre Wünsche abzutrotzen, ohne der geringsten Ruhe zu bedürfen. Die Türen wurden zugeschlagen, die Dielen erbebten, das ganze Haus zitterte wie unter dem zügellosen Galopp einer Menschenmenge. Noch nie hatten die Mauern von so hartnäckigen Hustenanfällen, von so dumpfen, undeutlichen Stimmen widergehallt.

Pierre, den die Schlaflosigkeit wach hielt, fuhr empor und erhob sich mit dem beständigen Gedanken, es müsse Herr von Guersaint sein, der nach Hause käme. Mehrere Minuten lang lauschte er in fieberhafter Erwartung, aber er vernahm nur den außergewöhnlichen Lärm auf dem Flur, aus dem er nichts Deutliches heraushörte. Waren es links der Priester, die Mutter und ihre drei Kinder, die Familie der alten Leute, die an den Möbeln herumstießen? Oder war es vielmehr rechts die andere, überaus zahlreiche Familie, oder der alleinstehende Herr, die junge, alleinstehende Dame, die unbegreifliche Ereignisse in irgendwelche Abenteuer stürzten? Einen Augenblick sprang er aus dem Bett und wollte das leere Zimmer seines abwesenden Gefährten durchsuchen, denn er war fest überzeugt, es gingen böse Dinge darin vor.

Aber er mochte noch so aufmerksam lauschen, er verstand hinter der dünnen Scheidewand nichts weiter als das zarte Flüstern zweier Stimmen, die mit Zärtlichkeit sprachen. Plötzlich kam ihm wieder Frau Volmar in den Sinn, und fröstelnd legte er sich wieder nieder.

Endlich bei Tagesanbruch schlief Pierre ein, als harte Schläge, die an die Tür dröhnten, ihn auffahren ließen. Diesmal täuschte er sich nicht, eine laute, angsterstickte Stimme schrie:

»Herr Abbé, Herr Abbé, wachen Sie, bitte, auf!«

Es war gewiß Herr von Guersaint, den man womöglich tot nach Hause brachte. Entsetzt eilte er im Hemd an die Tür, um zu öffnen, und sah seinen Nachbar, Herrn Vigneron, vor sich.

»Oh, bitte, Herr Abbé, kleiden Sie sich schnell an. Man bedarf Ihres heiligen Dienstes.«

Nun erzählte er, daß er eben aufgestanden sei, um auf seiner Uhr, die er auf den Kamin gelegt habe, nach der Zeit zu sehen, als er aus dem Nebenzimmer, in dem Frau Chaise lag, herzzerreißende Seufzer vernahm. Aus Freundlichkeit, um mehr mit ihnen beisammen sein zu können, hatte sie die Verbindungstür offengelassen. Natürlich war er gleich zu ihr gestürzt, hatte die Vorhänge aufgezogen und Licht und Luft hereingelassen.

»Unsere arme Tante lag auf ihrem Bett, schon halb blau, mit aufgesperrtem Munde, ohne Atem schöpfen zu können, die Hände zwischen die Decken gepreßt. Sie verstehen, ihre Herzkrankheit ... Kommen Sie, kommen Sie schnell, Herr Abbé, um ihr zu helfen, ich bitte Sie darum.« In der Bestürzung fand Pierre weder sein Beinkleid noch seine Soutane.

»Gewiß, gewiß gehe ich mit Ihnen, aber die Letzte Ölung kann ich ihr nicht geben, ich habe das Nötige nicht bei mir.«

Herr Vigneron half ihm beim Anziehen und kauerte sich an der Erde nieder, um die Pantoffeln zu suchen.

»Das tut nichts, schon Ihr Anblick wird ihr die schweren Augenblicke erleichtern, wenn Gott uns diese Prüfung schickt. So, ziehen Sie sich zuerst die Stiefel an, und folgen Sie mir, bitte!«

Wie ein Wirbelwind schoß er davon und stürzte in das Nebenzimmer. Alle Türen waren weit offengeblieben. Der junge Priester, der ihm folgte, bemerkte in dem ersten Zimmer, das in unglaublicher Unordnung war, nur den kleinen Gustave, der halbnackt, mit ganz bleichem Gesicht, vergessen und zähneklappernd, unbeweglich auf dem Sofa saß, auf dem er zu schlafen pflegte. Ausgeleerte Koffer versperrten den Weg, Wurst- und Speisereste beschmutzten den Tisch, das Bett des Vaters und der Mutter schien von der Katastrophe gleichsam verwüstet, die Decken waren heruntergezerrt und auf die Erde geworfen worden. In demselben Augenblick bemerkte er auch im zweiten Zimmer die Mutter, die in der Eile ein altes gelbes Morgenkleid übergeworfen hatte und nun mit entsetzter Miene da stand.

»Nun, meine Liebe?« wiederholte Herr Vigneron stotternd.

Ohne zu antworten, zeigte Frau Vigneron mit einer Handbewegung auf Frau Chaise, die, den Kopf auf das Kissen zurückgeworfen, die Hände verdreht und steif, sich nicht mehr rührte. Das Gesicht war blau, der Mund stand weit offen.

Pierre hatte sich vorgeneigt. Dann sagte er mit leiser Stimme:

»Sie ist tot!«

Tot! Dieses Wort hallte im besser gehaltenen Zimmer, in dem ein dumpfes Schweigen herrschte, wider. Bestürzt und erstaunt blickten sich die beiden Gatten an. Es war also zu Ende? Die Tante starb vor Gustave, und der Kleine erbte fünfmalhunderttausend Frank. Wie oft hatten sie diesen Traum gehegt, dessen plötzliche Verwirklichung sie verblüffte. Wie oft hatte sie in der Befürchtung, der Kleine könne vor ihr sterben, die Verzweiflung erfaßt! Tot! Mein Gott, war denn das ihre Schuld? Hatten sie das wirklich von der Heiligen Jungfrau erbeten? Sie zeigte sich ihnen gegenüber so gütig, daß sie zitterten, keinen Wunsch mehr aussprechen zu können, ohne erhört zu werden. Schon in dem Tode des Vorgesetzten, der so plötzlich dahingerafft worden war, um ihnen seine Stellung zu überlassen, hatten sie den mächtigen Finger Unserer Lieben Frau von Lourdes erkannt. Und nun überhäufte sie sie von neuem mit Gnadenbeweisen und hörte sogar auf die unbewußten Träumereien ihrer Wünsche! Und doch hatten sie niemandem den Tod gewünscht, sie waren brave Leute, einer schlechten Handlung unfähig, hatten ihre Familie recht lieb, beobachteten streng die religiösen Gebräuche, gingen zur Beichte, nahmen das heilige Abendmahl, wie alle Welt, ohne Aufhebens davon zu machen. Wenn sie an diese fünfmalhunderttausend Frank dachten, an ihren Sohn, der zuerst hätte sterben können, an den Ärger, den sie dann empfunden hätten, wenn sie einen andern, minder würdigen Neffen dieses Vermögen hätten erben sehen, so lag das alles nur im tiefsten Grunde ihres Herzens verborgen und war ja schließlich naiv und natürlich. Gewiß hatten sie vor der Grotte daran gedacht, aber besaß die Heilige Jungfrau nicht die höchste Weisheit, wußte sie nicht, besser als wir selbst, was sie zum Glück der Lebenden und Toten tun mußte?

Nun brach Frau Vigneron ganz aufrichtig in Schluchzen aus und beweinte ihre Schwester, die sie sehr liebte.

»Herr Abbé, ich habe sie sterben sehen, unter meinen Augen ist sie verschieden. Welch ein Unglück, daß Sie nicht früher gekommen sind, um noch ihre Seele zu empfangen. Sie ist ohne Priester gestorben, Ihre Anwesenheit hätte sie so getröstet.«

Zärtlich und gerührt tröstete Herr Vigneron seine Frau:

»Deine Schwester war eine Heilige, sie hat noch gestern vormittag das heilige Abendmahl empfangen, und du kannst unbesorgt sein, ihre Seele ist geradeswegs zum Himmel aufgestiegen. Gewiß, wäre der Herr Abbé zur rechten Zeit gekommen, es hätte ihr Vergnügen gemacht, ihn zu sehen. Aber was willst du? Der Tod war eben schneller. Ich bin sogleich zu ihm geeilt, und wir haben uns bis zuletzt keinen Vorwurf zu machen.«

Dann wandte er sich an den Priester:

»Herr Abbé, ihre allzu große Frömmigkeit hat die Krisis sicher beschleunigt. Gestern hatte sie in der Grotte schon einen Erstickungsanfall, dessen Heftigkeit bezeichnend war. Aber trotz ihrer Schwäche hat sie darauf bestanden, der Prozession zu folgen. Ich dachte mir wohl, sie würde nicht weit kommen. Es war jedoch eine heikle Sache. Aus Furcht, sie zu erschrecken, wagte man nicht, ihr etwas zu sagen.«

Leise kniete Pierre nieder und sagte mit der echt menschlichen Bewegung, die bei ihm die Stelle des Glaubens vertrat, die üblichen, angesichts des ewigen Lebens, des ewigen Todes, so armseligen Gebete her. Dann blieb er einen Augenblick auf den Knien liegen und hörte die zischelnden Stimmen des Ehepaares.

Den kleinen Gustave, der in der Unordnung des Nebenzimmers auf seinem Bett vergessen worden war, mußte wohl Ungeduld erfaßt haben, denn er weinte und schrie:

»Mama, Mama, Mama!«

Endlich ging Frau Vigneron hinaus, um ihn zu beruhigen, und sie hatte den Gedanken, ihn in ihre Arme zu nehmen, damit er zum letztenmal seine arme Tante umarme. Zuerst sträubte er sich, weigerte sich und weinte stärker, so daß Herr Vigneron genötigt war, dazwischen zu treten und ihm zu sagen, er solle sich schämen.

»Gib ihn mir«, sagte er zu seiner Frau, »er wird vernünftig sein.«

Schließlich hing sich Gustave an den Hals seines Vaters. Er war im Hemd, zitterte vor Kälte und zeigte die Nacktheit seines elenden, kleinen Körpers, den die Skrofeln zernagten. Weit entfernt, ihn zu heilen, schien das wunderbare Wasser des Weihers die Wunde an seinen Lenden nur noch weiter aufgerissen zu haben, während sein mageres Bein, einem vertrockneten Stabe gleich, kraftlos herniederhing.

»Küsse sie«, fuhr Vigneron fort.

Das Kind neigte sich herab und küßte seine Tante auf die Stirn. Es war nicht der Tod, der ihn beunruhigte und ihn veranlaßte, sich zu sträuben. Seitdem er da war, betrachtete er die Tote mit einer Miene ruhiger Neugier. Nie hätte er mit lauter Stimme gesagt, daß er sie nicht liebte und daß er unter ihr nur zu lange gelitten hätte. Das waren bei ihm Ideen, Gefühle einer erwachsenen Person, deren Wucht ihn in dem Maße erdrückt hatte, in dem sie sich mit seinen Leiden entwickelten und verstärkten. Er fühlte wohl, daß er zu klein war und daß die Kinder die Dinge, die im Herzensgrunde der Leute vor sich gehen, nicht verstehen dürfen. Sein Vater, der sich abseits gesetzt hatte, behielt ihn auf seinen Knien, während die Mutter wieder das Fenster schloß und die Kerzen der beiden Leuchter auf dem Kamin anzündete.

»Mein armer Junge«, flüsterte er in seinem Bedürfnis zu sprechen, »das ist ein großer Verlust für uns alle. Unsere Reise ist vollständig mißglückt, denn es ist unser letzter Tag, heute nachmittag wird die Rückfahrt angetreten. Und die Heilige Jungfrau, die sich gerade so gütig erwies –«

Aber angesichts des erstaunten Blickes seines Sohnes, eines Blickes unendlicher Traurigkeit und unendlichen Vorwurfs, beeilte er sich fortzufahren:

»Ja, gewiß, ich weiß, sie hat dich nicht vollständig geheilt. Aber man darf deshalb noch nicht an ihrem Wohlwollen zweifeln. Sie liebt uns zu sehr, sie überhäuft uns mit ihrer Gnade und wird dich sicherlich heilen, da sie uns jetzt ja nur noch diese große Gunst zu bewilligen hat.«

Frau Vigneron, die zugehört hatte, trat näher.

»Wie glücklich wären wir gewesen, wenn wir alle drei wohl und munter hätten nach Paris zurückkehren können. Es ist doch nichts vollkommen.«

»Höre mal«, bemerkte plötzlich Herr Vigneron, »wegen der Formalitäten werde ich wohl heute nachmittag nicht mit euch abreisen können. Wenn nur meine Rückfahrkarte bis morgen Gültigkeit behält.«

Erleichtert erholten sich beide, trotz der Zuneigung, die sie für Frau Chaise hegten, von dem furchtbaren Schlage. Sie vergaßen sie bereits und hatten nur noch Eile, Lourdes zu verlassen, gerade, als wenn der Hauptzweck ihrer Reise erfüllt wäre. Eine uneingestandene, verhohlene Freude ergriff sie.

»Ach, wieviel werde ich in Paris zu laufen haben!« fuhr er fort. »Und dabei sehne ich mich doch nur nach Ruhe. Doch das tut nichts. Ich werde meine drei Jahre bis zu meiner Pensionierung im Ministerium bleiben, besonders jetzt, da ich der Pensionierung als Direktor gewiß bin. Aber dann, ja dann denke ich das Leben ein wenig zu genießen. Da wir das Geld erben, will ich in meiner Heimat das Gut Billottes kaufen, das herrliche Fleckchen Erde, von dem ich immer geträumt habe. Und ich bürge euch dafür, ich werde mich nicht schlecht ausnehmen unter meinen Hunden, Pferden und Blumen.«

Der kleine Gustave war auf seinen Knien sitzengeblieben. Er fröstelte an seinem ganzen, armen, verkümmerten Insektenkörper, in seinem halb aufgehobenen Hemde, das die Magerkeit des sterbenden Kindes sehen ließ. Als er bemerkte, daß sein Vater ihn nicht einmal mehr fühlte, sondern ganz in seinem endlich verwirklichten Traum befangen war, trat wieder das rätselhafte Lächeln einer durch Bosheit verschärften Melancholie auf seine Lippen.

»Nun, Vater, und ich?«

Jäh emporfahrend, bewegte sich Herr Vigneron hin und her und schien zuerst gar nicht zu begreifen.

»Du, mein Junge ... Du wirst natürlich bei uns sein.«

Aber Gustave sah ihn nach wie vor mit starren, tiefen Blicken an, ohne daß das Lächeln von seinen schmerzlich verzerrten Lippen schwand.

»So, glaubst du?«

»Gewiß glaube ich das. Du wirst bei uns sein, es wird sehr hübsch bei uns werden.«

Herr Vigneron, der verwirrt nicht die passenden Worte fand, wurde ganz starr, als sein Sohn mit einer Miene philosophischer Verachtung seine mageren Schultern zuckte.

»O nein ... Ich werde bis dahin gestorben sein!«

Entsetzt las der Vater plötzlich alles in dem tiefen Blicke des Kindes, dem Blicke eines sehr alten, in allen Dingen gewitzigten Mannes, der die Qualen des Lebens kennt, weil er sie durchlitten hat. Was ihn besonders entsetzte, war die plötzliche Gewißheit, daß dies Kind ihn stets bis auf den Grund seiner Seele durchschaut hatte, weit über das hinaus, was er sich selbst nicht einzugestehen wagte. Er erinnerte sich, wie die Augen des kleinen Kranken schon von der Wiege an starr auf ihn geheftet gewesen waren, diese Augen, die das Leiden so scharfsichtig machte, die es zweifellos mit der Kraft eines außerordentlichen Ahnungsvermögens begabte, so daß sie selbst die geheimsten, unbewußten Gedanken erforschten. Und infolge einer seltsamen Gegenwirkung fand er die Dinge, die er sich nie gesagt hatte, in dieser Stunde sämtlich in den Augen seines Kindes wieder. Er sah sie, las sie wider seinen Willen. Die Geschichte seiner langen Habsucht rollte sich ab, sein Zorn, einen so verkrüppelten Sohn zu haben, seine Angst bei dem Gedanken, daß das Vermögen der Frau Chaise auf einer so gebrechlichen Existenz beruhe, sein heißer Wunsch, sie möge bald sterben, solange der Kleine noch am Leben war, um ihm die Erbschaft zu sichern. Es war nur eine Frage von Tagen, wer in diesem Zweikampf zuerst verscheiden würde. Denn zum Schluß kam doch wiederum der Tod. Auch der Kleine starb, und er allein steckte das Geld in die Tasche und lebte noch lange in Glück und Freude. Diese entsetzlichen Dinge sprachen klar aus den feinen, schwermütig lächelnden Augen des armen, zum Tode verurteilten Wesens. Sie wurden von den beiden mit solcher Klarheit und Deutlichkeit ausgetauscht, daß es Vater und Sohn vorkam, als wenn sie sich das alles mit ganz lauter Stimme zuriefen.

Aber Herr Vigneron sträubte sich, wandte den Kopf ab und widersprach heftig.

»Wie, du glaubst, du wirst jetzt sterben? Was sind das für Gedanken ... Das ist ja albern. Solche Gedanken!«

Frau Vigneron hatte wieder zu schluchzen angefangen.

»Böses Kind, wie kannst du uns so wehe tun, wo wir bereits einen so grausamen Verlust beweinen!«

Gustave mußte sie umarmen und ihnen versprechen, am Leben zu bleiben. Trotzdem hatte er nicht zu lächeln aufgehört, denn er wußte wohl, daß die Lüge notwendig war, wenn man sich nicht allzusehr betrüben wollte. Er hatte sich übrigens damit abgefunden, seine Eltern glücklich auf Erden zurücklassen zu müssen, da nicht einmal die Heilige Jungfrau ihm auf dieser Welt das kleine Fleckchen Glück geben konnte, für das jedes Geschöpf geboren werden soll.

Seine Mutter legte ihn wieder ins Bett, und Pierre erhob sich endlich in dem Augenblick, da Herr Vigneron das Zimmer anständig hergerichtet hatte.

»Sie entschuldigen mich, nicht wahr, Herr Abbé?« sagte er, den jungen Priester bis zur Tür begleitend, »ich weiß nicht recht, wo mir der Kopf steht. Es ist eine schlimme Viertelstunde, die da durchzumachen ist. Nun, man muß sich eben fügen.« Im Korridor blieb Pierre eine Minute stehen und lauschte auf ein Geräusch, das die Treppe heraufkam. Wieder hatte er an Herrn von Guersaint gedacht und glaubte seine Stimme zu erkennen.

Als er so unbeweglich dastand, ereignete sich ein Vorfall, der ihn in die peinlichste Verlegenheit versetzte. Mit kluger Langsamkeit wurde die Tür des Zimmers, das von dem alleinreisenden Herrn bewohnt wurde, geöffnet, und eine schwarzgekleidete Dame war so leise herausgetreten, daß man kaum Zeit hatte, in der halb geöffneten Tür den Herrn zu bemerken, der, den Finger auf den Lippen, dahinterstand. Als die Dame sich aber umwandte, sah sie sich Pierre gegenüber. Das kam so plötzlich, daß sie sich nicht abwenden und nicht so tun konnten, als hätten sie einander nicht erkannt.

Die Dame war Frau Volmar. Nach den drei Tagen und drei Nächten, die sie in diesem Zimmer der Liebe in vollständiger Abgeschlossenheit zugebracht hatte, verließ sie es am frühen Morgen. Es hatte noch nicht sechs Uhr geschlagen, sie hoffte, von niemand gesehen zu werden und mit der Leichtigkeit eines Schattens durch die leeren Gänge und Treppen verschwinden zu können. Sie hatte auch den Wunsch, sich im Hospital zu zeigen, dort den letzten Vormittag zuzubringen, um ihre Anwesenheit in Lourdes zu rechtfertigen. Als sie Pierre bemerkte, begann sie zu zittern und stammelte zuerst:

»Herr Abbé, Herr Abbé!«

Aber als sie sah, daß der Priester seine Tür weit offengelassen hatte, schien sie dem Fieber, das in ihr brannte, nachzugeben, von ihrer Liebesflamme zu sprechen, sich zu erklären und sich als unschuldig hinzustellen. Mit blutrotem Gesicht ging sie voran und trat in das Zimmer, in das er ihr, von dem Vorfall höchst verwirrt, folgen mußte. Als er dann die Tür noch immer geöffnet ließ, bat sie ihn durch ein Zeichen, sie zu schließen, da sie sich ihm anvertrauen wollte.

»Herr Abbé, ich flehe Sie an, beurteilen Sie mich nicht zu streng.«

Er machte eine Bewegung, als wollte er sagen, daß er sich nicht erlaubte, ein Urteil über sie zu fällen.

»Doch, doch, ich weiß, Sie kennen mein Unglück. In Paris haben Sie mich einmal in Begleitung gesehen. Und neulich haben Sie mich hier auf dem Balkon erkannt. Nicht wahr, Sie ahnten, daß ich hier, in Ihrer Nähe, bei dieser Person versteckt in diesem Zimmer lebte? Aber wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten!«

Ihre Lippen zitterten, und Tränen stiegen in ihren Augen auf. Er blickte sie an und war überrascht von der außerordentlichen Schönheit, die ihr Gesicht verklärte. Diese höchst einfach, stets in Schwarz gekleidete Frau, die nie einen Schmuck trug, erschien ihm im Glanz ihrer Leidenschaft von dem Schatten befreit, in dem sie für gewöhnlich erlosch und verschwand. Sie war auf den ersten Blick keineswegs schön, denn sie war zu brünett und zu unbedeutend mit ihren scharfen Zügen, dem großen Munde und der langen Nase. Je länger er sie prüfend ansah, desto stärker nahm sie einen verwirrenden Zauber an. Besonders ihre Augen, ihre großen, prächtigen Augen, deren Glut sie gewöhnlich unter einem Schleier von Gleichgültigkeit verbarg, brannten wie Fackeln in den Stunden, da sie ganz Hingabe war. Er begriff, daß man sie anbeten, daß man sie begehren konnte, selbst wenn man darüber zugrunde ging.

»Wenn Sie wüßten, Herr Abbé, wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe. Es sind Dinge, die Sie zweifellos geahnt haben, denn Sie kennen ja meine Schwiegermutter und meinen Gatten. Die wenigen Male, die Sie zu uns gekommen sind, haben Sie sicher die schauderhaften Dinge erkennen lassen, die sich dort, trotz meiner stets zufriedenen Miene, in meinem kleinen, schweigsamen und traulichen Winkel abspielten. Aber zehn Jahre so zu leben, niemals wirklich zu leben, niemals zu lieben, niemals geliebt zu werden, nein, nein, das habe ich nicht ertragen können.«

Nun erzählte sie die herzzerreißende Geschichte, ihre Ehe mit dem Diamantenhändler, der anscheinend in seinen geschäftlichen Angelegenheiten Unglück gehabt hatte, nannte ihre Schwiegermutter eine harte Kerkermeister- und Henkerseele, ihren Gatten ein Ungeheuer an körperlicher Häßlichkeit und moralischer Verderbtheit. Man sperrte sie ein, man ließ sie sich nicht einmal allein an ein Fenster setzen. Man hatte sie geschlagen, hatte ihre Neigungen, ihre Wünsche, ihre Frauenschwächen unterdrückt. Sie wußte, daß ihr Gatte außer dem Hause Dirnen aushielt, und wenn sie einem Verwandten zulächelte, wenn sie an einem seltenen Tage der Fröhlichkeit eine Blume am Busen trug, dann riß er ihr die Blume fort, bekam Anfälle eifersüchtiger Wut. Er mißhandelte sie. Jahre hindurch hatte sie in dieser Hölle gelebt und trotzdem immer noch gehofft, denn eine solche Lebensfülle, ein so heißes Bedürfnis nach Zärtlichkeit erfüllte sie trotz allem, daß sie das Glück erwartete und stets glaubte, es beim geringsten Hauch eintreten zu sehen.

»Herr Abbé, ich schwöre Ihnen, ich habe tun müssen, was ich getan habe. Ich war zu unglücklich: mein ganzes Wesen brannte danach, sich hinzugeben. Als mein Freund mir zum erstenmal sagte, daß er mich liebe, ließ ich den Kopf auf seine Schulter sinken, und alles war vorbei: ich war sein Eigentum, sein Wesen für immer. Man muß diesen köstlichen Genuß kennen, geliebt zu werden, bei seinem Geliebten nur Regungen der Zärtlichkeit zu finden, Worte der Sanftmut, das beständige Streben, sich zuvorkommend und liebenswürdig zu zeigen, man muß wissen, daß er an uns denkt, daß es irgendwo ein Herz gibt, in dem wir leben, und daß zwei Wesen nur eins ausmachen, man muß den Genuß kennen, sich in einer Umarmung zu vergessen, in der alles versinkt, Körper und Seele ... Oh, wenn das ein Verbrechen ist, Herr Abbé, so kann ich deswegen keine Gewissensbisse empfinden. Ich sage nicht einmal, daß man mich dazu getrieben hat, ich sage, ich habe es ebenso natürlich begangen, wie ich atme, weil es für mein Leben notwendig war.«

Sie hatte die Hand an ihre Lippen geführt, als wenn sie der Welt einen Kuß geben wollte. Pierre fühlte sich bestürzt angesichts dieser liebenden Frau, die die Leidenschaft, das ewige Verlangen selbst war. Dann begann ein unendliches Mitleid in ihm aufzusteigen, und er flüsterte:

»Arme Frau!«

»Nicht dem Priester beichte ich«, fuhr sie fort, »zu dem Manne spreche ich, zu einem Manne, von dem verstanden zu werden ich glücklich wäre. Nein, ich bin keine Gläubige, die Religion hat mir nicht genügt. Man behauptet, die Frauen bescheiden sich damit und finden darin einen starken Schutz gegen den Fehltritt. Ich habe stets ein Gefühl der Kälte in den Kirchen empfunden, ich vergehe dort in der gähnenden Leere. Ich weiß recht wohl, es ist schlecht, Religion zu heucheln und sie scheinbar mit den Angelegenheiten meines Herzens zu vermischen. Aber was wollen Sie, man zwingt mich ja dazu. Wenn Sie mich hier in Lourdes finden, so geschieht das deshalb, weil ich im ganzen Jahr nur diese drei Tage vollkommener Freiheit, vollkommenen Glückes für mich habe.«

Wieder erfaßte sie ein Schauder, und heiße Tränen flössen auf ihre Wangen herab.

»Oh, diese drei Tage, diese drei Tage! Sie können nicht wissen, mit welcher Glut ich sie erwarte, mit welcher Leidenschaft ich sie durchlebe, mit welch ungestümen Gefühlen ich die Erinnerung daran mit mir fortnehme.«

Alles erstand in lebhaften Bildern vor Pierre. Er stellte sich diese heiß ersehnten, wild durchlebten drei Tage und drei Nächte in diesem Hotelzimmer vor, er sah die geschlossenen Fenster und Türen und dachte daran, wie selbst die Dienstmädchen keine Kenntnis davon hatten, daß eine Frau hier eingeschlossen war. Er sah die endlosen Umarmungen, den beständigen Kuß, eine Hingabe des ganzen Wesens, ein Vergessen der Welt, ein Versinken in unauslöschlicher Liebe! Es gab keinen Ort mehr, es gab keine Zeit mehr, nur die Sehnsucht blieb, einander anzugehören, sich wieder und immer wieder anzugehören. Und welch herzzereißender Schmerz zur Stunde der Trennung! Vor dieser Grausamkeit zitterte sie, in dem Schmerz, ihr Paradies verlassen zu haben, vergaß sie sich, trotzdem sie sonst stumm war. Sich ein letztes Mal in die Arme nehmen, sich verschmelzen zu wollen, sich loszureißen und sich zu sagen, wie viele lange Tage, wie viele lange Nächte wohl vergehen würden, bevor man sich nur einmal wiedersehen konnte!

Schmerzerfüllt wiederholte Pierre, als das Bild dieser Qual des Fleisches vor ihm erstand:

»Arme Frau!«

»Und dann, Herr Abbé«, fuhr sie fort, »denken Sie doch an die Hölle, in die ich wieder zurückkehre. Auf Wochen, auf Monate schließt sich mein Himmel, und ohne eine Klage durchlebe ich mein Martyrium. Wieder einmal ist mein Glück zu Ende, zu Ende auf ein Jahr. Großer Gott! Drei arme Tage, drei arme Nächte im Jahr, kann man da nicht wahnsinnig werden? Ich bin so unglücklich, Herr Abbé! Glauben Sie nicht, daß ich trotzdem eine anständige Frau bin?«

Er war tief bewegt von diesem lauten Herzenserguß, von diesem Feuer wahrer Leidenschaft und aufrichtigen Schmerzes. Hier fühlte er den Hauch des allgemeinen Verlangens, eine ungezügelte, hehre Flamme, die alles reinigte. Sein Herz strömte von Mitleid über, und er verzieh.

»Gnädige Frau, ich beklage Sie und achte Sie aufrichtig.«

Nun sprach sie nicht mehr, sondern sah ihn mit ihren großen, von Tränen verdunkelten Augen an. Darauf erfaßte sie mit plötzlichem Drucke seine beiden Hände und preßte sie zwischen ihre glühenden Finger. Dann ging sie von dannen und verschwand mit schattenhafter Leichtigkeit im Hintergrunde des Flures.

Aber als sie nicht mehr da war, litt Pierre unter dem eben Erlebten noch mehr. Weit riß er das Fenster auf, um den Liebesduft, den sie zurückgelassen hatte, zu verjagen. Schon am Sonntag, als er bemerkt hatte, daß eine Frau versteckt im Nebenzimmer wohnte, hatte er diesen Schrecken empfunden und sich gesagt, sie wäre die Rache des Fleisches inmitten der mystischen Verzückung des unbefleckten Lourdes. Und jetzt kehrte diese Angst wieder, er erkannte die Allmacht, die unbesiegliche Willenskraft des wirkenden Lebens. Die Liebe war stärker als der Glaube, vielleicht gab es nichts Göttliches außer dem Besitz eines liebenden Wesens. Sich lieben, sich trotz allem und allem anzugehören, Leben zu geben und Leben fortzupflanzen, war das nicht das einzige Ziel der Natur, das außer dem Bereiche der sozialen und religiösen Ordnung lag? Einen Augenblick kam ihm der tiefe Abgrund zum Bewußtsein: seine Keuschheit war sein letzter Halt, gab allein seiner verfehlten Existenz als ungläubigem Priester Würde. Er erkannte, daß er verloren sei, wenn er seinem Fleische nachgab, nachdem er schon seinem Verstande nachgegeben hatte. Sein ganzer Stolz auf seine Reinheit, seine ganze Kraft, die er an die Ehrenhaftigkeit seines Berufes gewandt hatte, kehrte zu ihm zurück, und er schwor sich von neuem, kein Mann zu sein, da er sich ja freiwillig aus dem Kreis der Männer verbannt hatte. Es schlug sieben Uhr. Pierre legte sich nicht nieder, sondern wusch sich mit eiskaltem Wasser, ganz glücklich über dieses frische Wasser, das sein Fieber beruhigte. Als er sich fertig angezogen hatte, erwachte bei dem Geräusch von Schritten, das er auf dem Korridor vernahm, wieder der ängstliche Gedanke an Herrn von Guersaint in ihm. Man blieb vor seiner Tür stehen und klopfte, und erleichtert ging er öffnen.

Dann aber stieß er einen Schrei lebhafter Überraschung aus.

»Wie, Sie sind's! Sie sind schon aufgestanden, laufen durch die Straßen und steigen zu den Leuten hinauf?«

Mit lächelndem Antlitz stand Marie auf der Schwelle, und hinter ihr lächelte Schwester Hyacinthe, die sie begleitete, ebenfalls mit ihren hübschen, treuherzigen Augen.

»Ach, lieber Freund«, sagte das junge Mädchen, »ich habe nicht liegenbleiben können. Sobald ich die Sonne gesehen habe, bin ich aus dem Bett gesprungen, ein solches Bedürfnis empfand ich, zu gehen, zu laufen und herum zu springen wie ein kleines Mädchen. Und ich habe so lange gebettelt, bis die Schwester so liebenswürdig war, mit mir auszugehen. Ich glaube, ich wäre aus dem Fenster gesprungen, wenn man die Tür verschlossen hätte.«

Pierre hatte sie eintreten lassen, und eine namenlose Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, als er sie heiter scherzen hörte, als er sah, wie sie sich ungehindert und graziös bewegte. Seitdem er sie am vorigen Tage in der Basilika verlassen hatte, war sie in Jugend und Schönheit erblüht. Eine Nacht hatte genügt, um sie so zu verändern, daß er sie groß und blühend wiederfand.

»Wie groß, wie schön Sie jetzt sind, Marie!« konnte er sich nicht enthalten zu sagen.

Nun trat Schwester Hyacinthe dazwischen.

»Nicht wahr, Herr Abbé, die Heilige Jungfrau hat alles wohlgetan! Ja, sehen Sie, wenn sie sich mit einer Sache beschäftigt, so geht man aus ihren Händen frisch und duftend wie eine Rose hervor.«

»Ach«, fuhr das junge Mädchen fort, »ich bin so glücklich, ich fühle mich ganz stark, ganz gesund, ganz frisch, als wäre ich neugeboren.«

Das war ein köstliches Gefühl für Pierre. Es schien ihm, als wenn nun der letzte Duft der Frau Volmar verflog. Marie erfüllte das Zimmer mit ihrer Reinheit, dem Duft und Glanz ihrer unschuldigen Jugend. Und doch machte sich diese Freude der reinen Schönheit, des wiederaufblühenden Lebens nicht geltend, ohne daß er eine tiefe Traurigkeit empfand. Im Grunde mußte die Empörung, die ihn in der Krypta überkommen hatte, die Erkenntnis seines verfehlten Lebens, sein Herz auf ewig verwunden. Das angebetete Weib, das in seiner vollen Blüte wiedergeboren wurde! Und doch würde er nie den Besitz kennenlernen, denn er stand außerhalb der Welt, dem Grabe geweiht. Aber er schluchzte nicht mehr, es überkam ihn eine grenzenlose Schwermut, ein Gefühl des unendlichen Nichts, wenn er sich sagte, daß er tot war, daß diese Neugeburt des Weibes sich über dem Grabe erhob, in dem seine Mannbarkeit schlief. Es war die Entsagung, die er in der trostlosen Größe der außerhalb der Natur stehenden Existenzen auf sich genommen und selber gewünscht hatte.

Wie die andere, die leidenschaftliche Frau, hatte auch Marie Pierres Hände ergriffen. Aber ihre kleinen Hände waren frisch, sanft, beruhigend! Sie blickte ihn verwirrt an und hatte einen großen Wunsch, den sie nicht auszusprechen wagte. Dann sagte sie tapfer:

»Pierre, wollen Sie mich umarmen? Das würde mich sehr glücklich machen.«

Er zitterte, das Herz von einer letzten Qual zerrissen. Ach, die Küsse von einst, die Küsse, deren Geschmack er stets auf den Lippen bewahrt hatte. Nie hatte er sie wieder umarmt, und heute war es seine Schwester, die ihm um den Hals fiel. Sie küßte ihn laut auf die linke Wange und auf die rechte Wange, dann hielt sie die ihrigen hin und verlangte, daß er ein Gleiches tat. Zweimal küßte er sie schließlich.

»Auch ich, das schwöre ich Ihnen, Marie, bin glücklich, sehr glücklich.«

Und am Ende seines Mutes, gleichzeitig von einem unendlichen Behagen und von einer unendlichen Bitterkeit durchdrungen, brach er in Schluchzen aus und weinte in seine gefalteten Hände wie ein Kind, das seine Tränen verbergen will.

»Nun, nun, werden wir nicht allzu weich«, fuhr Schwester Hyacinthe in fröhlichem Tone fort, »der Herr Abbé würde zu stolz, wenn er glaubte, daß wir nur seinetwegen gekommen wären. Nicht wahr, Herr von Guersaint ist doch da?«

Marie stieß einen Ruf inniger Zärtlichkeit aus.

»Papa wird auch sehr glücklich sein.«

Nun mußte Pierre erzählen, daß Herr von Guersaint von seinem Ausflug nach Gavarnie noch nicht zurückgekehrt war. Seine wachsende Unruhe verriet sich, obwohl er sich bemühte, die Verzögerung zu erklären und Hindernisse und unvorhergesehene Zufälle erfand. Übrigens erschreckte sich das junge Mädchen durchaus nicht, sondern fing wieder an, zu lachen, indem es sagte, ihr Vater habe nie pünktlich sein können. Und doch war sie voller Ungeduld, daß er sie gehen sehen und sie aufrecht, neu erstanden, in ihrer frisch erblühten Jugend wiederfinden sollte.

Schwester Hyacinthe, die sich über den Balkon geneigt hatte, kehrte in das Zimmer zurück.

»Er ist da! Er ist unten und steigt aus dem Wagen.«

»Ach, wißt ihr«, rief Marie mit der spielenden Lebhaftigkeit eines Schulmädchens, »wir wollen ihm eine Überraschung bereiten. Jawohl, wir müssen uns verstecken, und wenn er da ist, zeigen wir uns plötzlich.«

Und schon zog sie Schwester Hyacinthe in das Nebenzimmer.

Fast gleich darauf trat Herr von Guersaint durch die Flurtür, die Pierre eilig geöffnet hatte, herein und sagte, ihm die Hand schüttelnd:

»Na, da bin ich endlich! Nun, mein Freund, Sie haben wohl gar nicht mehr gewußt, was Sie davon halten sollen? Seit gestern um vier Uhr müssen Sie mich erwarten! Aber Sie können sich meine Abenteuer nicht vorstellen: erstens ist bei der Ankunft in Gavarnie ein Rad unseres Landauers gebrochen, dann hat uns gestern abend, als wir schließlich trotzdem abfuhren, ein entsetzlicher Sturm die ganze Nacht in Saint-Sauveur zurückgehalten. Ich habe kein Auge geschlossen.«

Er unterbrach sich.

»Und Sie, fühlen Sie sich wohl?«

»Ich habe auch nicht schlafen können«, sagte der Priester, »einen solchen Lärm haben sie in dem Hotel gemacht.«

Aber Herr von Guersaint fuhr schon wieder fort:

»Trotzdem, es war doch köstlich. Man kann sich das nicht vorstellen, ich muß es Ihnen erzählen. Ich war mit drei reizenden Geistlichen zusammen. Der Abbé des Hermoises ist ganz gewiß der liebenswürdigste Mann, den ich je kennengelernt habe. Oh, haben wir gelacht, haben wir gelacht!«

Er machte eine Pause.

»Und meine Tochter?«

Jetzt ertönte hinter ihm ein helles Lachen. Er wandte sich um und blieb mit offenem Munde stehen. Marie war da, und sie ging, sie zeigte ein Gesicht von entzückender Fröhlichkeit und strahlender Gesundheit. Niemals hatte er an dem Wunder gezweifelt. Er war auch durchaus nicht überrascht, denn er kam mit der Überzeugung zurück, es würde alles gut enden, er würde sie sicher geheilt wiederfinden. Aber was ihn im tiefsten Herzensgrunde rührte, war das wunderbare Schauspiel, das er noch nie gesehen hatte: daß seine Tochter so schön war in ihrem schlichten, schwarzen Kleide!

»Mein Kind, oh, mein Kind!«

Und als sie sich in seine Arme geworfen hatte, umarmte er sie, und sie fielen zusammen auf die Knie. Und alles erstrahlte in einem hinreißenden Erguß des Glaubens und der Liebe. Dieser zerstreute Mann mit dem Vogelgehirn, der einschlief, anstatt seine Tochter zur Grotte zu begleiten, der an dem Tage, da die Heilige Jungfrau sie heilen sollte, nach Gavarnie fuhr, strömte aus Dankbarkeit von so großer, väterlicher Zärtlichkeit über, von so begeistertem christlichen Glauben, daß er einen Augenblick erhaben erschien.

»O Jesus, o Maria, wie danke ich euch, daß ihr mir mein Kind wiedergegeben habt! Oh, mein Kind, wir werden nie genug Atem, nie genug Seele haben, um Jesus und Maria für das große Glück zu danken, das sie mir schenken. Oh, mein Kind, das sie neu geschaffen, mein Kind, das sie so schön gemacht haben, nimm mein Herz, um es ihnen darzubringen. Ich gehöre dir und gehöre ihnen ewig, ewig. Oh, mein teures Kind, mein angebetetes Kind!«

Auf den Knien vor dem geöffneten Fenster lagen beide und blickten mit glühenden Augen gen Himmel. Die Tochter hatte den Kopf auf die Schulter des Vaters gestützt, während er einen Arm um sie gelegt hatte. Langsame Tränen begannen über ihre verzückten Gesichter zu rollen, die in übermenschlichem Glücke lächelten, während sie zusammen nur noch wirre Worte der Dankbarkeit stammelten.

»O Jesus, habe Dank, o Heilige Mutter Jesu Christi, habe Dank! Wir lieben euch, wir beten euch an. Ihr habt das beste Blut unserer Adern verjüngt, es gehört euch, es glüht für euch. Oh, allmächtige Mutter, geliebter, göttlicher Sohn, hier ist eine Tochter, die euch segnet, ein Vater, der, von Freude übermannt, zu euren Füßen niedersinkt ...«

Diese Umarmung der beiden Wesen, die nach langen, düsteren Tagen glücklich waren, dieses Stammeln ihres Glückes, das gleichsam noch in Leiden getränkt war, diese ganze Szene war so rührend, daß Pierre von neuem in Tränen ausbrach. Aber das waren jetzt milde Tränen, die sein Herz erleichterten. Ach, die traurige Menschheit! Wie schön war es, sie ein wenig getröstet und entzückt zu sehen! Und was tat es, wenn dies große Glück weniger Sekunden auch der ewigen Täuschung entsprang! Die ganze Menschheit, die bejammernswerte, von der Liebe gerettete Menschheit, war sie nicht in diesem armen, kindischen Manne verkörpert, der plötzlich ganz erhaben erschien, weil er seine Tochter neugeboren wiederfand?

Schwester Hyacinthe stand etwas abseits und weinte ebenfalls, das Herz von einer echt menschlichen Bewegung erfüllt, wie sie sie niemals empfunden, da sie keine anderen Verwandten als den lieben Gott und die Heilige Jungfrau gekannt hatte. Und sie sprach zuerst, als der Vater und die Tochter, von tiefer Rührung erschüttert, sich endlich erhoben.

»Jetzt aber müssen wir uns beeilen, um ins Hospital zurückzukehren.«

Aber alle erhoben Einspruch. Herr von Guersaint wollte seine Tochter bei sich behalten, und Maries Augen glänzten in dem glühenden Wunsch, zu leben, zu gehen und die weite Welt zu durchstreifen.

»O nein, nein«, sagte der Vater. »Ich gebe sie Ihnen nicht zurück. Wir werden ein Töpfchen Milch trinken, denn ich komme vor Hunger fast um, dann werden wir ausgehen, Spazierengehen, ja, ja, wir beide! Sie an meinem Arm, wie ein kleines Frauchen!«

Schwester Hyacinthe lachte von neuem.

»Nun gut, ich lasse sie Ihnen und werde den Damen sagen, Sie hätten sie mir gestohlen. Aber ich mache mich aus dem Staube. Sie haben keine Ahnung von der Arbeit, die wir im Hospital haben, wenn wir zur Abreise bereit sein wollen. Alle unsere Kranken, unser ganzes Material, kurz, eine wahre Umwälzung!«

»Die Abfahrt ist also«, fragte Herr von Guersaint, der wieder in seine Zerstreutheit zurückfiel, »für den heutigen Dienstag angesetzt, wir reisen heute abend ab?«

»Gewiß, vergessen Sie es nicht. Der weiße Zug fährt um drei Uhr vierzig Minuten ab. Und wenn Sie vernünftig wären, so würden Sie das Fräulein frühzeitig zurückbringen, damit sie sich noch ein wenig ausruht.«

Marie begleitete die Schwester bis zur Tür.

»Seien Sie unbesorgt, ich werde sehr vernünftig sein. Dann will ich auch zur Grotte zurückkehren, um der Heiligen Jungfrau noch einmal zu danken.«

Als sie sich zu dreien in dem kleinen Zimmer, das in Sonnenglut getaucht war, allein befanden, überkam sie ein köstliches Gefühl. Pierre hatte das Mädchen gerufen, sie solle Milch, Schokolade, Kuchen, kurz, alle möglichen guten Sachen bringen. Und obwohl Marie bereits gegessen hatte, aß sie noch einmal. Seit dem vorigen Tage verschlang sie förmlich alles. Sie hatten den runden Tisch vor das Fenster gerückt und hielten ein wahres Festmahl in der frischen Bergluft, während die hundert Glocken von Lourdes mit lauten Schlägen den Ruhm dieses strahlenden Tages einläuteten. Sie schwatzten, sie lachten, das junge Mädchen erzählte ihrem Vater das Wunder mit hundertmal wiederholten Einzelheiten, wie sie ihr Krankenwägelchen in der Basilika gelassen und wie sie zwölf Stunden, ohne einen Finger zu rühren, geschlafen habe.

Dann wollte auch Herr von Guersaint seinen Ausflug berichten, aber er verwirrte sich und mischte das Wunder mit hinein. Alles in allem war dieses Panorama von Gavarnie doch etwas Riesenhaftes. Nur verlor man aus der Ferne das Gefühl der Ausmaße, da erschien es klein. Die drei mit Schnee bedeckten Riesenstufen, der obere Grat, der sich wie das Profil einer Riesenfestung vom Himmel abhob, mit dem geschleiften Hauptturm und den ausgezackten Wällen, der große Wasserfall, dessen endloser Strom so langsam erschien, während er in Wirklichkeit mit der Gewalt des Donners herniederfallen mußte, die ganze Unendlichkeit, die Wälder rechts und links, die Sturzbäche, die Bergstürze machten, wenn man sie vom Dorfe aus betrachtete, den Eindruck, als könne man sie in der hohlen Hand halten. Was ihn aber am meisten betroffen hatte und wovon er unaufhörlich wieder sprach, das waren die seltsamen Figuren, die der Schnee, der oben zwischen den Felsen geblieben war, bildete: unter anderem ein riesiges Kruzifix, ein weißes Kreuz von mehreren tausend Metern, das den Eindruck machte, als sei es von einem Ende zum andern quer durch den Raum geworfen worden.

Er unterbrach sich und sagte:

»Übrigens, was geht denn bei unseren Nachbarn vor? Als ich eben heraufkam, begegnete ich Herrn Vigneron, der wie ein Wahnsinniger davonlief. Und durch die halb geöffnete Tür ihres Zimmers glaubte ich Frau Vigneron zu bemerken, die ganz rot aussah. Hat ihr Sohn Gustave wieder einen Anfall gehabt?«

Pierre hatte Frau Chaise vergessen, die Tote, die dort auf der andern Seite der Wand schlief. Er glaubte einen leisen, kalten Schauer zu fühlen.

»Nein, nein, das Kind befindet sich wohl ...«

Aber er fuhr nicht fort, er zog es vor, zu schweigen. Wozu diese glückliche Stunde der Genesung, der wiedereroberten Jugend dadurch vergällen, daß er das Bild des Todes damit verwob ? Er aber hörte von dieser Minute an nicht mehr auf, an die Nachbarschaft des Todes zu denken. Dann dachte er auch an das andere Zimmer, in dem der all einreisende Herr sein Schluchzen unterdrückte und die Lippen auf ein Paar Handschuhe preßte, die er seiner Geliebten entwendet hatte.

Das ganze Hotel kehrte zurück mit seinen Hustenanfällen, seinen Seufzern, seinen undeutlichen Stimmen, dem fortwährenden Zuschlagen der Türen, den unter dem Zusammendrängen der Reisenden krachenden Zimmern, den von dem Rennen der Familien, die jetzt in der Hast der Abreise in Aufregung gerieten, gefegten Korridoren.

»Auf Ehrenwort, du wirst dir noch den Magen verderben«, rief Herr von Guersaint lachend, als er sah, daß seine Tochter wieder ein Brötchen nahm.

Auch Marie wurde lustig, dann aber sagte sie, während plötzlich zwei Tränen in ihren Augen aufstiegen:

»Oh, wie glücklich ich bin, und wie weh es mir tut, wenn ich daran denke, daß nicht die ganze Welt so glücklich ist wie ich!«


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